Klinische Pharmazie – POP

"It’s the patient, stupid!"

Warum wir die Klinische Pharmazie forcieren müssen

Monika Alter | Mit dieser Ausgabe startet die neue DAZ-Serie "POP – Patientenorientierte Pharmazie" mit dem Anliegen, die Klinische Pharmazie in Deutschland zum Wohle der Patienten besser zu etablieren. Der folgende Beitrag erläutert, welche Chancen die Klinische Pharmazie bietet. Sie ist vor allem ein Gewinn für Patienten, aber auch für die Fortentwicklung der Pharmazie und für das gesamte Gesundheitssystem.
Illustration: DAZ/go-grafik.de

Sie sind Apotheker, und seit Langem schon stehen Sie mit beiden Beinen fest im Berufsleben. Vielleicht haben Sie sogar den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt und tragen nun die Verantwortung für sich und all Ihre Mitarbeiter. Oder Sie sind erst seit Kurzem approbiert und genießen motiviert Ihre ersten Berufserfahrungen an Ihrer neuen Arbeitsstelle. Wie auch immer Ihre Ausgangssituation ist, bündeln Sie kurz für einen Augenblick Ihre gesamte Vorstellungskraft und denken Sie an folgende Situation:

Der Wecker klingelt, verschlafen reiben Sie sich die Augen. Sie gehen vorsichtig ins Bad und werfen einen Blick in den Spiegel. 78 Jahre sind Sie schon, das Leben hat Sie gut behandelt. Nur mit der Gesundheit, da hapert es ein bisschen. Das Cholesterin war schon immer erhöht, und obwohl man überall hört, dass das nicht gut sei, wissen Sie auch nicht recht warum eigentlich. Dass Sie die Tabletten hin und wieder vergessen, wird schon nicht so schlimm sein. Das Antibiotikum, das Sie wegen Ihrem Harnwegsinfekt bekommen haben, haben Sie auch nur zwei Tage eingenommen, und es geht Ihnen trotzdem gut. Hat absolut furchtbar geschmeckt, und Sie wollten ja auch nicht so schreckliche Durchfälle bekommen wie Ihre Nachbarin neulich. Und diese ganzen Blutdrucktabletten, drei verschiedene sind es schon! Immer wieder sagt Ihnen der Arzt, wie wichtig ein niedriger Blutdruck ist, dabei tut der doch nicht weh. Sie merken es ja noch nicht einmal! Und Sie haben nun wirklich andere Sorgen. Ihr Asthma meldet sich zurzeit immer öfter, dabei haben Sie erst vor wenigen Wochen so ein neues Gerät zum Drücken und Inhalieren bekommen.

Sie seufzen. Obwohl Sie sich ja bemühen, die ganzen Medikamente richtig einzunehmen und auf Ihre Gesundheit zu achten, verstehen Sie nicht so ganz, wieso es gleich so viele Tabletten sein müssen und warum jetzt jede einzelne davon so wichtig ist. Und dann muss man immer noch so viel beachten! Selbst mit Brille fällt es Ihnen schon schwer, die verschiedenen Schachteln auseinanderzuhalten, wer kann sich da schon merken, was er morgens oder abends oder vor oder nach dem Essen nehmen soll. Und dann ändern sich auch noch ständig die Namen und die Verpackungen und trotzdem erzählt man Ihnen, dass das alles immer das Gleiche ist. So ganz geheuer ist Ihnen das nicht, aber im Grunde haben Sie ohnehin schon lange den Überblick verloren über die ganzen Arzneimittel, die Sie nehmen sollen.

Manchmal kommt Ihre Tochter vorbei und richtet Ihnen die Medikamente für die nächsten Tage. Das erleichtert viel, sie weiß ja, wie verzwickt das mit den kleinen Blistern für Sie ist. Ihre ganzen Fragen beantworten kann sie aber auch nicht.

Sie gehen langsam ins Wohnzimmer. Da liegen in einer Ecke auf dem Tisch fein säuberlich die ganzen Pillen, die Sie gesund halten sollen. Gestern Abend haben Sie die letzte von Ihrer Tochter vorbereitete Ration geschluckt. Sie müssen sich jetzt wohl selbst darum kümmern, all die notwendige Medizin richtig einzunehmen. "Wieso muss das alles immer so kompliziert sein?" sagen Sie laut zu sich und beschließen in der Not, Ihre morgendliche Tabletteneinnahme erst einmal zu verschieben. Sie sind schließlich schon spät dran für einen Ihrer Arzttermine – mal sehen, welches neue Medikament Ihnen heute wieder verschrieben wird.


Wenn man mal genauer darüber nachdenkt, erscheint es gar nicht so unwahrscheinlich, dass diese Vorstellung bei einigen Patienten der Realität entspricht. Immer wieder belegen Studien, dass mangelndes Verständnis für die eigene Therapie, fehlende Compliance und Überforderung mit einem oft komplexen Therapieregime keine vereinzelt auftretenden Phänomene sind, sondern zum Alltag der Patienten gehören. Als Laie ohne medizinischen Hintergrund ist es oft nicht einfach, den Überblick über die medikamentöse Therapie zu behalten oder die eigene Erkrankung einzuschätzen. Aus dem ausbleibenden therapeutischen Effekt können sich dann wiederrum wirtschaftliche Konsequenzen ergeben durch noch mehr diagnostische Maßnahmen (warum ist der Blutdruck trotz mehrerer Medikamente nicht gut eingestellt?), noch mehr Arzneimittel (dann versuchen wir es mal mit noch einem zusätzlichen Medikament) oder schlicht einer Eskalation der Erkrankung, die man eigentlich behandeln wollte.

"Die Abgabe des Arzneimittels ist der Anfang, und nicht das Ende der Medikation!"

Charles D. Hepler

Das Problem der strikten Trennung

Obwohl diese Faktoren immer mehr ins Bewusstsein der im Gesundheitswesen beteiligten Personen dringen, ist die derzeitige Versorgungslandschaft nach wie vor von einer strikten Trennung zwischen Ärzten, Zahnärzten, Apotheken sowie stationärer Leistungen durch Krankenhäuser gekennzeichnet. Jeder Akteur übernimmt einzelne Aufgaben der Patientenversorgung, wobei wichtige Informationen untereinander nicht immer adäquat weitergegeben werden. Durch mangelnde Kooperation und Kommunikation zwischen den Berufsgruppen (Arzt – Arzt, Arzt – Apotheker etc.) können falsche oder unnötige Leistungen oder arzneimittelbezogene Probleme entstehen, wie zum Beispiel Doppelverordnungen, Kontraindikationen, falsche Dosierungen, fehlerhafte Anwendung und andere. Kennzeichnend für den derzeitigen Prozess der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Patientengesundheit ist, dass er häufig mit einer Wirkstoffverordnung und der darauf folgenden Rezepteinlösung in der Apotheke endet. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Patient das Arzneimittel korrekt einnimmt und die gewünschte Wirkung eintritt. Sucht der Patient den Arzt dabei nicht nochmals aktiv auf, gilt die Behandlung schließlich als erfolgreich. Umsetzen und Gelingen der Therapie werden in die Hände des Patienten gelegt, wobei selbstverständlich angenommen wird, dass er sämtliche Maßnahmen richtig ausführt. Oft wird dabei eher zufällig erkannt, dass eine Behandlung nicht wie erwartet wirkt, zum Beispiel wenn der Arzt bei einer Routinekontrolle feststellt, dass der Blutdruck des Patienten trotz Pharmakotherapie nicht richtig eingestellt ist. Der Arzt weiß in diesem Moment nicht, warum die bisherige Behandlung versagt hat und was er in einem erneuten Anlauf somit ändern muss. Dadurch können zusätzliche und vermeidbare Kosten entstehen. Gerade bei Dauertherapien oder leichten Beschwerden, bei denen die Folgen einer inadäquaten Therapie für den Patienten nicht unmittelbar spürbar sind, kann dies verstärkt beobachtet werden.

Gleichzeitig hat die insgesamt steigende Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitsversorgung auch zu einer Erhöhung der Gesamtausgaben geführt. Maßnahmen zur Kostenreduzierung beschränken sich meist auf einzelne Bereiche, während Gesamtkosten und Gesamtnutzen einer Therapie unberücksichtigt bleiben. Durch den so immer weiter steigenden Kostendruck geraten die individuellen Bedürfnisse des Patienten oft in den Hintergrund und können nicht immer ausreichend berücksichtigt werden. Doch wie kann man sich diesen Problemen im Gesundheitswesen stellen? Und was nützt ein pharmazeutisches Einbringen?

Wie andere Länder reagiert haben

In mehreren westlichen Ländern ist der Straßenverkehr sicherer als die Arzneimitteltherapie. Vor diesem Hintergrund begann im 20. Jahrhundert, begleitet von mehreren wirtschaftlichen Veränderungen wie der systematischen Entwicklung von Fertigarzneimitteln, gerade in den angelsächsischen Ländern ein Umdenken innerhalb der Pharmazie. Die Umorientierung weg von Herstellung und reiner Logistik hin zur Klinischen Pharmazie sollte die pharmazeutische Antwort auf die bestehenden Probleme geben. Durch immer neuere und komplexere Arzneimittel entstand zur Sicherung von Arzneimittel- und Patientensicherheit die Notwendigkeit eines Fachmannes rund um Arzneistoffe und deren Anwendung. Dabei gelang es den Apothekern, sich durch ein weiterentwickeltes Selbstverständnis als Arzneimittelexperten im Gesundheitssystem zu positionieren und so einzigartig und unersetzbar zu werden. Eine Umstrukturierung der universitären Ausbildung mit neuen Schwerpunkten bei Arzneimittelanwendung, Informationsbeschaffung und -Bewertung sowie Kommunikation setzte ein wichtiges Signal nach außen und unterstrich die neue Selbstwahrnehmung als Experte in Arzneimittel- und Therapiefragen. Damit wuchs auch die allgemeine Akzeptanz dieser neuen Rolle sowohl in der Bevölkerung als auch bei den anderen im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen.

Mittlerweile ist die Optimierung der Arzneimitteltherapie durch das Hinzuziehen eines klinischen Arzneimittelfachmannes in vielen Ländern sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich Standard geworden.

… und was in Deutschland zu tun ist

Das große Potenzial der Klinischen Pharmazie bietet die Möglichkeit, Lösungen für bestehende Probleme und Fragestellungen rund um die Arzneimitteltherapie zu finden und dabei auch noch kostensparend und patientenorientiert zu handeln. Auch in Deutschland werden neben der Klinischen Pharmazie Schlagwörter wie Pharmazeutische Betreuung oder Medikationsmanagement immer wichtiger. Doch wie sehr hat sich der pharmazeutische Wandel in Deutschland bereits vollzogen? Wo stehen wir, was müssen wir noch tun?

Wichtig ist zunächst eine Definition der Begrifflichkeiten, um sich deren Stellenwert für die Apotheke und die Patientenversorgung bewusst zu machen. Dabei ist von Bedeutung, dass Klinische Pharmazie nicht gleichbedeutend mit Krankenhauspharmazie ist. Vielmehr geht es darum, in Anknüpfung an das genannte Zitat von Charles D. Hepler, eine erfolgreiche Therapie auch nach Abgabe des Arzneimittels sicherzustellen. Und nirgendwo werden tagtäglich so viele Medikamente abgegeben wie in den mehr als 21.000 Apotheken in Deutschland.

Der Fokus des Apothekers richtet sich nicht auf das Arzneimittel, das übergeben wird, sondern darüber hinaus auf den Patienten.

"Wie kann der Patient das angestrebte therapeutische Ziel erreichen?", lautet die zentrale Frage, die es zu stellen gilt. Die Pharmakotherapie ist hierbei nur eine Maßnahme innerhalb einer umfassenden Interventionsstrategie, die von einem Apotheker begleitet und dokumentiert wird. Das fortdauernde pharmazeutische Mitwirken erfasst nicht nur Erfolg oder Misserfolg einer Behandlung, es sichert auch eine individuelle Anpassung der Beratung an die Dynamik der Arzneimitteltherapie. Denn die Fragen und Probleme, die der Patient in Zusammenhang mit der Therapie entwickelt, unterliegen einer ständigen Veränderung und sind unter anderem von seinem Umfeld sowie von den Erfahrungen, die er durch die Behandlung und die Arzneimittel sammelt, abhängig. Nur eine Beratung, die auf die wechselnden Bedürfnisse des Patienten eingeht, kann einen Beitrag zu einer erfolgreichen Therapie leisten.

Klinische Pharmazie: Grundlage des pharmazeutischen Handelns!

Klinische Pharmazie richtet sich an alle Anwender von Arzneimitteln, d. h. an Ärzte genauso wie an Patienten und deren Angehörige. Die Verbesserung der Lebensqualität des Patienten und die Sicherstellung einer adäquaten und erfolgreichen Therapie sind die Hauptanliegen des klinisch tätigen Apothekers.

Klinische Pharmazie sollte somit nicht als eine spezielle Richtung innerhalb der Pharmazie verstanden werden, sondern als Grundlage des gesamten pharmazeutischen Handelns.

Eingebettet in den Grundgedanken der Klinischen Pharmazie spricht Pharmazeutische Betreuung gezielt die Mitverantwortung des Apothekers bei der Arzneimitteltherapie an, um "bestimmte therapeutische Ergebnisse zu erreichen, die geeignet sind, die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Patienten zu verbessern". Die Gesamtsituation des Patienten, seiner Erkrankung, seines sozialen Umfelds und seiner Arzneimitteltherapie muss verstanden werden, um dann alle an der Behandlung Beteiligten, d. h. Patienten, Ärzte und Angehörige, evidenzbasiert und verantwortlich unterstützen zu können.

Gute Kooperation zwischen Arzt und Apotheker

Dies setzt voraus, den Hintergrund des Patienten zu kennen und in eine aktive und vertrauensvolle Kommunikation mit ihm zu treten. Während die Beziehung zum Patienten in der Regel bereits durch das aktive Beratungsangebot von Beginn an positiv geprägt ist, ist ein gutes Verhältnis zum Arzt oft das Ergebnis einer jahrelangen Entwicklung. Um jedoch wichtige Details zum Patienten, seiner Erkrankung sowie seiner Therapie zu gewinnen und so seine Behandlung zu optimieren, ist ein gemeinsames Vorgehen unerlässlich.

Vorurteile gegen "die Ärzte" oder "die Apotheker", Kompetenzgerangel und fehlende Einsicht in die Position des anderen prägen häufig das gegenseitige Handeln und erschweren eine erfolgreiche Kooperation. Richtig ist jedoch, dass es "den Arzt" oder "den Apotheker" nicht gibt und ein partnerschaftliches Miteinander auf beiden Seiten Zeit und Geld spart. Und als schließlich wichtigsten Punkt muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass sowohl für Arzt als auch Apotheker vor allem eines zählt: ein erfolgreich behandelter Patient. Diesen gemeinsamen Nenner gilt es auszubauen und wechselseitig Hilfe anzubieten, aber auch anzunehmen.

Das Medikationsmanagement

Eine weitere Möglichkeit pharmazeutischer Mitarbeit bei der Arzneimitteltherapie bietet das Medikationsmanagement. Hier dient vor allem das anglo-amerikanische Ausland als Vorbild, das sog. "Medication Therapy Management"-Programme für seine Versicherten anbietet und sogar gesetzlich festschreibt. Eine genauere Definition und Beschreibung sowie einen Überblick über die Entwicklung in Deutschland und im Ausland finden Sie in dem Beitrag "MTM für Arzt und Patient".

Verordnung und Abgabe sind der Anfang

Zusammenfassend kann man sagen, welchen von den anfangs aufgeführten Begriffen man auch verwendet, alle münden letztlich in einer gemeinsamen Aussage: es genügt heute nicht mehr, Medikamente nur zu verschreiben und sie dann abzugeben. Alle Ausdrücke beschreiben daher auch explizit, was nach der Arzneimittelabgabe geschehen sollte. Sie betonen vor allem immer wieder, dass die Wiederherstellung bzw. Aufrechterhaltung der Patientengesundheit nicht mit einer Wirkstoffverordnung und einer Arzneimittelabgabe enden darf.

Das kurze Gespräch, das die Rezepteinlösung in der Apotheke in der Regel begleitet, kann die notwendigen Inhalte nicht ausreichend vermitteln. Neben dem Faktor Zeit fehlt auch das Wissen über die Gesamtsituation, in der sich der Patient befindet, da diese Informationen immer noch meist nur unzureichend kommuniziert werden. Will man diese Situation zugunsten des Patienten verändern, muss man zuerst die Organisationsstrukturen, innerhalb derer Arzneimittel abgegeben und angewendet werden, systematisch verbessern, um die Qualität der Arzneimitteltherapie zu steigern. Doch wie genau müssen diese Veränderungen aussehen, damit der Apotheker sich stärker einbringen kann und als Arzneimittelfachmann wahrgenommen wird? Wie kann man den pharmazeutischen Wandel stärker vorantreiben?

Voraussetzungen für eine optimale pharmazeutische Betreuung sind, neben einem soliden pharmazeutischen Grundwissen zur Bewertung von pharmazeutischer Qualität und arzneimittelbezogenen Problemen, zusätzlich weitreichende Kompetenzen im Bereich der praktischen Arzneimitteltherapie. Dazu ist es notwendig, mit den für eine Therapie relevanten Parametern sicher umgehen und diese bewerten zu können. Hinzu kommen Kenntnis der zu behandelnden Erkrankung und das Wissen über alle Therapieoptionen, um aktiv eigene Empfehlungen nach Kosten- und Nutzenaspekten machen zu können. Und schließlich müssen diese Inhalte sowohl mit dem Patienten als auch mit dem Arzt kommuniziert werden, der dann auf Grundlage der vorgelegten Beratung unter Umständen eine Anpassung der Therapie vornehmen kann.

Gerade letztere Fähigkeiten können und dürfen nicht erst im Laufe des Berufslebens erworben werden. Will der Apotheker eine zukunftsweisende Arzneimittelversorgung der Bevölkerung sicherstellen, muss der Nachwuchs schon während der Ausbildung mit den Kenntnissen zur Anwendung und Vermittlung seines Wissens vertraut gemacht werden und interdisziplinär und praxisbezogen ausgebildet werden. Nur dann können Kompetenzen von der ersten Sekunde an selbstbewusst nach außen getragen werden und von anderen wahrgenommen werden. Ein Festhalten an historischen Lehrinhalten darf einer Anpassung der Studienpläne an aktuelle Bedürfnisse und Gegebenheiten nicht im Wege stehen. Patientenorientierte Pharmazie muss in der ersten Vorlesung beginnen und sich wie ein roter Faden durch die gesamte berufliche Laufbahn ziehen.

Neues Selbstverständnis notwendig

Für das weitere Vorankommen der Klinischen Pharmazie in Deutschland und der flächenendeckenden Implementierung im Berufsalltag ist es aber auch essenziell, dass gerade der Pharmazeut selbst seine eigene Rolle als Arzneimittelfachmann versteht, annimmt und vorantreibt. Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit zwischen Arzt und Apotheker, aber auch zwischen Apotheker und Apotheker muss erkannt werden, um das eigene Selbstverständnis neu zu definieren und letztlich nicht weniger als die eigene berufliche Zukunft zu sichern.

Schon jetzt nimmt die Gesellschaft den Nutzen eines Apothekers kaum noch wahr. Kritiker ziehen die Daseinsberechtigung der Apotheken regelmäßig in Zweifel und propagieren eine Zukunft, in der die Bevölkerung ihre Arzneimittel genauso gut aus dem Internet oder in Drogerien beziehen kann. Um nicht weiter an Bedeutung zu verlieren ist es nicht mehr ausreichend, sich nur auf Herstellung und Abgabe von Arzneimitteln zu beschränken. Das dritte und vermutlich wichtigste Argument für die Apotheken muss die patientenorientierte pharmazeutische Beratung und Betreuung sein, und das in einem Maß, das über Selbstmedikation und Arzneimittelabgabe hinausgeht. Die pharmazeutische Verantwortung im Medikationsprozess zu erkennen und wahrzunehmen und den Patienten bei der Arzneimittelanwendung zu begleiten, muss als einzigartiger Nutzen, den nur die Apotheken leisten können, öffentlich vorgetragen werden. Die Nähe zum Patienten, die bereits jetzt schon gegeben ist, und das Fachwissen rund um Arzneimittel sind Eigenschaften, die keiner sonst im Gesundheitswesen vorweisen kann. Diese beiden Punkte müssen jedoch noch stärker zu einem pharmazeutischen Betreuungskonzept zusammenwachsen, das unter Kosten- und Nutzenaspekten einen Anreiz für Ärzte, Patienten und Kostenträger darstellt. Denn genauso wichtig wie die Qualität des einzelnen Medikaments ist die der gesamten Therapie und der Arzneimittelanwendung. So sind In-Prozess-Kontrollen seit Langem schon Standard bei der Herstellung von Arzneimitteln, sie fehlen jedoch komplett bei deren Anwendung. Und wer als der Apotheker sollte besser geeignet sein, auch die Anwendung von Arzneimitteln zu begleiten?

Den Patienten im Fokus

Dieses Aufgabenfeld der sicheren und effizienten Arzneimittelversorgung darf nicht von anderen Berufsgruppen übernommen werden, die den Apotheker dadurch immer mehr zum reinen Logistiker reduzieren. Pharmazeutische Fragestellungen rund um Polypharmazie, Medikationsmanagement, Complianceförderung – das alles sind Themen, denen sich vor allem einer stellen sollte: der Apotheker im Dienst des Patienten. Genauso wie das hohe Niveau der Arzneimittelherstellung und der schnellen Arzneimittelversorgung durch eine Vielzahl verschiedenster Apotheken schon jetzt sichergestellt wird, muss der Fokus verstärkt auch auf den Patienten selbst gerichtet werden, denn ohne Berücksichtigung seiner individuellen Situation wird auch das beste und qualitativ hochwertigste Arzneimittel schließlich nutzlos.

All dies umzusetzen und Verantwortung zu übernehmen ist ein großes Ziel, das nicht ohne Weiteres erreicht werden kann. Dass es jedoch möglich ist, beweist ein Blick ins Ausland, allen voran den USA. Gerade im Rahmen des Arzneimitteltherapiemanagements gelang eine einmalige Positionierung im Gesundheitswesen und der Wandel vom "Produkt Arzneimittel" hin zum "Produkt Beratung". Eine gesetzliche Verankerung dieser intensiven Betreuung sowie eine gesonderte Vergütung der Beratung durch Kostenträger ermöglichen wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Produktverkauf, was Voraussetzung ist für eine rein patientenorientierte Pharmazie. Sich über die Abgabe hinaus stärker in die Arzneimitteltherapie einzubringen schafft Einzigartigkeit, und sichert das Fortbestehen des unabhängigen Apothekers auch in Zukunft.

Als sich der amerikanische Präsident Bill Clinton Mitte der 1990er Jahre im Wahlkampf gegen George Bush befand, fand man in allen wichtigen Büro- und Tagungsräumen ein fein säuberlich beschriftetes Plakat mit dem Slogan "It’s the economy, stupid!", zu Deutsch: "Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf!". Diese zugegebenermaßen wenig subtile Aussage sollte den Präsidenten immer daran erinnern, dass er, indem er sich aufs Wesentliche, also die Wirtschaft, konzentrierte, er selbst die Inhalte des Wahlkampfes diktierte und so seine eigene Stärken bzw. die Schwächen des Gegners hervorheben konnte.

Etliche Jahre später findet sich die Deutsche Pharmazie in einer nicht weniger schweren Auseinandersetzung wieder, bei der es um die Frage geht, wie die Arzneimittelversorgung des 21. Jahrhunderts aussehen wird und welche Rolle dem Apotheker dabei zukommt. Und auch heute wäre es wahrscheinlich eine gute Idee, wenn sich alle Beteiligten stets daran erinnern würden, worum es wirklich geht: "It’s the patient, stupid!". Denn wenn man den Menschen in den Mittelpunkt stellt, dann kann es für alle nur eine gemeinsame Richtung geben, in der jeder seinen Platz einnimmt und alle zusammen aus verschiedenen Blickwinkeln heraus an der besten Behandlung für jeden einzelnen Patienten arbeiten.

Es ist höchste Zeit, sich weiterzuentwickeln und versäumte Veränderungen anzugehen.


Quellen

Hepler CD. Clinical Pharmacy, Pharmaceutical Care, and the Quality of Drug Therapy. Pharmacotherapy 2004;24(11):1491 – 1498

Jungnickel PW et al. Addressing Competencies for the Future in the Professional Curriculum.

Am J Pharm Educ. 2009 December 17;73(8):156

Healthcare in Europe and in the USA. Baromètre Cercle Santé Europ Assistance. September 2011

U. Jaehde, R. Radziwill, C. Kloft. Klinische Pharmazie – Entwicklung, Ziele, Perspektiven. In: Jaehde U (Hrsg.), Radziwill R (Hrsg.), Kloft C (Hrsg.) Klinische Pharmazie. Grundlagen und Anwendung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart. 3. Völlig neu bearbeitete Auflage 2010.

K. Lennecke. Grundlagen der Pharmazeutischen Betreuung. In Jaehde U (Hrsg.), Radziwill R (Hrsg.), Kloft C (Hrsg.) Klinische Pharmazie. Grundlagen und Anwendung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart. 3. Völlig neu bearbeitete Auflage 2010.

M. Hartmann, C. Franken. Gesundheitssysteme im Vergleich. In Franken C (Hrsg.), Hartmann M (Hrsg.) Klinische Pharmazie. Ein Kompendium. Urban und Vogel GmbH München 2007

D. Keiner. Pharmazeutische Betreuung. In Franken C (Hrsg.), Hartmann M (Hrsg.) Klinische Pharmazie. Ein Kompendium. Urban und Vogel GmbH München 2007

Sergent JS. It’s the patient, stupid. Arthritis & Rheumatism. 1994 December No. 37;(4) 449 – 453

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Weitere Literatur und Quellen bei der Verfasserin


Autorin


Monika Alter, Studium der Pharmazie von 2005 bis 2010 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, Praktisches Jahr am Shands Hospital at the University of Florida, Gainesville, Florida, USA von November 2010 bis Mai 2011, Approbation zur Apothekerin im Juli 2011, seit September 2011 Apothekerin am Städtischen Klinikum München GmbH, Krankenhausapotheke Schwabing, seit Januar 2012 Klinik-Promotion am Städtischen Klinikum München.

Monika Alter, Ismaningerstraße 48, 81675 München




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DAZ 2012, Nr. 16, S. 46

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