Gesundheitspolitik

Spürbarkeitsschwelle

Ist das nicht ein wunderschönes deutsches Wort? "Spürbarkeitsschwelle" – lassen Sie es auf der Zunge zergehen und wenden Sie es mehrmals im Gaumen, um es zu kosten und mit allen Zungenpapillen zu schmecken: Spür-bar-keits-schwelle. Ein Wort, das sich zum einen aus dem Verb "spüren" zusammensetzt: Spüren heißt, etwas mit all seinen Sinnen aufnehmen; ich spüre, also bin ich. Da ist Leben drin. Dann kommt die urdeutsche Silbe "bar", die ausdrückt, dass etwas möglich ist, und die ebenso deutscheigene Silbe "keit", die etwas kleines umfassend groß macht und kleine Adjektive in den Substantivstatus erhebt wie etwa Kleinigkeit und Geringwertigkeit. Und dieses ganze Gebilde ist gekoppelt mit dem Wort Schwelle. Die Schwelle, eine Art kleine Barriere oder Abstandshalter, bekannt zum Beispiel aus der Türschwelle, die man nur zu übertreten braucht und schon ist man in einem neuen Raum. Die Schwelle kommt von schwellen, was in dem Fall mit größer werden, sich ausdehnen zu tun hat: Der Wind, er schwellt die Segel. Und hat auch etwas zu tun mit dem im Infinitiv gleichnamigen Wort schwellen, das z. B. dann verwendet wird, wenn einer eine aufs Auge bekommt: es schwillt.

Die Spürbarkeitsschwelle war bis vor Kurzem im deutschen Apothekenvokabular noch gänzlich unbekannt. Wozu auch sollte man es als Apotheker kennen. Doch seit geraumer Zeit taucht die Spürbarkeitsschwelle immer häufiger auf. Ihren Ursprung hatte sie, wie viele herrlich deutsche Wörter, an Deutschlands Gerichten: So verfolgten in den vergangenen Monaten gleich mehrere Gerichte die Spur der Spürbarkeitsschwelle von Boni, Talern und Rabatten. Zu klären waren so pharmazeutisch essenzielle Fragen, ob beispielsweise ein Bonus von 1 Euro unter oder über der Spürbarkeitsschwelle steht und ob diese Spürbarkeitsschwelle pro Arzneimittel oder pro Rezept gelten solle. In seiner Boni-Entscheidung 2010 hatte es der Bundesgerichtshof nämlich versäumt, diese Spürbarkeitsschwelle zu präzisieren. Und ein aktuelles Urteil eines Oberlandesgerichts sagt nun, dass sie für jedes Arzneimittel und nicht pro Rezept gilt. Das heißt: Die Spürbarkeitsschwelle ist – vorerst – demnach nicht überschritten, wenn 1 Euro Bonus pro Rx-Arzneimittel gegeben wird. Aber kann mans dann nicht besser gleich sein lassen, wenn der Kunde nichts spürt?

Seinen Spürsinn zum Thema Spüren muss nun der Gemeinsame Senat der höchsten Gerichte zeigen. Hoffentlich spürt er, dass bei diesem Thema die Schwelle der Spürbarkeit längst überschritten ist.


Peter Ditzel



AZ 2012, Nr. 16, S. 1

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