Kongress

Almosen für die Selbstmedikation

Wenn das Geld für Arzneimittel fehlt

"Medikamententafeln – eine sinnvolle und notwendige Versorgungsinitiative für sozial Benachteiligte?" lautete der Titel eines Beitrags im Workshop "Systemische Benachteiligung von Armut Betroffener im Gesundheitssystem" auf dem Kongress "Armut und Gesundheit" am 9. März 2012 in Berlin (s. auch DAZ 2012, Nr. 11, S. 26). Inge Döring vom Kreisgesundheitsamt Heinsberg berichtete dort über Ergebnisse ihrer Umfragen zur Bedarfslage sozial Benachteiligter bei der Selbstmedikation.
Lebensmitteltafeln verbessern die Ernährung sozial benachteiligter Menschen (hier: Hamburg-Bergedorf). Taugen sie als Vorbild, um nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel günstig an Bedürftige abzugeben?
Foto: Wolfgang Borrs

Seit dem Jahr 2004, als das GKV-Modernisierungsgesetz in Kraft trat, müssen erwachsene GKV-Patienten fast alle nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel selbst bezahlen. Nur bei Arzneimitteln, die zur Standardtherapie einer schwerwiegenden Erkrankung dienen, dürfen die Kassen auf der Grundlage einer Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses die Kosten erstatten.

Viele sozial Benachteiligte können sich Selbstmedikationsarzneimittel nicht leisten und verzichten häufig auch auf den Arztbesuch, weil die Praxisgebühr für sie eine zu große Hürde ist.

Lebensmitteltafeln als Vorbild

Die inzwischen flächendeckend vorhandenen Lebensmitteltafeln helfen vielen Menschen, die sich eine umfängliche Versorgung mit Lebensmitteln im Supermarkt nicht mehr leisten können. Nach dem gleichen Prinzip haben sich in den letzten Jahren einzelne Initiativen zu Medikamententafeln zusammengefunden, die sozial Benachteiligten Arzneimittel zur Selbstmedikation preiswert zur Verfügung stellen. Dabei werden die Differenzbeträge zwischen den Verkaufspreisen in der Tafel und den unverbindlichen Preisempfehlungen der Hersteller durch Spenden gedeckt.

In Nordrhein-Westfalen hat das Gesundheitsamt des Landkreises Heinsberg mehrere Umfragen zum Thema "Selbstmedikation von sozial Benachteiligten" durchgeführt und die Ergebnisse auf dem Kongress "Armut und Gesundheit" vorgetragen und zur Diskussion gestellt.

Wird auf Arzneimittel verzichtet?

In Heinsberg gibt es bislang keine Medikamententafel. Deshalb hat das Gesundheitsamt zunächst die Apotheker und Ärzte in einer Stichprobe befragt, in welchem Ausmaß sie mit der Problematik konfrontiert wurden. Nur wenige der Befragten antworteten, dass ihre Patienten aufgrund von Geldmangel auf eine Selbstmedikation verzichten. Eine Vertreterin der AOK Nordrhein/Hamburg gab an, bisher keine Anträge auf Erstattung von Selbstmedikationsarzneimitteln erhalten zu haben.

Die Befragung von Personen, die direkt mit den sozial Benachteiligten in Berührung kommen, wie Pfarrern, einer Vertreterin des Job-Centers, Mitarbeiterinnen der Lebensmitteltafel und auch der Leiterin der Dülmener Medikamententafel ergab ein anderes Bild. Hier wurde häufiger berichtet, dass Patienten auf Arzneimittel verzichten, weil ihnen das Geld fehlt.

Bei einer Befragung der Nutzer der Lebensmitteltafeln im Kreis Heinsberg stellte sich heraus, dass vor allem diejenigen Patienten auf Arzneimittel der Selbstmedikation verzichten, die auch nicht zum Arzt gehen. Hatte ein Arzt einem Patienten ein Grünes Rezept ausgestellt, verzichtete dieser deutlich seltener auf das Arzneimittel, obwohl er es selbst bezahlen musste. Allerdings musste er zusätzlich noch die Praxisgebühr von zehn Euro zahlen oder sich von der Gebühr gemäß Härtefallregelung befreien lassen.

Insgesamt zeigen die Umfrageergebnisse, dass arme Patienten durchaus auf Selbstmedikationsarzneimittel verzichten, dass Ärzte und Apotheker dieses Problem aber derzeit nicht wahrnehmen. Eine künftige Untersuchung in NRW soll klären, welche medikamentöse Versorgungslücke seit 2004 besteht und welche Maßnahmen sich eignen, diese Lücke zu schließen.


Inge Döring,
Gesundheitsamt Kreis Heinsberg,

Dr. Udo Puteanus,
Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen



DAZ 2012, Nr. 21, S. 86

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