Feuilleton

"Süße Sünde" – zur Kulturgeschichte der Schokolade

Um die Kulturgeschichte der Schokolade geht es in der Ausstellung "Süße Sünde", die bis zum 20. März im Schloss Wolfenbüttel zu sehen ist. Gezeigt werden historische Trink- und Zubereitungsgefäße, Geräte aus der handwerklichen und industriellen Produktion, Werbegrafik, Abbildungen und Literatur zum Thema.
Kakaobaum mit kaulifloren Knospen, Blüten (weiß) und Früchten (grün, gelb). Kolorierter ­Kupferstich von Pieter Sluyter (1675 – ca. 1715) nach Maria Sibylla Merian mit handschriftlicher Ergänzung unten links. Den Namen Theobroma cacao (griech. theos = Gott, broma = Speise) verdankt er Carl von Linné, der ihn in das Taxon "Polyadelphia decandria" (Blüten mit zehn Staubfäden) stellte. Robert Brown ordnete ihn in die Familie Buett­neriaceae ein. Nach der aktuellen Taxonomie gehört er zu den Malvaceae, Unterfamilie Byttnerioideae.

"Viele Leute hier trinken Tee, Kaffee und Schokolade, aber ich nehme nichts von diesem Zeug, bilde mir ein, es sei nicht gesund", schrieb Liselotte von der Pfalz (1652 – 1722) an ihre Halbschwester Amalie Elisabeth von Degenfeld (1663– 1709). Die für ihr natürliches und spontanes Wesen bekannte Herzogin konnte den feinen Sitten am Hof ihres Schwagers, Ludwigs XIV. von Frankreich (1638 – 1715), nicht viel abgewinnen. Anstatt in eleganter Gesellschaft ein Koppchen mit heißer Schokolade zu schlürfen, verzehrte sie lieber eine fruchtige Kaltschale oder eine deftige Biersuppe.

In der Tat schieden sich an den Kakaobohnen, die Hernán Cortés nach der Eroberung des Aztekenreichs (1521) erstmals an den spanischen Hof gesendet hatte, lange Zeit die Geister. Die Eroberer hatten von den Azteken gelernt, "Xocóatl" (aus aztekisch xócoc = bitter und atl = Wasser) zuzubereiten, indem sie "Cacahuatl" (aztekisch Kakaobohnen oder -pulver) rösteten und schälten, in einem Mörser zerstießen und das Pulver mit heißem Wasser aufbrühten.

Mit Chili oder anderen Ingredienzien gewürzt und mit Achiote, den Samen des Annattostrauchs (Bixa orellana), rot gefärbt, war das Getränk für europäische Geschmacksnerven allerdings mehr als gewöhnungsbedürftig. Geradezu vernichtend war das Urteil des italienischen Reisenden und Historikers Girolamo Benzoni (1519 – 1570), der nach der Rückkehr aus der Neuen Welt (1556) meinte, Schokolade sei eher ein Trunk für Schweine als für Menschen.

Die Maya und Azteken nutzten die Kakaobohnen traditionell als Tauschmittel. Nach der Einführung in Spanien waren sie auch dort als "zweite Währung" sehr begehrt. Eine zeitgenössische Preisliste belegt, dass man 1545 für einen Truthahn 200 "Cacahuatl" zahlen musste. Ein Hase war 100 und ein in Maishülsen gewickelter Fisch drei Kakaobohnen wert.


Um 1900 war Kakao in allen Bevölkerungsschichten ein sehr beliebtes Getränk – dank dem von van Houten erfundenen löslichen ­Kakaopulver. Werbeanzeige aus "Jugend – Münchner Illustrierte Wochenzeitschrift für Kunst und Leben", Jahrgang 1900.

Nahrhaftes Fastengetränk und Genuss für den Adel

Erst nachdem spanische Siedler im heutigen Mexiko entdeckt hatten, dass Zucker den Kakao wohlschmeckender macht, kamen auch die Genießer in der Alten Welt auf den Geschmack. Wegen des hohen Nährwerts empfahl die Kurie nun sogar Mönchen und Nonnen, in den kargen Fastenwochen Schokolade zu trinken. Am spanischen Königshof beschränkte man sich damit bald nicht mehr auf die vorösterliche Zeit, sondern genoss über das ganze Jahr Schokolade als Morgentrunk anstelle von Bier, Most oder Wein.

Als König Ludwig XIII. von Frankreich (1601– 1643) sich 1615 mit Anna von Österreich (1601– 1666) vermählte, hatte die in Madrid aufgewachsene Habsburgerin Kakaobohnen im Gepäck. Über Maria Theresia von Österreich (1638 – 1683) wird berichtet, dass sie außer der Liebe zu ihrem Ehegatten Ludwig XIV. nur noch eine Leidenschaft kannte, nämlich den Genuss köstlicher Schokolade. Deshalb brachte sie zur Hochzeit (1660) sogar ihre spanische Schokoladenköchin mit in das Palais Royal.

Der prunkvolle Lebensstil des Sonnenkönigs war das Vorbild für Herrscher in ganz Europa; dazu zählte auch, wie Liselotte von der Pfalz berichtete (s. o.), der Genuss von Schokolade. Der bildungsbeflissene und an allem Exotischen interessierte Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1633 – 1714) lernte vermutlich um 1685 die Schokolade kennen. Sein jüngster Sohn Ludwig Rudolf (1671 – 1735) war ein besonderer Liebhaber des Getränks aus der Neuen Welt. Davon zeugen einschlägige Bücher aus seinem Nachlass.


Schokolade wurde gern als stärkender Morgentrunk im Bett genossen. Hier ist auch für den Liebhaber der jungen Dame eine Trembleuse gedeckt. Stahlstich (Ausschnitt), 19. Jahrhundert, nach einem Gemälde von Jean-Baptiste Leprince (1769).

Stärkung für das "eheliche Werck"

Seitdem der Kakao in Europa bekannt war, wurde hitzig darüber diskutiert, ob er auch als Arznei tauglich sei. In der Wolfenbütteler Herzog August Bibliothek befindet sich unter anderem die "Neue merckwürdige Reise-Beschreibung nach Neu-Spanien" (Ausgabe Leipzig 1693). Darin beschwört der Engländer Thomas Gage (ca. 1597 – 1656) die gute Wirkung der Schokolade. Die meisten Ärzte seien der Meinung, dass sie gemäß der antiken VierElemente-Lehre "kalt und trocken" sei, so wie das Element Erde.

Konrad Barthold Behrens (1660 – 1736), ein Leibarzt des genannten Herzogs Anton Ulrich, berichtet in seinen "Selecta Diaetetica" (Hildesheim 1710), dass Schokolade zähes Lymphwasser auflöse, Blähungen vertreibe, das Atemholen erleichtere und Schwindsüchtige beruhige. Auch soll das Getränk den Monatsfluss der Frauen befördern und eine rosenfarbige Hautfarbe erzeugen.

Zudem errege Schokolade aber aufs Höchste die Liebeslust, versichert Behrens. Weil sie "die Hitze des Körpers vermehrt und die Stacheln des Fleisches schärft", sei sie als Fastenspeise ungeeignet und sollte Angehörigen des Klerus nur "im Falle einer medizinischen Anwendung zugestanden werden".

Ludwig Rudolf von Braunschweig-Wolfenbüttel wird auch die Abhandlung des Amsterdamer Arztes Steven Blankaart (1650 – 1704) über "heilkräftige Getränke" ("Haustus polychresti: Oder zuverlässige Gedancken vom Theé, Coffeé, Chocolate, und Taback", Hamburg 1705) eifrig studiert haben. Darin heißt es: "Die Liebhaber der Chocolate schreiben ihr (…) eine (…) Würckung zu / welche diese ist / daß sie die Krafft der Männer / und Frauen stärcket im ehelichen Werck / um dieses mit desto mehr Force zu verrichten."


Chocolatière mit dem typischen langstieligen Griff; Bemalung passend zu Koppchen und Unterschale (links). Meißener Porzellan, um 1740/42.

Tassen und Chocolatièren aus edlem Porzellan

Wen wunderts, dass solche medizinischen Abhandlungen im sinnenfrohen 18. Jahrhundert den Appetit auf Schokolade noch anstachelten? Setzten sich Kaffee und Tee zusehends in bürgerlichen Haushalten durch, so blieb Schokolade hierzulande noch bis ins frühe 19. Jahrhundert ein Luxusgut, das in Apotheken verkauft wurde. Erstmals in Deutschland wird sie in der Taxe der Braunschweiger Ratsapotheke von 1640 genannt: Demnach kostete ein Pfund "Scocculata Indica" vier Gulden; zum Vergleich: Ein Pfund raffinierter kanarischer Zucker kostete "nur" 1,8 Gulden, und ein höherer Beamter wurde mit etwa 500 Gulden jährlich besoldet.

Für das edle Getränk wurden selbstverständlich auch adäquate Trinkgefäße und Zubereitungsgeräte gebraucht, wobei man als Material das geschmacksneutrale Porzellan bevorzugte. Anfangs schlürften die Genießer ihre Schokolade aus henkellosen Koppchen, die aus China importiert wurden. Nachdem Johann Friedrich Böttger 1709 das Porzellan nacherfunden hatte, wurden in der Manufaktur Meißen neuartige Trinkgefäße entwickelt. Es gab hohe Tassen, die mit einem oder zwei Henkeln versehen waren. Insbesondere am Morgen wurde Schokolade am Bett in einer "Trembleuse" (franz. trembler = zittern) serviert. In eine Untertasse mit kragenartigem Ring gestellt, konnte sie nicht verrutschen.

Anfangs trank man Schokolade aus Koppchen (henkellose Tasse) mit Unterschale (hochrandige Untertasse). Meißener Porzellan, um 1740/42.

In Frankreich wurde die Chocolatière kreiert. Sie besitzt einen seitlich abstehenden Griff, der das Verbrennen der Finger beim Erhitzen der Schokoladenmasse in Wasser oder Milch über offenem Feuer verhindert. Im Deckel befindet sich ein Loch, durch welches ein hölzerner Quirl zum wiederholten Aufrühren des Getränks geführt wird.

1747 gründete Herzog Carl I. von Braunschweig im Schloss Fürstenberg an der Weser eine Porzellanmanufaktur, die ab 1753 Kaffee- und Teeservices, Schokoladenbecher und -kannen, Trembleusen, "Déjeuners" und andere Luxusartikel aus edlem Hartporzellan für seinen Hof herstellte.

Vom Getränk zur Tafel Schokolade

Obgleich Schokolade bis Mitte des 19. Jahrhunderts ausschließlich als Getränk zubereitet wurde, verwendeten findige Zuckerbäcker sie damals schon, um Marzipankonfekt zu verfeinern oder zu verzieren. 1828 gelang dem niederländischen Apotheker Coenraad Johannes van Houten (1801 – 1887) erstmals die Herstellung leichtlöslichen Kakaopulvers. Nach der Behandlung des Kakaobruchs in einer alkalischen Lösung presste er aus ihm die Kakaobutter heraus. Der entölte Presskuchen wurde zu Pulver gemahlen, das sich besser in Wasser löste als die bis dahin übliche fettreiche Schokoladenmasse.

"Das Schokoladenmädchen", Pastell von Jean Étienne Liotard, um 1744. Gemäldegalerie Alte Meister, ­Dresden (im Zwinger).

Vom Kakaopulver bis zur Tafel Schokolade war es nun nicht mehr weit. Der Fabrikant John Cadbury (1801 – 1889) in Birmingham und die Firma Fry & Sons in Bristol entwickelten 1842 bzw. 1847 Verfahren für die Herstellung warmer, flüssiger Schokoladenmasse aus Kakaopulver, Zucker und Kakaobutter, die in Formen gegossen werden konnte und beim Abkühlen erhärtete.

1878 präsentierte der Schweizer Daniel Peter auf der Pariser Weltausstellung erstmals eine feste Milchschokolade. Er hatte der Schokoladenmasse das von Henri Nestlé 1867 als Kindernahrung entwickelte Milchpulver hinzugefügt. Mit der neuen Création gelang es ihm schnell, auch Kinder als Konsumenten zu gewinnen.

Die älteste noch produzierende Schokoladenfabrik Deutschlands steht in Halle an der Saale und wurde 1804 erstmals urkundlich erwähnt (heute Halloren Schokoladenfabrik AG). Von der Popularität der Schokolade profitierten auch andere Gewerbezweige. Die Dresdner Firma Anton Reiche und der Berliner Metallwarenfabrikant Hermann Walter stellten für alle namhaften Schokoladenhersteller Gießformen aus Weißblech her.

Argumente für und wider den Genuss

Anfangs waren es Weihnachtsmänner, später auch Osterhasen, die die Kinderherzen höher schlagen ließen. Um auch über die Saisongeschäfte hinaus die Kundschaft zur "süßen Sünde" zu verführen, wurde das Sortiment stetig erweitert.

Ähnlich wie Kaffeebohnen wurde auch Kakao in Pfannen, Töpfen oder – wie hier – in Trommeln geröstet. (Kupferstich aus "L’Art du Destillateur" von Jacques François Demachy, 1775.)

Um 1930 mussten infolge der Weltwirtschaftskrise und der relativen Überproduktion etliche Schokoladenfabrikanten den Betrieb einstellen. Ein weiterer Konzentrationsprozess folgte seit den 1970er Jahren.

Heute beobachten Ärzte und Ernährungsphysiologen den zunehmenden Schokoladenkonsum mit Sorge und raten dringend, wegen des (in der Werbung gern verschwiegenen) hohen Anteils an Zucker und Fett in Schokolade die Naschsucht zu zügeln. Die meisten der dem Kakao einst – und immer wieder von Neuem – zugeschriebenen Eigenschaften gehören ohnehin in das Reich der Legende.

Immerhin ist nachgewiesen, dass das in Kakao enthaltene Theobromin (1 bis 3%) leicht anregend und stimmungsaufhellend wirkt. Zudem soll der Inhaltsstoff N‑Phenylpropenoyl-L-Aminosäureamid das Wachstum der Hautzellen sowie die Wundheilung fördern und der Faltenbildung vorbeugen ("Anti-Aging"). Auch für die Kariesprophylaxe soll Kakao geeignet sein, sofern dieser Effekt nicht durch die Zutat von Zucker ad absurdum geführt wird.

An die lange Tradition als Heilmittel anknüpfend, stellt die Firma Stollwerck "Apothekenschokolade" her.


Reinhard Wylegalla


Ausstellung


Museum im Schloss Wolfenbüttel

Schlossplatz 13, 38304 Wolfenbüttel

Tel. (0 53 31) 92 46-0, Fax 92 46-18

www.schloss-wf.de

Geöffnet: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr




DAZ 2011, Nr. 7, S. 98

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.