Gesundheitspolitik

Nullretax verstößt gegen Berufsfreiheit

Lübeck (ks). Eine Krankenkasse darf nicht auf Null retaxieren, weil ein Apotheker trotz Bestehen eines Rabattvertrages kein rabattbegünstigtes Arzneimittel abgegeben hat. Dies entschied das Sozialgericht Lübeck bereits am 2. Februar 2012 in einem ersten Musterprozess – nun liegen die Urteilsgründe vor. Allerdings ist das Urteil nicht rechtskräftig.

Der Rechtsstreit zwischen einem Apotheker aus Schleswig-Holstein und der Techniker Krankenkasse (TK) beruht auf einer bundesweiten Musterstreitvereinbarung zwischen dem Deutschen Apothekerverband und den Ersatzkassen (ohne Barmer). Ihr Ziel ist es, höchstrichterlich zu klären, ob in Fällen, in denen Apotheker trotz bestehender Rabattverträge keine Rabattarzneimittel abgegeben haben – etwa wegen eines Fehlers oder Irrtums im Apothekenbetrieb – die Kasse vollumfänglich retaxieren darf.

Das Sozialgericht stellt in seinem Urteil zunächst klar, dass der Vergütungsanspruch des Apothekers unstreitig bestand. Dieser sei auch nicht durch eine spätere Aufrechnung erloschen – denn die Kasse habe keinen Rückzahlungsanspruch in Höhe des fraglichen Betrags – es ging um 17,49 Euro – gegen den Apotheker gehabt. Zwar habe die beklagte Krankenkasse zu Recht eine Taxdifferenz wegen des Verstoßes beanstandet – sie sei jedoch nicht berechtigt gewesen, eine komplette Absetzung des Forderungsbetrages durchzuführen. Weder aus dem Gesetz – insbesondere nicht aus § 129 SGB V – noch aus vertraglichen Vereinbarungen lasse sich ein Anspruch für eine solche Komplettabsetzung herleiten. Nach dem Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung (§ 11) könnten Verstöße gegen § 129 SGB V zwar geahndet werden (von einer Verwarnung über eine Vertragsstrafe bis hin zum Ausschluss von der Versorgung). Doch Sanktionen wie die Nullretaxation sind hier nicht vorgesehen. Der komplette Wegfall der Vergütung könne auch nicht aus den vom BSG entwickelten Grundsätzen der Retaxierung abgeleitet werden. Danach können Leistungserbringer keine Vergütung von Leistungen beanspruchen, die unter Verstoß gegen geltende gesetzliche oder vertragliche Bestimmungen bewirkt werden, die bestimmte formale oder inhaltliche Voraussetzungen aufstellen. Und zwar selbst dann nicht, wenn diese Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht wurden und für den Versicherten geeignet und nützlich sind. Diese Grundsätze, so die Lübecker Richter, seien auf einen Fall des Verstoßes gegen die Pflicht zur Abgabe rabattbegünstigter Arzneimittel nicht in vollem Umfang übertragbar.

Vielmehr würde der Verlust des Vergütungsanspruches in voller Höhe eine Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG bedeuten. Der mit einer Vollabsetzung einhergehende finanzielle Schaden in Höhe der Kosten der Warenbeschaffung sei als Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit auch nicht gerechtfertigt. Die Regelungen zur Abgabe rabattbegünstigter Arzneimittel hätten das Ziel, die Abgabe eben dieser Arzneimittel zu fördern und dadurch Wirtschaftlichkeitsreserven bei der Arzneimittelversorgung auszuschöpfen. Dieser Zweck rechtfertige nicht, eine Komplettabsetzung des Kaufpreises vorzunehmen – er könne auch durch andere Maßnahmen erreicht werden. Als solche alternative Maßnahmen nennt das Urteil die bereits oben erwähnten Vertragsmaßnahmen nach § 11 des Rahmenvertrages. Darüber hinaus sei es möglich, den über den Rabattvertrag tatsächlich erzielten Rabatt zum Ansatz zu bringen. In dieser Höhe sei eine Retaxierung des Vergütungsanspruches durch die Kasse verhältnismäßig und auch im Übrigen rechtmäßig. Die TK wollte zu der Rabatthöhe jedoch nichts sagen – da ihr die Beweislast oblag, konnten die Richter nicht feststellen, in welchem Umfang die Retaxierung zulässig gewesen wäre.

Das Sozialgericht hat sowohl die Berufung als auch die Sprungrevision zugelassen. Nach der Musterstreitvereinbarung ist jedoch die Sprungrevision anzustreben, da in jedem Fall eine Entscheidung des BSG herbeigeführt werden soll. Die weiteren Verfahrensschritte sind von der TK als unterlegener Partei einzulegen.

In einem weiteren der Musterstreitvereinbarung zugrunde liegenden Fall, der bei dem Sozialgericht Kiel anhängig ist, gab es angesichts des Lübecker Urteils eine Terminverlegung. Eigentlich sollte am 8. Juni 2012 verhandelt werden, nun ist der 24. August 2012 bestimmt worden. Beiden Parteien soll damit Gelegenheit zur erneuten Stellungnahme in Bezug auf das Lübecker Urteil gegeben werden.



AZ 2012, Nr. 24, S. 1

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