Wirtschaft

Finanz- oder Systemkrise?

Oder: Was die derzeitige Lage mit Gartenpflege zu tun hat – ein Meinungsbeitrag

Langsam werden selbst ruhige Gemüter nervös: Ist mein Erspartes sicher? Wie sieht die Zukunft aus? Droht der "Crash", was immer man darunter verstehen mag?

Jedenfalls wird es ungemütlicher. Die Einschläge kommen näher an unser unverwundbar geglaubtes Wirtschaftswunderland heran. Die Schuldigen sind nach üblicher Lesart ausgemacht: Banken, Spekulanten, Finanzexzesse, Schuldenwirtschaft, und bisweilen werden die Staaten mit ihrer "Verteile heute, zahle morgen"-Mentalität (immer noch auffallend zurückhaltend) adressiert.

Doch trifft das den Kern? Oder unterliegen wir hier nicht einer gewaltigen Selbsttäuschung mit Eisberg-Effekt? Nur der kleinste Teil ragt sichtbar heraus, der größte Teil verbirgt sich unter Wasser. Reden wir von einer Finanz- oder nicht vielmehr von einer Systemkrise?

Es spricht viel für Letzteres, doch niemand will das wirklich wahrhaben. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis sind nämlich drastisch – und lassen unsere heutige Situation ungleich bedrohlicher aussehen als 1929, dem Beginn der Weltwirtschaftskrise. Anders als damals hat sich in den vergangenen Wohlstandsjahrzehnten eine "bubble economy", eine Wirtschaftsblase sondergleichen, entwickelt. Die Finanzindustrie, die Banken haben letztlich nur auf dieser "bubble economy" aufgesetzt, denn anders als gerne kolportiert setzen Finanzströme immer auf realer Wirtschaft auf, bzw. auf einer Wirtschaft, die wir für real und tragfähig halten. Die Frage ist vielmehr, ob große Teile dieser "Realwirtschaft" noch als Fundament, als Erdung taugen. Oder ob es sich nicht um eine abgehobene Ökonomie, eine "Weichwirtschaft" handelt, die sich von den wirklichen Bedürfnissen der Menschen immer weiter entfernt hat, aber in der Welt der monetären Zahlen einen Großteil der "Wirtschaftsleistung" darstellt.

Das illustriert das enorme Absturzpotenzial: Vieles ist entbehrlich, ohne dass die Menschen hungern oder nackt herumlaufen müssten. Interessanterweise erweisen sich gerade die Staaten mit ihren überbordenden Eingriffen in den (überwiegend nur noch fiktionalen) "freien" Markt als äußerst effektive Antreiber dieser Fehlentwicklungen – und sind somit die bedeutendsten Verursacher der Verwerfungen. Sie werfen mit ihren Regularien, Subventionen, ihrer eigenen Gier nach billigem Geld den zweifellos vorhandenen Finanzhaien die Fleischbrocken hin – und beklagen sich, wenn diese begierig zuschnappen.

"Vieles ist entbehrlich, ohne dass die Menschen hungern oder nackt herumlaufen müssten."

Blick in die Apothekenstube

Doch machen wir es einmal konkret und schauen in die gute Apothekenstube. Hohe Anteile des Apothekenumsatzes resultieren aus nur recht wenigen, teuren Packungen. Diese Innovationen tragen jedoch, gemessen an ihren Kosten, insgesamt betrachtet nur einen recht überschaubaren Anteil zu höherer Lebenserwartung und -qualität bei. Dass ein neues Präparat das Zehnfache bisheriger Standardpräparate kostet, aber nur einige Prozentpunkte Wirksamkeitssteigerung verspricht, ist eher die Regel als die Ausnahme. Viel Aufwand fokussiert sich auf vergleichsweise wenige Patienten, doch dieser steigt enorm aufgrund der heutigen Möglichkeiten – die "Lorenz-Verteilung" lässt grüßen. Auf der anderen Seite steigt im Gefolge falsch verstandener Sparpolitik der Verwaltungsaufwand drastisch an – wir leisten uns enorme Komplexitäts- und Misstrauenskosten. Davon profitieren ganze Wirtschaftszweige: von EDV- und Abrechnungsfirmen über das reichliche Krankenkassenpersonal bis hin zu Beratern und Juristen. Echte Wertschöpfung: nahe Null!

Interessanterweise ist derjenige, um den es geht (der Patient), in diesem Spiel weitgehend entmündigt und staatlicherseits zum Zwangszahler degradiert – das zur Rolle der Politik, die es aber ja nur gut meint.

"Der Krise fehlt das revolutionäre Potenzial."

Der abnehmende Grenznutzen

Betrachten wir das liebste Spielzeug, das Auto. Sicherheits- und Umweltbestimmungen verschlingen viele tausend Euro je Pkw. Obwohl die Luft bisweilen schon sauberer ausgestoßen als angesaugt wird, werden Vorschriften weiter verschärft. Die EU-Kommissionen sind äußerst fantasiereich. Und so vergeht kaum ein Tag, an dem nicht der Pflichteinbau von allerlei Gimmicks neu gefordert wird. Wir reden hier von Auswirkungen im Bereich hoher Milliardenbeträge. Gleichzeitig werden die Leistungsdaten der Autos über jedes sinnvoll nutzbare Maß weiter hochgejubelt.

Hoch zweistellige Milliardenbeträge verschlingt in Deutschland der Mobilfunk – das meiste Datenvolumen fällt für schlichte Unterhaltung (Bilder und Filme) an!

Kaum mehr seriös beziffern lässt sich unser Sicherheits- und Kontrollwahn, so sehr hat er das Leben durchdrungen, Stoff für ganze Bücher.

Man könnte die Liste endlos fortführen. Das Prinzip ist klar: Wir erzielen mit immer irrsinnigerem Aufwand nur noch marginale Verbesserungen des hohen Wohlstandsniveaus. Doch diese Droge "Wachstum" benötigen wir wie der Junkie den nächsten Schuss.

Mit den Worten der Betriebswirtschaft: Wir befinden uns in einer Systemkrise, die durch das Phänomen des abnehmenden Grenznutzens gekennzeichnet ist. Für immer geringere und oft für das Leben nachrangige Ergebnisse und Fortschritte muss ein stets höherer Aufwand getrieben werden. Die zunehmende Komplexität, technisch, logistisch, aber auch auf rechtlicher Ebene, beschleunigt diesen Prozess weiter.

Hinter all dem stehen jedoch Umsätze, Wachstum, Partikularinteressen, Lobbys, Arbeitsplätze. Da Energie noch relativ billig ist und es global viele, billige Arbeitskräfte gibt, funktioniert das Modell noch – aber im Gefolge der Machtverschiebungen auf der Welt zunehmend schlechter.

Wie ein verwilderter Garten

So gleicht unser heutiger Zustand einem hoffnungslos verwilderten Garten.

Von enormer Vielfalt, mit allerlei Lebensformen, deren Sinnhaftigkeit sich nicht immer erschließt, selbst wenn der Biologe auch Stechmücken, Blutsaugern, Giftottern, Schlingpflanzen und Unkräutern eine ökologische Bedeutung beimisst.

Unser Garten Gottes ist inzwischen außerordentlich verfilzt und verwachsen, was die Komplexitätsfalle illustriert, in der wir uns befinden. Wir können kaum mehr etwas ändern, ohne nicht irgendwelche Rechte oder Ansprüche anderer zu tangieren. Ziehen wir an einem Ende, wirkt sich das an ganz anderer Stelle, oft unerwartet aus. Der Rechtsstaat gerät spürbar an Grenzen.

Nun kann man versuchen, das Ganze zu retten, indem man diesen Garten kräftig weiter düngt und gießt, ergo: Noch mehr Geld, Wachstum, Arbeitsplätze.

Andere meinen dagegen, die Nagelschere wäre das richtige Werkzeug für möglichst zielgenaue und schonende Korrekturen. Haben Sie schon einmal einen Garten mit der Nagelschere in Ordnung gebracht?

So bleiben die drastischeren Methoden. Den Griff zur Machete traut sich momentan noch niemand zu. Der Krise fehlt das revolutionäre Potenzial. Und nicht nur das: Die internationale Vernetzung, aber auch schlicht das Fehlen an Ideen, wie die Machete sinnvollerweise zu schwingen wäre, lassen diese Lösung unwahrscheinlich erscheinen.

Bleibt das schlichte Austrocknen. Irgendwann ist eben Schluss damit, "Geld aus Helikoptern abzuwerfen". Die Stärksten überleben, Flachwurzler und lichtscheue Feuchtgewächse bleiben in einem derart gelichteten Biotop auf der Strecke.

"Diese Droge "Wachstum" benötigen wir wie der Junkie den nächsten Schuss."

Und die Lösung?

Die Lösung der gegenwärtigen Krise – übrigens in allen Industrieländern, nicht nur der EU – scheint damit vorgezeichnet: "Intelligentes Downsizing", sprich abwechslungsweise einmal das kluge Absenken von Standards und Regularien, etwas mehr Bescheidenheit und dafür mehr Solidität und Nachhaltigkeit, Verzicht ohne Kahlschlag. Das ist durchaus zu leisten, und vernünftigerweise führt daran kein Weg vorbei. "Nach fest kommt ab", sagt ein alter Handwerkerspruch, wenn man dabei ist, eine Schraube zu überdrehen. Kluge Menschen drehen dann rechtzeitig mit Bedacht in die andere Richtung, aber haben wir genügend kluge Menschen in den Führungsspitzen?


Apotheker Dr. Reinhard Herzog,
72076 Tübingen,
E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de


Demnächst an dieser Stelle: Ist die Schuldenkrise monetär überhaupt lösbar?



AZ 2012, Nr. 28, S. 5

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