Arzneimittel und Therapie

Das Tabu zu brechen, wirkt oft entlastend

Genaue Zahlen zur Epidemiologie der Stuhl- und Harninkontinenz fehlen bislang. Allerdings gibt es Erhebungen, wonach 12% der Bevölkerung an einer Dranginkontinenz leiden. Noch deutlich höher dürfte somit die Zahl der Menschen sein, die generell durch eine Harn- oder Stuhlinkontinenz in ihrem Leben beeinträchtigt sind. Doch das Thema Inkontinenz ist noch mit erheblichen Tabus behaftet, wie bei der Jahrestagung der Deutschen Kontinenz Gesellschaft betont wurde. Dabei wäre ein offenes Wort für viele Betroffene entlastend.

Eine Harn- wie auch eine Stuhlinkontinenz kann viele Ursachen haben und sollte daher medizinisch abgeklärt werden. Das Dilemma: Die meisten Betroffenen schämen sich für die Inkontinenz und sprechen weder mit ihren Angehörigen noch mit ihrem Hausarzt über das "Problem", sondern ziehen sich vom sozialen Leben weitgehend zurück. Viele Menschen denken zudem, dass es zum Altern dazu gehört, inkontinent zu werden und wissen nicht, dass es bei den meisten Krankheitsformen durchaus gute Behandlungsmöglichkeiten gibt. "Wir können 70 bis 80% der Patienten mit einer Harninkontinenz gut helfen und auch bei den übrigen Patienten durch eine adäquate medizinische Versorgung die Symptomatik bessern", berichtete Priv.-Doz. Dr. Moritz Braun aus Köln.

Harninkontinenz – ein Thema bei alt und jung

Das Problem der Harninkontinenz wird nach seinen Worten noch weithin unterschätzt: Mit rund neun Millionen wird die Zahl der Patienten hierzulande derzeit offiziell beziffert, Dunkelziffer nicht eingerechnet. Frauen sind häufiger betroffen als Männer: "Wir gehen davon aus, dass rund zwei Drittel der Frauen über 60 Jahren an einer Harninkontinenz leiden oder gelitten haben", so Braun. Das bedeutet aber nicht, dass nur ältere Menschen betroffen sind: Etwa 50% der Patienten sind unter 50 Jahren, so hieß es in Köln. Vor allem Frauen, die mehrere Kinder geboren haben, leiden oft schon in jungen Jahren unter unfreiwilligen Harnverlusten.

Wie groß das Problem ist, zeigt laut Prof. Dr. Klaus-Peter Jünemann, Kiel, die EPIC-Studie, eine Erhebung, bei der die Prävalenz der überaktiven Blase (overactive bladder, OAB) bei knapp 15.000 Männern und Frauen im Alter von mehr als 18 Jahren in Deutschland, Italien, Schweden und England untersucht wurde. Im Rahmen von Telefoninterviews wurden die Probanden hinsichtlich des Auftretens einer Drangsymptomatik mit und ohne Dranginkontinenz befragt. Das erschreckende Resultat: Die Gesamtprävalenz lag bei 12%. In der Gruppe der über 40-Jährigen berichten sogar 13% der Männer und 15% der Frauen von einer überaktiven Blasensymptomatik.

Der Leidensdruck ist meist hoch und das unabhängig davon, ob lediglich eine starke Drang symptomatik besteht oder es zusätzlich auch zur Inkontinenz kommt. "Auch Patienten, die es in aller Regel noch bis zur Toilette schaffen, sind durch die überaktive Blase in ihrer Lebensführung oft massiv eingeschränkt", so Jünemann.

Neue Therapieoption: Botulinumtoxin

Viele Patienten wissen nach seinen Worten nicht, dass es durchaus gute Behandlungsmöglichkeiten gibt und dass dies nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie operiert werden müssen. Speziell die Dranginkontinenz lässt sich nach Jünemann gut mit Antimuskarinika behandeln. Hilft dieser Ansatz nicht oder kommt es zu nicht zu tolerierenden Nebenwirkungen, so gibt es seit Kurzem auch die Möglichkeit der Injektion von Botulinumtoxin in die Blasenwand. Es handelt sich um einen invasiven Eingriff, der nach der Erfahrung des Urologen von den Patienten aber gut vertragen und akzeptiert wird, zumal diese nach einer Behandlung oft viele Monate beschwerdefrei sind. Streng genommen ist das Verfahren laut Jünemann nur für die neurogene Harninkontinenz zugelassen, also zum Beispiel für Patienten mit einer Querschnittslähmung oder einer multiplen Sklerose. "Es ist aber abzusehen, dass die Zulassung auch für nicht-neurogene Indikationen ausgesprochen werden wird", sagte der Urologe. Denn die Studienlage ist nach seinen Angaben überzeugend und der Einsatz von Botulinumtoxin ist bei der Detrusorhyperaktivität auch im Off-label-Use bereits gängige Praxis.

Bei etwa 80% der Patienten ist nach Jünemann mit dem Verfahren ein Behandlungserfolg zu erzielen, der im Mittel neun bis zwölf Monate anhält. "Gravierende Nebenwirkungen haben wir bislang nicht gesehen", erklärte er beim Kongress.

Beckenbodentraining, Kontinenzbänder und künstlicher Sphinkter

Auch bei der Belastungsinkontinenz sind die Behandlungsmöglichkeiten heutzutage gut, wie in Köln betont wurde. So hat das Beckenbodentraining nach wie vor einen hohen Stellenwert. Außerdem kann durch biokom patible Bänder oder Kunststoffnetze eine Absenkung von Enddarm, Scheide und Blase oft operativ behoben werden.

Etwas schwieriger ist die Situation laut Braun bei Männern, bei denen der Belastungsinkontinenz anders als bei Frauen meist ein Schließmuskeldefekt zugrunde liegt. "Lange Zeit war die Implantation eines künstlichen Schließmuskels dann die einzig sinnvolle Behandlungsmaßnahme. Inzwischen aber gibt es auch für diese Inkontinenzform bei Männern die Möglichkeit, durch Krankengymnastik, Medikamente oder die Implantation von Kontinenzbändern das ‚Problem‘ zu beheben."

Per Schrittmacher gegen die Stuhlinkontinenz

Neuerungen gibt es auch bei der Stuhlinkontinenz, wie Prof. Dr. Ernst Eypasch, Köln, bei der Jahrestagung darlegte. Die unbefriedigenden Ergebnisse von Hebungsoperationen oder aufwendigen Rekonstruktionen an Blasen- oder Darmschließmuskel haben nach seiner Darstellung dazu geführt, dass in den vergangenen 15 Jahren verträgliche Kunststoffnetze und elektronische Schrittmachersysteme entwickelt wurden, die – einem Herzschrittmacher vergleichbar – implantiert werden und über winzige Stimulationselektroden, die im Schließmuskel platziert und entsprechend programmiert werden, die Sphinkterfunktion steuern. Werden sie auf Dauerstimulation eingestellt, so bleibt der Schließmuskel kontrahiert, was zur Dichtigkeit führt. "Durch einen solchen Darm stimulator lässt sich die Schließmuskelfunktion wie auch die kontrollierte Darmentleerung entscheidend verbessern", berichtete Eypasch.

Umfassende diagnostische Abklärung

Alle geschilderten Therapieverfahren setzen allerdings eine umfassende diagnostische Abklärung voraus, so wurde betont. Diese übersteigt in aller Regel die apparative Ausstattung in der hausärztlichen Praxis, so dass die Patienten durch einen Facharzt oder direkt durch ein Kontinenzzentrum betreut werden müssen. Wo entsprechende Kontinenz-Beratungsstellen zu finden sind, lässt sich auf der Webseite der Deutschen Kontinenz Gesellschaft (www.kontinenz-gesellschaft.de) aufgelistet nach Postleitzahlen ermitteln.


Medizinjournalistin Christine Vetter



DAZ 2011, Nr. 47, S. 60

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