Interpharm 2012

Aufbruch in eine neue Welt

Frühe Nutzenbewertung – Apotheker sollten sich mit Stellungnahmen beteiligen

Für den Gesetzgeber ist die frühe Nutzenbewertung das Herzstück des zum 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG). Mit ihr wird erstmals in die Preisbildung innovativer Arzneimittel eingegriffen. Arzneimittelhersteller und Krankenkassen betreten vollkommen neues Terrain. Sie müssen nun miteinander verhandeln – am Ende sollen "faire Preise" für die neuen Arzneimittel stehen.

Dr. Thomas Müller-Bohn Wie die frühe Nutzenbewertung abläuft.

Die Konsequenzen dieses Instruments werden allerdings – anders als bei sofort spürbaren Kostendämpfungsmaßnahmen– erst verzögert zutage treten. Auf der Wirtschafts-Interpharm zeigten Vertreter von Industrie, GKV-Spitzenverband und Gemeinsamem Bundesausschuss (G-BA) auf, welche Fragen sich derzeit im Zusammenhang mit der frühen Nutzenbewertung stellen.

Dr. Thomas Müller-Bohn, DAZ-Redakteur und Apotheker, gab einen Überblick über den Ablauf der frühen Nutzenbewertung: Sie beginnt mit der Erstellung eines Nutzen-Dossiers durch den Hersteller für ein neu eingeführtes Arzneimittel. Dieses basiert mangels weiterer Versorgungserfahrungen lediglich auf Zulassungsstudien. Auf Grundlage des Dossiers prüft das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des G-BA das Vorliegen eines Zusatznutzens gegenüber einer sogenannten zweckmäßigen Vergleichstherapie. Dann gibt es eine Empfehlung ab, die wiederum Basis für den Nutzenbewertungs-Beschluss des G-BA selbst ist. Wird dabei kein Zusatznutzen festgestellt, rutscht das Arzneimittel in eine Festbetragsgruppe. Liegt ein Zusatznutzen vor, handeln GKV-Spitzenverband und Hersteller einen Preis aus, der dann maßgeblich für die gesetzliche wie auch für die private Krankenversicherung wird. Er gilt ab dem 13. Monat nach der Marktzulassung (ggf. rückwirkend). Anders als ein Festbetrag, ist der Erstattungsbetrag fix und keiner Aufzahlung zugänglich – manch einem Hersteller könnte es daher eher zupass kommen, mit einem Festbetrag belegt zu werden als die Preisverhandlungen zu durchlaufen.

Probleme der ersten Bewertungen

Bei den ersten vom IQWiG vorgenommenen Bewertungen wurden bereits einige Knackpunkte deutlich, insbesondere die Auswahl der Vergleichsmedikation und ein Trend zur Aufspaltung der Indikation in Teilpopulationen, für die jeweils nur schwer passende Daten zu ermitteln sind. Außerdem zeigten sich Probleme bei der Quantifizierung des Zusatznutzens, soweit Surrogatparameter herangezogen wurden. Eine ausführliche Zwischenbilanz zur frühen Nutzenbewertung von Thomas Müller-Bohn finden Sie in DAZ 2012, Nr. 6, S. 82.

Hersteller fürchten Kellertreppeneffekt

Dr. Martin Weiser, Apotheker und Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH), bestätigte die Bedeutung der genannten Problembereiche für die Hersteller. Schon zum jetzigen frühen Zeitpunkt zeige sich, dass die Selbsteinschätzung der Hersteller und die Bewertung des IQWiG in weiten Teilen nicht deckungsgleich sind. In den meisten bisher zu neuen Arzneimitteln vorgelegten Empfehlungen des IQWiG hätten sich keine Belege, sondern allenfalls Hinweise oder Anhaltspunkte für einen Zusatznutzen gefunden – und auch dies oft nur für Teilpopulationen. Weiser ist nun gespannt auf die anstehenden Preisverhandlungen. Während der pharmazeutische Unternehmer von seinem zur Markteinführung selbst gesetzten Preis ausgehe, auf den ein Rabatt zu vereinbaren ist, setzten die Überlegungen des GKV-Spitzenverbandes beim Preis für die zweckmäßige Vergleichstherapie an, auf den ein Aufschlag zu gewähren ist. In der Mitte dieses Preiskorridors spielen zudem Preise anderer europäischer Länder mit. Weiser mahnt: Liegt der am Ende ausgehandelte bzw. festgesetzte Betrag zu nah am Preis eines Vergleichs-Generikums, werden die Hersteller mit ihren Innovationen nicht auf dem deutschen Markt bleiben. Zu groß sei die Gefahr von Kollateralschäden – schließlich ist Deutschland nach wie vor Referenzpreisland für 19 EU-Länder und 28 Länder weltweit. Nimmt man künftig wechselseitig aufeinander Bezug, so sieht Weiser einen Kellertreppeneffekt losgetreten. Ein "ordnungspolitischer Sündenfall" sei in diesem Zusammenhang zudem, dass auch die privaten Kassen von den verhandelten Preisen profitieren sollen – denn dies sei das Ende vertraulicher Rabatte, so der BAH-Hauptgeschäftsführer.


Thomas Müller (G-BA) Missverständnisse zur Vergleichstherapie

G-BA sieht Verfahren auf einem guten Weg

Interessante Einblicke in die Position des G-BA vermittelte der Arzt und Apotheker Thomas Müller, Leiter der Abteilung Arzneimittel im G-BA. Was die zweckmäßige Vergleichstherapie betrifft, so gebe es noch viele Missverständnisse. Damit sei kein chemisch vergleichbares Produkt gemeint, sondern die bisher in der GKV für die jeweilige Indikation etablierte Standard-Medikation. Der Preis dieser Therapie sei für den G-BA bei der Auswahl jedoch nicht entscheidend, betonte Müller: "Dazu sind wir viel zu sehr an der evidenzbasierten Medizin orientiert."

Grundsätzlich gab sich Müller optimistischer als Weiser: In den bisherigen Bewertungen sei es eher die Ausnahme, dass gar kein Zusatznutzen festgestellt wurde. Fast überall gebe es eine Patientengruppe, die profitiere. Tatsächlich ist der G-BA zumindest in seinem jüngsten Beschluss zu Boceprevir (Victrelis®) nicht vollumfänglich dem IQWiG gefolgt. Müller betonte, dass der G-BA nicht die gleiche Sicht des IQWiG auf die bloßen Daten, sondern durchaus einen Versorgungsblick habe. Was den "nicht quantifizierbaren Zusatznutzen" betrifft, so unterstrich Müller, dass gleichwohl dieser immer noch ein Zusatznutzen sei, der das Potenzial habe, "gering" bis "erheblich" zu sein.

Orphan Drugs: G-BA will IQWiG nicht folgen

Hinsichtlich der problematischen ersten Orphan Drug-Entscheidung des IQWiG kündigte Müller an, dass der G-BA bei seinem am 15. März anstehenden Beschluss zu Pirfenidon sicherlich nicht der Empfehlung des IQWiG folgen werde, das keinen Zusatznutzen anerkannt hatte. Die Vorgaben des SGB V sind hier deutlich: Für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen gilt der Zusatznutzen durch die Zulassung als belegt. Nachweise hierzu hat der Unternehmer erst vorzulegen, wenn das jährliche Umsatzvolumen des betroffenen Arzneimittels 50 Millionen Euro übersteigt.

Müller verwies weiterhin auf noch bestehende Probleme mit unvollständigen Dossiers. Hier laufe einiges noch "holprig", es gebe viele Diskussionen über formale Fragen. Der G-BA-Vertreter sieht dies jedoch als Anlaufproblem, dem Lerneffekte folgen würden. Zudem bestätigte Müller, dass der G-BA künftig auch den Bestandsmarkt in die frühe Nutzenbewertung einbeziehen will. Unter die Lupe sollen insbesondere Wirkstoffe genommen werden, deren Wettbewerber bereits das Prozedere der frühen Nutzenbewertung durchlaufen haben. Vor Augen hat Müller dabei etwa die gegen Diabetes eingesetzten Gliptine. Derzeit befindet sich Linagliptin (Trajenta®) in der frühen Nutzenbewertung – auf dem deutschen Markt ist das Präparat nach einer Entscheidung des Herstellers Boehringer Ingelheim vorerst nicht.


Wolfgang Kaesbach (GKV-Spitzenverband) Wie die Kriterien für die Preisverhandlungen aus Sicht der Kassen festgelegt werden.

Preisverhandlungen mit Spannung erwartet

Wolfgang Kaesbach, der bis Ende Februar noch der Fachmann für Arzneimittelfragen beim GKV-Spitzenverband war, legte die Kriterien für die Preisverhandlungen aus Sicht der Kassen dar. Neben dem G-BA-Beschluss würden dabei die Jahrestherapiekosten vergleichbarer Arzneimittel und die tatsächlichen Abgabepreise in anderen europäischen Ländern berücksichtigt. Zu letzterem Punkt hat die Schiedsstelle von Herstellern und GKV-Spitzenverband kürzlich einen Länderkorb aus 15 Ländern festgesetzt – mit diesem scheinen die Kassen leben zu können. Laut Kaesbach, enthält dieser Korb ein "ausgewogenes Verhältnis zwischen Hoch-, Mittel- und Niedrigpreisländern".

Nach einem guten Jahr AMNOG sind es vor allem die Hersteller, die sich Nachbesserungen am Gesetz wünschen. Etwa, dass der Gesetzgeber dafür sorgt, dass der Erstattungsbetrag vertraulich bleiben kann. Kaesbach zeigt hierfür Verständnis – auch die GKV hätte es lieber gesehen, die private Konkurrenz hier aus dem Spiel zu halten. Und gebe es diese privaten Versicherten mit Selbstbehalttarifen nicht, wäre die Vertraulichkeit kein großes Problem. So sieht Kaesbach jedoch verfassungsrechtliche Schwierigkeiten, das Rad zurückzudrehen.

Für Kaesbach bietet das neue Bewertungsverfahren auch die Chance, der wissenschaftlichen Community neutrale Information über neue Arzneimittel zu liefern und damit die fachlichen Diskussionen zu fördern. Allerdings kritisierte Müller-Bohn im Rahmen der Diskussion, der Ausschluss von Studien mit den "falschen" Vergleichsprodukten nach dem "Basta"-Prinzip führe nicht zu Erkenntnisgewinn und helfe daher nicht weiter. Dies spreche dafür, die Vergleichsmedikation und andere Studieninhalte möglichst im Vorhinein im Konsens festzulegen.

Apotheker vermisst

In einem Punkt waren sich G-BA und Hersteller jedoch einig: Sie vermissen die Apotheker im Verfahren der frühen Nutzenbewertung. Die Verfahrensordnung des G-BA sieht vor, dass auch die Berufsvertretungen der Apotheker in das Stellungnahmeverfahren zur Nutzenbewertung einzubeziehen sind. Müller wundert sich, dass die Pharmazeuten von diesem Recht bislang noch keinen Gebrauch gemacht haben. Weiser erklärte, die ABDA bereits hierauf angesprochen zu haben. Nun bleibt abzuwarten, ob künftig doch noch mehr pharmazeutischer Sachverstand in das Verfahren einzieht.


jz



Thomas Müller-Bohn

Die frühe Nutzenbewertung für neue Arzneimittel bewegt die öffentlichen Apotheken bisher kaum. Doch dies wird sich bald ändern. Falls sich die Erwartungen der Befürworter dieses Verfahrens bestätigen sollten, würden die Nutzenbewertungen zu wichtigen Datenquellen über neue Arzneimittel. So könnten sie den Alltag der Ärzte und Apotheker bereichern, sofern die "richtigen" Studien vorliegen und in die Bewertung eingehen. Noch mehr wären die Apotheken betroffen, falls die Kritiker Recht behalten sollten. Möglicherweise werden dann einige neue Arzneimittel nur noch im Ausland verfügbar sein und könnten allenfalls für Privatpatienten importiert werden. Vielleicht werden Arzneimittel nach einem Jahr mit freier Preisbildung wieder vom Markt genommen. Oder die Hersteller wählen verstärkt den Umweg über Festbetragsgruppen und hohe Aufzahlungen. Die müssten die Apotheker dann den Patienten erklären.

Die Interpharm-Diskussion zur frühen Nutzenbewertung hat gezeigt, wie vielschichtig das Thema ist. Dort hat der Vertreter des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Thomas Müller, der die G-BA-Abteilung für Arzneimittel leitet, deutlich gemacht, dass Apotheker hier gefragt sind. Daher haben auch die Berufsvertretungen der Apotheker ein Recht zur Stellungnahme gemäß Kapitel 5 § 19 der Verfahrensordnung des G-BA. Doch bei den bisherigen Verfahren über neue Arzneimittel habe sich noch kein offizieller Vertreter der Apotheker gemeldet - zur Verwunderung der anderen Beteiligten, wie Müller zu verstehen gab, der selbst Apotheker ist. An der Nutzenbewertung sind Apotheker als handelnde Personen auf allen Stufen beteiligt: bei der Dossiererstellung im Herstellerunternehmen, bei der Bewertung im IQWiG, noch mehr beim G-BA und später bei der Umsetzung der Beschlüsse im Versorgungsalltag sowieso. Nur "offiziell" waren die institutionalisierten Apotheker bisher nicht dabei - warum eigentlich nicht?

Die frühe Nutzenbewertung ist "das" Zukunftsthema für die Arzneimittelversorgung in Deutschland. Die Apotheker sind "die" Fachleute rund um das Arzneimittel. In über 21.000 Apotheken bemühen sie sich täglich, dies den Patienten deutlich zu machen. Apotheker verstehen sich als Anwälte ihrer Patienten. Im Alltag kämpfen sie oft mit großer Mühe gegen die Tücken der Bürokratie für eine sinnvolle Versorgung ihrer Kunden. Dann sollte die ABDA auch präsent sein, wenn die Expertise der Apotheker gefragt ist. Und erst recht, wenn hier die fast einmalige Chance besteht, durch die frühe Beteiligung an einem neuen "lernenden System" drohende künftige Hürden zu vermeiden und damit Patienten und Apotheken in Zukunft möglicherweise Probleme zu ersparen. Wer ein im Regelwerk vorgesehenes Angebot nicht wahrnimmt, läuft zudem Gefahr, künftig nicht mehr gefragt zu werden. So weit ist es zum Glück noch nicht. Mit dem neuen Versorgungsstrukturgesetz wurden zu Jahresbeginn sogar neue Mitwirkungsrechte für die Apotheker bei anderen Verfahren geschaffen. Hoffentlich wird die ABDA diese Aufgaben offensiver angehen – und die Beteiligung an der frühen Nutzenbewertung demnächst auch.


Thomas Müller-Bohn


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DAZ 2012, Nr. 11, S. 56

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