DAZ aktuell

Von außen gesehen

Gerhard Schulze

Patienten mit beginnender Knie- oder Hüftgelenksarthrose bekommen vom Arzt ein Schmerzmittel verschrieben und ein künstliches Gelenk in Aussicht gestellt. Die schützende Knorpelschicht zwischen ihren Gelenken nutzt sich altersbedingt immer mehr ab, bis sie schließlich ganz verschwindet. Durchbrüche auf dem Gebiet der Knorpelerhaltung gibt es derzeit nicht. Und so bleibt es bis auf Weiteres dabei, dass immer mehr Menschen irgendwann nicht mehr richtig laufen können, auf Schmerzmittel und künstliche Gelenke angewiesen sind.

Die Lebenserwartung steigt, die Lebensqualität nicht unbedingt. Es sei denn, man leistet selbst einen Beitrag. Im Umgang mit altersbedingten Leiden hat sich daher einiges geändert: Die Betroffenen suchen nach Wegen, die Abbauprozesse hinauszuzögern. Sie lernen zum Beispiel, dass Bewegung für alles Mögliche gut ist, auch für den Knochenstoffwechsel. Sie machen gute Erfahrungen mit Physiotherapie. Sie reduzieren ihr Gewicht und trainieren ihre Muskulatur. All dies erfordert Wissen und eine möglichst klare Ansage.

Waren es neben Arzt und Apotheker früher meist nur Ratgeber in Form von Büchern oder Fernsehsendungen, die dieses Wissen generierten, kam im 21. Jahrhundert das Internet als Informationsquelle hinzu. Bald darauf war der Cyberchonder geboren. Das ist ein Mensch, der ständig alle möglichen Informationen über alle möglichen Krankheiten sammelt und schließlich krank davon wird.

Für den Cyberchonder, der zum Opfer seines eigenen Wissensmanagements wird, gilt das Gleiche wie für hochspezialisierte Experten auch: Mit jedem Wissensfortschritt ergeben sich neue Wissenslücken. Der Philosoph Nicholas Rescher bezeichnet dies in seinem Buch "Die Grenzen der Wissenschaft" als "Fragendynamik". An sich ist das kein Problem, aber man muss lernen, mit dieser Ungewissheit umzugehen.

Je mehr wir erfahren, desto mehr Fragen kommen auf, für den Laien allzumal. Ist es zum Beispiel möglich, den Gelenkverschleiß mithilfe von Nahrungsergänzungsmitteln aufzuhalten? Hyaluronsäure, Glucosaminsulfat oder S-Adenosylmethionin sollen das angeblich leisten, aber stimmt das auch? Frage ich einen Schulmediziner, wird er wohl abwinken und sagen: Reine Geldmacherei, teurer Urin, Bioverfügbarkeit bei Null! Frage ich einen Hersteller solcher Mittel, verweist er auf entsprechende Studien, Tierversuche oder Einzelfälle, bei denen sie geholfen haben.

Die Diskussion bewegt sich innerhalb normaler Parameter: Der eine sagt so, der andere so. Das nervt, aber wer über die kostspieligen Verbindungen zum Erhalt des Gelenkknorpels spricht, kommt am Problem der Bioverfügbarkeit nicht vorbei. Die genannten Substanzen könnten möglicherweise helfen, aber dazu müssten sie den Ort erreichen, an dem sie helfen sollen. Genau das ist fraglich. Passend dazu kommt die Berliner Stiftung Warentest in einer neuen Studie zu dem Ergebnis, das jedes dritte OTC-Präparat überflüssig ist und damit reine Beutelschneiderei. Auch jeder Apotheker wisse, hieß es in Ausgabe 39/2011 dieser Zeitung, dass so manches freiverkäufliche Produkt nicht empfehlenswert sei.

Der gesunde Menschenverstand sagt: Wenn die Mittel wirklich helfen würden, hätte sich das doch längst herumgesprochen. Andererseits schaffen es ja auch die Nährstoffe, die wir über die Nahrung zu uns nehmen, unsere Knochen, unsere Haut, unser Immunsystem zu stärken, warum dann nicht ein hoffentlich nach den Maßstäben modernster Galenik verpacktes Nahrungsergänzungsmittel? Und zur Not gäbe es ja noch den Placeboeffekt, der völlig inhaltsleere Produkte unter bestimmten, schwer nachvollziehbaren Bedingungen zu Heilmitteln werden lässt.

Was für ein Dilemma! Nicht nur für Patienten, sondern auch für den Apotheker. OTC-Verkäufe sichern seine Existenz, andererseits ist beim Thema Bioverfügbarkeit professionelle Distanz gefragt, denn die wichtigste Währung dieser Tage geht sonst verloren: Vertrauen. Der Apotheker von heute wendet sich an ein suchendes, informiertes und oft überinformiertes Publikum, das Hoffnungen hegt, im Trüben fischt, aber auch vieles richtig macht.

Man will vor allem Anregungen. Welchen Weg soll man beschreiten? Auf was muss man dabei achten? Dass Fragen aufkommen, ist normal, Unsicherheit und Nichtwissen gehören dazu. Der Apotheker ist jedoch im Vorteil: er kann schneller und sachverständiger das Für und Wider auf den Punkt bringen, die Hauptlinien erkennbar machen und Perspektiven aufzeigen. Eine Leistung, die im heutigen Informationsgewerbe und ganz besonders im Internet die absolute Ausnahme ist.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2011, Nr. 45, S. 38

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