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Individualisierte Medizin: Segen oder Fluch?

BERLIN (ks). Die "Individualisierte Medizin" – eine maßgeschneiderte Therapie für den Patienten – klingt verheißungsvoll. So verwundert es nicht, dass Pharmaunternehmen viel in diese Forschungsrichtung investieren. Patienten verstehen unter individualisierter Medizin allerdings zumeist etwas anderes als ihre Ärzte, nämlich vor allem persönliche Zuwendung. Handelt es sich nur um einen großen Hype oder ist die individualisierte Medizin wirklich eine große Chance? Darüber diskutierten Fachleute beim TK-Zukunftskongress am 22. Februar in Berlin.

Hardy Müller vom Wissenschaftlichen Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG), wies darauf hin, dass die Zahl der Publikationen zur individualisierten Medizin in den letzten Jahren exponenziell angestiegen sei. Auch das Bundesforschungsministerium hat das Thema als "Forschungsherausforderung" und Zukunftsprojekt erkannt. Die individualisierte Medizin ist eines der sechs Aktionsfelder, das in den kommenden Jahren finanziell vom Bund gefördert wird. Die Patienten sind ebenfalls höchst interessiert – auch wenn sie von der individualisierten Medizin vor allem eine persönliche und ganzheitliche Therapie erwarten, bei der Zuwendung weit oben steht. Für Müller ein "Paradoxon". Denn eigentlich geht es darum, Patienten bei dieser speziellen Form der Therapie anhand biologischer Merkmale, die Aufschluss über Erkrankungsrisiken und Therapiechancen geben, einzugruppieren (Stratifizierung). Daneben gehört zur individualisierten Medizin auch die stärkere Einbeziehung und Verantwortung des Versicherten bei der medizinischen Behandlung. Ziel ist, die richtige Medizin beim richtigen Patienten anzuwenden. Schließlich wirkt nicht jedes Arzneimittel bei jedem Menschen gleich – Krebsmedikamente schlagen etwa nur bei jedem Vierten an, Präparate gegen Alzheimer bei 30 Prozent.

Gefahr für Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems?

Ein Knackpunkt: Im Rahmen der individualisierten Medizin kommen häufig teure Medikamente, etwa in der Onkologie, zum Einsatz. Der Nutzen für die Patienten sei aber nicht immer belegt, so Müller, oft sei er nur marginal. US-amerikanische Berechnungen hätten ergeben, dass die Kosten eines intensiven und extensiven Einsatzes der neuen Onkologika die derzeitigen finanziellen Mittel zur Behandlung von Krebs um das 100-Fache übersteigen würden. Es stelle sich daher die Frage, ob durch die individualisierte Medizin eine Gefahr für die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems insgesamt entstehe. Zudem werde infolge der Stratifizierung am Ende jedes Medikament zum Orphan Drug. Mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz seien aber gerade diese – so ihr Umsatz unter 50 Mio. Euro liegt – von einer Nutzenbewertung ausgenommen. Diese vielen "kleinen Blöcke" seien schwer in den Griff zu bekommen, so Müller. Sein Fazit: Es ist eine "große Sache", für jeden Patienten die richtige Medizin auszumachen – aber heute ist dies noch nicht so möglich, wie es zu wünschen wäre. Dennoch sei die individualisierte Medizin "das Thema der Zukunft".

Diagnostische Tests als neue Blockbuster?

Auch Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, ist noch nicht vom Segen der individualisierten Medizin überzeugt – für ihn ist sie derzeit noch "Science Fiction". Sicherlich sei es sehr positiv, dass etwa das als Orphan Drug für eine bestimmte Leukämie gestartete Glivec gezielt an der einen genetischen Veränderung ansetze, die die Krankheit bedingt. Doch die Realität sehe heute anders aus. Beim soliden Pankreaskarzinom würden zum Beispiel im Durchschnitt 63 genetische Veränderungen festgestellt. Patienten vorzugaukeln, hier könne Medizin gezielt eingreifen, sei zumindest "sehr optimistisch", so Ludwig. Noch gebe es viele Krankheiten, bei denen Biomarker nicht erkennbar seien. Er erwartet, dass wir es bald mit einer Fülle diagnostischer Tests zu tun haben werden, die größtenteils nicht validiert sind. Müller sieht gar die Tests zu den künftigen Blockbustern der Pharmaindustrie werden. Dies führt er nicht zuletzt auf die Bedrängnis zurück, in der sich viele forschenden Unternehmen befinden, weil ihre Patente auslaufen und große Innovationen ausbleiben. So sei es auch bemerkenswert, dass die großen Firmen zunehmend Diagnostikunternehmen aufkaufen.

Die Pharmaindustrie ist gefordert

Dennoch hält es Ludwig für richtig, dass die Industrie ihre Forschung in Richtung personalisierte Medizin ausrichte. Es könne nicht sein, dass heute 80 Prozent der Patienten zu hohen Jahrestherapiekosten umsonst mit Arzneien behandelt werden. Notwendig seien aber seriöse Studien, die er selbst noch kaum sehen könne. Dr. Claus Runge von Astra Zeneca bestätigte, dass die individualisierte Medizin das Thema für die forschende Industrie sei. Derzeit seien in seinem Unternehmen zehn Wirkstoffe in der klinischen Entwicklung, die diesen Ansatz verfolgen. Bis 2015 sollen sie rund die Hälfte der Präparate in der Pipeline ausmachen. Den Vorwurf, die individualisierte Medizin führe zu einer "Orphanisierung", weist er zurück: Dies sei nicht ihr Ziel, sondern ihre Folge.

Das Fazit der Veranstaltung: Es gibt noch viel Diskussionsbedarf, wie die Chancen der individualisierten Medizin genutzt werden können, ohne dass dabei der finanzielle Rahmen der Krankenkassen gesprengt wird. Ein negativer Blick auf das Forschungsfeld ist nicht angebracht – aber alles, was sich um das Thema rankt, sollte zumindest kritisch hinterfragt werden.



DAZ 2011, Nr. 9, S. 28

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