Interpharm 2012

Pharmakotherapie älterer Patienten

Vorsicht bei Nieren- und Leberinsuffizienz

Bei der Pharmakotherapie älterer Patienten sind eine verringerte Organfunktion sowie pharmakokinetische und pharmakodynamische Besonderheiten zu berücksichtigen, die zu einem verstärkten oder abgeschwächten Effekt des Arzneimittels führen können. Mit diesen Problemen wird auch der Offizinapotheker konfrontiert, da Dr. Andrea Liekweg, Sankt Augustin, zufolge jeder zehnte Kunde von einer Organinsuffizienz betroffen sein kann.
Dr. Andrea Liekweg: Eine Beratung zur Arzneimitteltherapie bei Nierenfunktionsstörungen hilft, Patienten vor absehbaren Risiken zu bewahren! Foto: DAZ/Darren Jacklin

Die Nierenleistung nimmt bereits ab dem 20. Lebensjahr ab, so dass beim alten Menschen generell eine eingeschränkte Nierenfunktion vorliegt, die durch chronische Erkrankungen wie etwa Diabetes mellitus oder Hypertonie zusätzlich vermindert wird. Weiter können bestimmte Arzneimittelkombinationen wie ACE-Hemmer plus Diuretikum plus NSAR die Nierenfunktion zusätzlich beeinträchtigen. Zudem können Infektionen, Diarrhöen oder ein ausgeprägter Volumenmangel eine akute Verschlechterung bedingen.


Eine erste Einschätzung der Nierenfunktion erfolgt durch die Bestimmung des Serumkreatinin-wertes, der zwischen 0,5 und 1,1 mg/dl liegen sollte. Kreatinin entsteht aus dem Energiespeicher des Muskels und wird bei Patienten mit normaler Nierenfunktion fast vollständig durch glomeruläre Filtration ausgeschieden. Das Serumkreatinin hängt aber nicht nur von der aktuellen Nierenfunktion des Patienten ab, sondern wird auch von weiteren Parametern wie Proteinzufuhr, Alter, Geschlecht und Gewicht der Muskelmasse beeinflusst. So ist es vor allem bei älteren Patienten aufgrund ihrer reduzierten Muskelmasse möglich, dass trotz normaler Serumkreatininwerte bereits eine Nierenfunktionsstörung vorliegt ("Kreatinin-blinder Bereich"). Die Einschätzung der Nierenfunktion kann verlässlicher mithilfe von Annäherungsformeln berechnet werden. Als Maß der Nierenfunktion im Alter gilt die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) bzw. die entsprechende Kreatinin-Clearance. Eine in der Praxis häufig angewandte Formel ist die Berechnung nach Cockroft und Gault oder das Heranziehen der Dettli-Formel (s. Kasten). Diese Möglichkeit besteht in der öffentlichen Apotheke normalerweise nicht, es gibt aber "Indikatorarzneimittel", die auf eine verringerte Nierenfunktion des Patienten hindeuten. Dies sind etwa Phosphatbinder, Vitamin D, Erythropoetin oder Azidose-Mittel.

Auswahl der Wirkstoffe

Bei der Auswahl des Arzneistoffs sollte die extrarenal eliminierte Fraktion berücksichtigt werden. Eine Hilfe hierzu sind die Q-Werte, die aus Tabellen zu entnehmen sind. Je nach Wert erfolgt eine Änderung der Dosierung oder der Wechsel auf einen anderen Wirkstoff. Allgemein gilt:

  • Nephrotoxische Substanzen meiden, z. B. Aminoglykoside (Tobramycin und Gentamicin), Vancomycin, NSAR, Cotrimoxazol, Aluminium-haltige Antazida, Nahrungsergänzungsmittel (z. B. chinesische Kräuter) und viele mehr.

  • Dosis anpassen; überwiegend renal ausgeschiedene Wirkstoffe müssen unter Berücksichtigung der individuellen Ausscheidungsleistung und des Q0-Wertes angepasst werden. Diese Dosisanpassung kann durch eine Verringerung der Dosis oder eine Verlängerung des Dosierungsintervalls erfolgen.

  • Gegebenenfalls substituieren; so kann das Antiallergikum Cetirizin, das eine Anpassung an die Nierenfunktion erforderlich macht, durch Loratadin ersetzt werden.

Therapie bei eingeschränkter Leberfunktion

Für die Quantifizierung von Leberfunktionsstörungen gibt es keine zuverlässigen Laborparameter, Hinweise geben Veränderungen der Enzyme ALT und AP. Sichtbare Zeichen sind eine eingeschränkte Blutgerinnung (bemerkbar etwa durch das schnelle Entstehen blauer Flecken), Ödeme, Aszites, Spider naevi, Gelbfärbung der Haut oder eine Enzephalopathie.

Die im Alter verminderte Metabolisierungskapazität und eine verringerte Leberdurchblutung führen zu einer Absenkung der hepatischen Clearance und einer verringerten Biotransformation von Arzneistoffen. Das Risiko einer Akkumulation muss für jeden Stoff individuell abgeschätzt werden. Dabei spielen die extrarenale Ausscheidungsfraktion, die Proteinbindung und die Bioverfügbarkeit bzw. der First-pass-Effekt eine entscheidende Rolle. Der Einsatz von Medikamenten, die überwiegend hepatisch eliminiert werden, einen hohen First-pass-Effekt aufweisen, über eine hohe Proteinbindung verfügen und einem Phase-I-Metabolismus unterliegen, muss sorgfältig überwacht werden.

Die individuelle Eliminationskapazität Q


Pharmaka werden in unterschiedlichen Anteilen renal und extrarenal ausgeschieden. Bei eingeschränkter Nierenfunktion kumulieren Substanzen, die vorwiegend renal eliminiert werden, abhängig vom Grad der Nierenschädigung. Daher sollte die Dosierung von Medikamenten individuell angepasst werden. Die individuelle Eliminationskapazität Q kann mithilfe der Dettli-Formel berechnet werden. Der Q0-Wert gibt die extrarenale Eliminationsfraktion bei gesunder Nierenfunktion an. Substanzen, die hauptsächlich über die Niere ausgeschieden werden, haben einen kleinen Q0-Wert. Bei rein extrarenal eliminierten Substanzen beträgt Q0 = 1. Q0 ist substanzspezifisch und kann nur Werte zwischen 0 und 1 annehmen. 1 - Q0 entspricht dem renal ausgeschiedenen Anteil. Je niedriger der Q0-Wert, desto wichtiger ist eine Dosisanpassung.

Q-Werte sind z. B. unter www.dosing.de, einem Programm des Universitätsklinikums Heidelberg zur Dosisberechnung in Abhängigkeit der Nierenfunktion, einsehbar.

Wirkstoffwahl und Dosierung

Bei der Auswahl eines Arzneimittels ist primär darauf zu achten, ob es einen hohen oder einen niedrigen First-pass-Metabolismus aufweist. Beispiele für Wirkstoffe, die einer hohen First-pass-Elimination unterliegen, sind etwa Diltiazem, Felodipin, Metoclopramid, Nifedipin, Morphin, Propranolol und Verapamil; eine niedrige hepatische Extraktion erfahren viele Benzodiazepine, Neuroleptika, Antiepileptika, Antidepressiva und Antiarrhythmika. Bei Vertretern der ersten Gruppe kann bei oraler Gabe die Bioverfügbarkeit erhöht, bei Vertretern der zweiten Gruppe die Elimination verlangsamt werden, das heißt, es besteht eine Kumulationsgefahr.

  • Bei Wirkstoffen der ersten Gruppe muss mit einer niedrigen Initialdosis begonnen werden, die Erhaltungsdosis ist ebenfalls reduziert ("start slow, go slow"). Bei Wirkstoffen der zweiten Gruppe wird mit einer normalen Dosis begonnen, und die Erhaltungsdosis wird reduziert.

  • Generell sollten bei älteren Patienten Arzneimittel mit hepatotoxischem Potenzial (z. B. Nitrofurantoin, Captopril, Atorvastatin, Clavulansäure, Moxifloxacin) nicht oder nur unter sorgfältigem Monitoring eingesetzt werden.

  • Bei einigen Wirkstoffgruppen können Vertreter mit keinem oder geringem hepatotoxischem Potenzial ausgewählt werden. Ein Beispiel hierfür ist Oxazepam, das in einer Phase-II-Reaktion als Glukuronid metabolisiert wird. Diese Reaktion ist weitgehend unabhängig vom Alter und der Leberfunktion. Im Gegensatz dazu wird Diazepam in einer Phase-I-Reaktion oxidiert und hat eine verstärkte und verlängerte Wirkung bei Patienten mit hepatischer Insuffizienz.


pj



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DAZ 2012, Nr. 12, S. 82

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