Fachmedien

Glaubensboten mit Mörser und Pistill

Der bisher in der Literatur nicht bekannte Begriff "Missionspharmazie" wurde von der Marburger Privatdozentin Dr. Sabine Anagnostou mit der vorliegenden interdisziplinären Habilitationsschrift geprägt und mit Leben erfüllt. Nach der Entdeckung und Inbesitznahme von Gebieten in Lateinamerika und Ostasien durch Spanier und Portugiesen betätigten sich christliche Missionare auf dem Gebiet der Heilkunde, weil Ärzte und Apotheker fehlten. Sie brachten nicht nur Arzneien nach Übersee, sondern auch Erkenntnisse zur Heilkunde der Eingeborenen nach Europa. Die Missionspharmazie des 16. bis 18. Jahrhunderts ist eine von speziellen Umständen vor Ort geprägte Form der Pharmazie, die in der Tradition der mittelalterlichen Klosterpharmazie steht und zugleich den Weg für die Ärztliche Mission des 19. Jahrhunderts bereitet.

Die Verfasserin untersucht zuerst die Bedeutung der von den Missionaren eingerichteten Ordensapotheken als Stätte der Arzneizubereitung und Dispensierung und klärt die Frage, wie weit die Medikamentenversorgung reichte, welchen Einfluss die Ordensapotheken ausübten und wie die dort praktizierte Pharmazie hinsichtlich des Arzneischatzes, der technisch-apparativen Ausstattung, der Fachliteratur und des Arzneimittelsortiments mit ihren typischen Simplizia und Komposita international zu bewerten ist. Sie stellt dabei fest, dass die Missionspharmazie samt ihrer Ausprägungen ein besonders mit den Jesuiten eng verbundenes Phänomen ist, durch die der Arzneischatz zahlreicher Völker dieser Welt verändert werden sollte. Die Missionare der Gesellschaft Jesu waren neben den Franziskanern und Dominikanern gleichsam die eigentlichen Repräsentanten der Missionspharmazie.

Anschließend wendet sich die Verfasserin dem missionspharmazeutischen Schrifttum zu und untersucht exemplarisch fünf heilkundige Kompendien hinsichtlich Autorenschaft, Entstehung, Konzeption, Materia medica und ihrer pharmaziehistorischen Bedeutung. Von diesen soll hier exemplarisch nur die Schrift "Pojha ñaña" als Besonderheit erwähnt werden, die in Guarani, der Sprache der Eingeborenen Paraguays, abgefasst und bisher nicht ediert ist und die einzige bekannte medizinische und pharmakobotanische Schrift in dieser indigenen Sprache darstellt.

Es folgt eine Untersuchung der praktischen Pharmazie in den urbanen Zentren der Missionsländer: die in der Regel von Jesuiten geleiteten Ordensapotheken waren meist die einzigen Medikamentenversorgungseinrichtungen vor Ort. Zentrale Aspekte sind hierbei das Arzneisortiment, die Entstehung und Organisation der Apotheken, deren Ausstattung hinsichtlich Technologie und Bibliothek, ihre Beziehungen untereinander und nach Europa und ihre Bedeutung für die Arzneiversorgung. Zum Arzneisortiment geht die Autorin auf typische Simplizia und Komposita wie Theriak, Chinarinde, Ignatiusbohne und Goastein ein und zeigt auf, wie sich ein internationales Netzwerk des Heilmittel- und Wissenstransfers im Kontext der Mission entwickelte.

In einem Exkurs wird die Präsenz einer Missionspharmazie in den protestanti-schen Gebieten untersucht. Hier nahmen im 18. Jahrhundert die Pietisten aus Halle eine führende Rolle ein, während sie zugleich mit der Waisenhausapotheke und der Medikamenten-Expedition der Franckeschen Anstalten eine intensive Aktivität entfalteten und ihre Arzneien in viele Länder der Welt versandten, ohne dass sich – wie die Verfasserin unter Analyse des historischen Kontextes überzeugend darlegt – , derselbe Typus der Missionspharmazie wie in den katholischen Missionen herausbildete.

Das pharmazeutische Wirken von Ordensleuten in den Missionen des 16. bis 18. Jahrhunderts ist hier in seiner Gesamtheit hinsichtlich des Konzeptes, der Praxis, der Organisation und der Auswirkungen für die Pharmazie zum ersten Mal eingehend untersucht worden. Neben der Pharmaziegeschichte sind zahlreiche andere wissenschaftliche Disziplinen wie Medizingeschichte, Kirchen-, Ordens-, Missions- und Kolonialgeschichte, Ethnopharmazie und Ethnomedizin, Botanik, Handelsgeschichte, Linguistik und Kulturgeschichte einbezogen worden. Daher spricht die Studie als Leserkreis nicht nur die an der Geschichte ihres Berufes interessierten Apotheker, sondern auch die Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftler der genannten Fachgebiete an. Auch Arzneipflanzenforscher können hier Anregungen für ihre weitere Arbeit finden.

Die Studie schließt mit einem Verzeichnis von 154 ungedruckten Quellen und 830 Literaturangaben (einschließlich gedruckter Quellen) und ist durch ein Personen-, Arzneipflanzen- und Komposita-Register erschlossen.

Die mit dem Dalberg-Preis 2011 für interdisziplinäre Nachwuchsforschung von der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt ausgezeichnete Habilitationsschrift ist bestens zu empfehlen und eröffnet Apothekern wie Pharmaziehistorikern erstaunlich weite Blicke über den eigenen Tellerrand.

Sabine Anagnostou, Missionspharmazie. Konzepte, Praxis, Organisation und wissenschaftliche Ausstrahlung, 465 Seiten, 7 Abbildungen, Sudhoffs Archiv, Beiheft 60 68 Euro. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2011. ISBN 978-3-515-09910-3

Peter Hartwig Graepel, Gladenbach


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DAZ 2012, Nr. 1, S. 121

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