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Carboplatin-Rückrufaktion

Wichtiges Zytostatikum muss verfügbar bleiben!

Ein Meinungsbeitrag von Hans-Peter Lipp | In den letzten Wochen wurden mehrere Chargenrückrufe von Carboplatin-haltigen Infusionslösungen in Gang gesetzt, die mit dem Nachweis unlöslicher, kristalliner Partikel in Zusammenhang standen. Aktuell wird vom BfArM auf Verpflichtung zur engmaschigen visuellen Prüfung von Rückstellmustern und nicht zurückgerufenen Chargen verwiesen, es ist allerdings noch nicht sicher, in welchem Umfang von einem firmenübergreifenden Problem auszugehen ist. Da Carboplatin weltweit zu den am häufigsten eingesetzten Zytostatika zählt und zu einem Standardtherapeutikum in der Behandlung des Ovarialkarzinoms geworden ist, wirken sich zunehmende Versorgungsengpässe äußerst kritisch auf die Patientenversorgung aus.
Foto: DAZ/diz

Zytostatika weisen bekanntlich eine sehr geringe therapeutische Breite auf, d. h. der Spielraum ihrer Dosierung ist begrenzt. Erhöhte Wirkstoffkonzentrationen im Blut sind mit ausgeprägteren Nebenwirkungen, erniedrigte wiederum mit einem erhöhten Risiko für eine Tumorprogression verbunden.

Individualisierte Chemotherapie mit Carboplatin

Carboplatin ist das einzige, derzeit verfügbare Zytostatikum, das eine Dosisindividualisierung erlaubt, so dass durch genaue Dosisberechnungen im Vorfeld vorgegebene Zielkonzentrationen im Plasma mit hoher Wahrscheinlichkeit erreicht werden. Gleichzeitig wird das Risiko großer Schwankungen von Plasmaspiegeln reduziert, was die Therapiesicherheit für die behandelten Patienten deutlich erhöht. Neben den bekannten pharmakokinetischen Zielbereichen (Ziel-AUC: 4 – 7 mg/ml x min) kommt hinzu, dass Carboplatin zum größten Teil unverändert über die Nieren ausgeschieden wird, so dass bei genauer Kenntnis der Nierenfunktion des Patienten die Dosis so berechnet werden kann, dass der größte Teil der Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich im gewünschten Zielbereich der AUC liegt.

Eigene Untersuchungen konnten bestätigen, dass sich in diesem Zusammenhang mit der weltweit etablierten Calvert-Formel die Carboplatin-Dosierungen so akkurat berechnen lassen, dass es nur selten zu sub- oder supratherapeutischen Plasmaspiegeln kommt, was für den Therapieerfolg und die Verträglichkeit für die Patienten von ganz entscheidender Bedeutung ist.

Carboplatin versus Cisplatin

Insbesondere in der palliativen Chemotherapie (z. B. Zervixkarzinom) wird sowohl im Rahmen der Mono- als auch der Kombinationstherapie seit Jahren immer häufiger Cisplatin 50 – 100 mg/m² i.v. (Tag 1, Wdh. Tag 22) durch Carboplatin-AUC 5 – 7 mg/ml x min ersetzt (Tag 1, Wdh. Tag 22).

Diese Entwicklung basiert auf folgenden Hintergründen:

  • aus mediko-legalen Gründen werden Anwendungen von Cisplatin bei einer moderaten Nierenfunktionseinschränkung (GFR < 60 ml/min) nicht oder nur mit großen Einschränkungen empfohlen, während Carboplatin bis zu einer GFR von 20 ml/min noch gegeben werden kann. Das ist vor allem bei älteren und alten Patienten von großer Relevanz.

  • Die wichtigste Nebenwirkung von Carboplatin besteht im Abfall der Blutplättchen, die sich im Bedarfsfall durch Thrombozytenkonzentrate supportiv beherrschen lässt. Beim Cisplatin stehen starkes Erbrechen, Einschränkungen der Nierenfunktion und Hörverluste im Vordergrund, wobei die beiden letzteren Begleiteffekte bis heute nicht zufriedenstellend beherrschbar sind. Akzidentelle Überdosierungen hatten sogar einen irreversiblen Verlust der Nierenfunktion zur Folge. Da viele Patienten zu Beginn der palliativen Chemotherapie bereits spürbare Einschränkungen ihres Allgemeinzustandes aufweisen, wird generell angestrebt, möglichst wenige lebensqualitätseinschränkende Therapien anzubieten. In diesem Zusammenhang darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Gaben von Cisplatin gleichzeitig eine intensive Flüssigkeitsbeladung (Hydrierung) vor, während und nach der Infusion erfordern, so dass eine ambulante Chemotherapie mit Cisplatin einen erheblichen Zeitaufwand einfordert. Carboplatin hingegen bedarf keiner Hydrierung, kann rascher infundiert werden und ist deshalb wesentlich einfacher zu handhaben.

Inzwischen wird selbst bei Keimzelltumoren Cisplatin immer häufiger durch Carboplatin ersetzt, auch wenn sich gewisse Hinweise für eine höhere Potenz des Cisplatins speziell bei diesem Tumortyp ergeben.

Möglichkeit der Dosisintensivierung

Neben den Zytostatika Etoposid und Ifosfamid spielt die Platinverbindung Carboplatin eine sehr wichtige Rolle bei Hochdosistherapien (HDT) mit nachfolgender peripherer Stammzelltransplantation (SZT). Das strukturverwandte Cisplatin ist für eine Dosisintensivierung nicht geeignet, da in diesem Zusammenhang mit irreversiblen Nieren- und Hörschädigungen zu rechnen ist. Andere Platinverbindungen (z. B. Oxaliplatin) stehen ebenfalls nicht für die dosisintensivierte Therapie zur Verfügung. Wie bereits unter Punkt 1 formuliert, ist Carboplatin im Rahmen der Dosisindividualisierung auch für die HDT als vergleichsweise gut steuerbare Substanz besonders geeignet.

Herausforderung potenzielle Kristallbildungen

Aktuelle Untersuchungsergebnisse lassen den Schluss zu, dass sich in wässrigen Carboplatin-haltigen Lösungen (Konzentration > 10 mg/ml) im Laufe der Lagerung Carboplatin-Dimere bilden. Diese Nebenprodukte sind nach bisherigem Kenntnisstand für die Häufigkeit beobachteter Nebenwirkungen unter Carboplatin unbedeutend, allerdings sind sie im Vergleich zu unverändertem Carboplatin nicht gut wasserlöslich und können über die Zeit zu Auskristallisierungen führen.

Für die Produktspezifikation (d. h. Gehalt an unverändertem Carboplatin) nach dem Europäischen Arzneibuch hatten diese Präzipitate keinen Einfluss, da sie nur in sehr geringer Konzentration auftreten.

Interessanterweise wurde in den letzten 15 Jahren in handelsüblichen Carboplatin-haltigen Konzentraten nie von einer entsprechenden physikalisch-chemischen Inkompatibilität berichtet, wie sie beispielsweise in anderen Fällen (z. B. Mischungen von 5-Fluorouracil- und Calciumfolinat-haltigen Lösungen) bekannt wurden. Es ist davon auszugehen, dass diese potenzielle Partikelbildung alle handelsüblichen Carboplatin-haltigen Konzentrate betrifft, da alle Produkte eine allmähliche Carboplatin-Dimer-Bildung über die Zeit erwarten lassen. Inwieweit Veränderungen der handelsüblichen Stammlösungen von bisher 10 mg/ml auf z. B. 5 mg/ml diese Partikelbildungen reduzieren kann (Cave: Aquo-Komplex-Bildung!), oder ob durch den Einsatz von Lyophilisaten diese Problemstellung umgangen werden kann, bedarf weitergehender Untersuchungen und zieht möglicherweise sogar Neuzulassungen nach sich. Es ist aber davon auszugehen, dass eine gewisse Zeit benötigt wird, um die genauen Hintergründe dieser potenziellen physikalisch-chemischen Inkompatibilität im Detail verstehen zu können.

Erfahrungen mit anderen partikelbildenden Arzneistoffen

Als vor ca. zehn Jahren der monoklonale Antikörper Cetuximab (Erbitux®) in den Markt eingeführt wurde, war zu Beginn in der handelsüblichen Erbitux® -Formulierung der Hinweis angebracht, dass produktbedingt sichtbare weißliche amorphe Teilchen enthalten sein können. Diese Partikel beeinflussten die Qualität des Produktes nicht. Um eine Infusion dieser Partikel zu vermeiden, war deshalb bis zur weiteren Optimierung der Formulierung verpflichtend ein separates Infusionsset vorgegeben worden, das in der Infusionsleitung einen zwischengeschalteten Inline-Filter der Porengröße von ca. 0,2 μm vorsah. Ähnliches galt auch von Anfang an für die Anwendung des Paclitaxel-haltigen Taxol®, um mögliche enthaltene Partikel des Naturproduktes nicht zu infundieren.

Inline-Filter

Berichte über potenzielle Partikelbildungen im Rahmen der Lagerung handelsüblicher Carboplatin-haltiger Konzentrate (10 mg/ml), die mit der allmählichen Entstehung von sehr schlecht wasserlöslichen Carboplatin-Dimeren in Verbindung gebracht wurden, haben vor Kurzem viele Anwender überrascht, da Carboplatin seit Langem in der Zentralen Zytostatikazubereitung routinemäßig eingesetzt wird, ohne dass physikalisch-chemische Inkompatibilitäten auffällig geworden wären. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass in den meisten Zentralen Zytostatikazubereitungen in Apotheken Spikes zur Entnahme eines Konzentrats verwendet werden, die Partikelgrößen > 5 μm zurückhalten, so dass in einer Spritze oder in einem Endprodukt zur unmittelbaren Anwendung nie Kristalle beobachtet wurden. Auch Nebenwirkungsberichte bzw. Pharmakovigilanzmeldungen waren diesbezüglich nicht auffällig geworden.

Da Carboplatin als unverzichtbare Verbindung unter den verfügbaren Zytostatika sowohl in konventionellen als auch hochdosierten Therapieprotokollen einzustufen ist, bietet es sich neben der Entnahme mittels Spike an, bis auf Weiteres – ähnlich wie bei Erbitux® – in der Infusionslösung einen Inline-Filter zu verwenden, auch wenn die jahrelangen Erfahrungen mit Carboplatin in der klinischen Onkologie keine Hinweise für partikelassoziierte Begleiteffekte – bis hin zu eventuell erhöhten Risiken im Sinne allergischer Reaktionen oder venösen Thromboembolien – ergaben. Das Verwenden eines Inline-Filters (0,2 µm Porengröße) hätte den Vorteil, dass keine Wirkstoffverluste zu befürchten sind. Hingegen wäre eine auch nur vorübergehende Marktrücknahme aller Carboplatin-haltiger Präparate nicht zu verantworten.


Weiterführende Literatur:

Di Pasqua AJ, Kerwood DJ, Shi Y, et al.: Stability of carboplatin and oxaliplatin in their infusion solutions is due to self-association. Daltons Trans 2011;40:4821 – 4825

Holweger K, Lipp HP, Beijnen JH, et al.: Evaluation of a non cystatin-C-based novel algorithm to calculate individual glomerular filtration rate in cancer patients receiving carboplatin.Cancer Chemother Pharmacol 2011;68:693 – 701

Hartmann JT, Lipp HP: Toxicity of platinum compounds. Expert Opin Pharmacother 2003;4:889 – 901

http://www.bfarm.de/DE/Pharmakovigilanz/risikoinfo/2012/carboplatin.html


Autor
Dr. Hans-Peter Lipp
Chefapotheker
Universitätsapotheke
Röntgenweg 9
72076 Tübingen



DAZ 2012, Nr. 21, S. 66

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