Arzneimittel und Therapie

Diskussion um Todesfälle unter Dabigatran (Pradaxa®)

Ein Rote-Hand-Brief zu dem oralen Gerinnungshemmer Dabigatran (Pradaxa®) hat für Unruhe und Irritationen gesorgt. Ausgelöst durch eine Vorabpublikation der Wochenzeitschrift "Die Zeit" häuften sich Schlagzeilen wie "Tödliche Pillen" (sueddeutsche.de), "Schlaganfall-Mittel wirkt tödlich" (RPonline) oder "Tote nach Einnahme von Schlaganfall-Medikament" (Bild). Was ist der Hintergrund? Und geht von Dabigatran tatsächlich eine unerwartet große Gefahr aus?

Dabigatranetexilat ist ein Prodrug, das in Plasma und Leber durch Hydrolyse mittels Esterasen zu aktivem Dabigatran umgewandelt wird, einem reversiblen, kompetitiven und direkten Hemmstoff von Thrombin. Thrombin katalysiert in der Gerinnungskaskade die Umwandlung von Fibrinogen zu Fibrin. Seine Hemmung verhindert damit die Entstehung eines Thrombus (s. Abb.). Dabigatran ist ein Antikoagulans, das wie der Vitamin-K-Antagonist Phenprocoumon (Marcumar®) oral eingesetzt wird und in 75-mg- und 110-mg-Kapseln zur Verfügung steht. Es ist zugelassen

  • zur Primärprävention von venösen thromboembolischen Ereignissen bei erwachsenen Patienten nach elektivem chirurgischem Hüft- oder Kniegelenksersatz sowie zur
  • Prävention von Schlaganfall und systemischer Embolie bei erwachsenen Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern.

Die Gerinnungskaskade Das intrinsische und extrinsische Gerinnungssystem treffen sich bei der Aktivierung von Faktor-X (weiße Fläche), dem zentralen Aktivator von Thrombin. Am Ende der Gerinnungskaskade steht die Bildung des stabilen Fibrinnetzes (gelbe Fläche). Der physiologische Gegenspieler der Fibrinolyse ist Plasmin, das die Fibrinpolymere auflöst (grüne Fläche). Dabigatran ist ein direkter Hemmstoff des Thrombins und verhindert die Fibrinbildung.

[Aus Herdegen T: Pharmako-logisch! Blutgerinnungsstörungen, DAZ 2009, Nr. 31, S. 42 ff.]

Blutungsrisiko bei eingeschränkter Nierenfunktion

Anlass für den Rote-Hand-Brief zu Dabigatran vom 27. Oktober 2011 waren Meldungen über schwere, zum Teil letal verlaufende Blutungskomplikationen, vor allem in Japan. Diese haben auch in Europa die Aufsichtsbehörden auf den Plan gerufen. In Abstimmung mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat der Hersteller von Pradaxa®, Boehringer Ingelheim, mit dem Rote-Hand-Brief noch einmal verstärkt auf die Bedeutung einer Nierenfunktionsprüfung bei Behandlung mit dem Gerinnungshemmer hingewiesen (s. Kasten).


Rote-Hand-Brief zu Pradaxa®


Vor einer Behandlung mit Pradaxa® sollte bei allen Patienten die Nierenfunktion überprüft werden.

Pradaxa® ist bei Patienten mit einer schweren Beeinträchtigung der Nierenfunktion kontraindiziert.

Während der Behandlung sollte die Nierenfunktion in klinischen Situationen überprüft werden, in denen eine Abnahme der Nierenfunktion vermutet wird.

Bei älteren Patienten (> 75 Jahren) oder bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion sollte die Nierenfunktion mindestens einmal im Jahr überprüft werden.


Warum dies so wichtig ist, erklärt die Pharmakokinetik von Dabigatran. Denn der Thrombinhemmer wird zu 80% über die Nieren ausgeschieden, so dass bei Einschränkung der Nierenfunktion die Blutspiegel auf gefährliche Werte ansteigen können. Eine Dosisanpassung ist unbedingt erforderlich ist. Bei schwerer Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance unter 30 ml/min) ist Dabigatran kontraindiziert.

Wird dies nicht beachtet, muss mit schweren Blutungskomplikationen bis hin zu Todesfällen gerechnet werden.

Blutungsgefahr durch Interaktionen

Neben Nierenfunktionsstörungen gibt es weitere Risiken, die das Blutungsrisiko unter Dabigatran erhöhen (Tab. 1), so auch Interaktionen.


Tab. 1: Faktoren, die das Blutungsrisiko unter Dabigatran erhöhen können [1]

pharmakodynamische und pharmakokinetische Faktoren
Alter ≥ 75 Jahre
Faktoren, die den Dabigatran-Plasmaspiegel erhöhen
erhebliche Risikofaktoren:

  • mäßig beeinträchtigte Nierenfunktion (CrCl 30 – 50 ml/min)
  • gleichzeitige Behandlung mit P-Glykoproteinhemmern
erhebliche Risikofaktoren:

  • niedriges Körpergewicht (< 50 kg)
pharmakodynamische
Wechselwirkungen
  • Acetylsalicylsäure
  • NSAR
  • Clopidogrel
Erkrankungen/Eingriffe mit besonderem Blutungsrisiko
  • angeborene oder erworbene Gerinnungsstörungen
  • Thrombozytopenie oder funktionelle Thrombozytendefekte
  • akute gastrointestinale Ulcera
  • kürzlich aufgetretene gastrointestinale Blutung
  • kürzlich durchgeführte Biopsie oder kürzlich aufgetretenes schweres Trauma
  • kürzlich aufgetretene intrakranielle Blutung
  • chirurgischer Eingriff an Hirn, Rückenmark oder Augen
  • bakterielle Endokarditis

Zwar wird Dabigatran nicht wie Phenprocoumon über das CYP450-System metabolisiert, so dass an dieser Stelle Interaktionen nicht zu erwarten sind. Allerdings ist Dabigatran ein Substrat des P-Glykoprotein-Effluxtransporters. Wird dieser Transporter durch andere Arzneistoffe gehemmt, muss mit erhöhten Dabigatran-Plasmakonzentrationen und damit mit einem erhöhten Blutungsrisiko gerechnet werden. Daher ist bei einer Dabigatran-Behandlung die gleichzeitige systemische Behandlung mit

  • Ketoconazol,
  • Ciclosporin,
  • Itraconazol oder
  • Tacrolimus

kontraindiziert.

Bei anderen starken Hemmstoffen des P-Glykoproteins, wie zum Beispiel Amiodaron, Chinidin oder Verapamil ist eine engmaschige Überwachung und Dosisreduktion von Dabigatran erforderlich.

Ist Dabigatran besonders gefährlich?

Der Fachinformation ist zu entnehmen, dass Blutungen die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen von Dabigatran sind. Sie werden mit einer Häufigkeit von 14% nach Kurzzeitbehandlung nach elektivem chirurgischem Hüft- und Kniegelenkersatz angegeben und mit 16,5% bei Prävention von Schlaganfall und systemischer Embolie. Zulassungsstudien (RE-NOVATE, RE-MODEL) zufolge scheint dabei Dabigatran in der Primärprävention venöser Thromboembolien nach chirurgischem Hüft- und Kniegelenkersatz nicht schlechter abzuschneiden als Enoxaparin (Tab. 2).


Tab. 2: Blutungsereignisse unter Dabigatran im Vergleich zu Enoxaparin [aus 1]

Dabigatran 50 mg 1 x täglich
n [%]
Dabigatran 220 mg 1 x täglich
n [%]
Enoxaparin
n [%]
Anzahl
1866 (100,0)
1825 (100,0)
1848 (100,0)
schwere
Blutungen
24 (1,3)
33 (1,8)
27 (1,5)
Blutungen insgesamt
258 (13,8)
251 (13,8)
247 (13,4)

In der zulassungsrelevanten Studie zur Prävention bei Schlaganfall und systemischer Embolie (RE-LY) zeigte sich im Vergleich zu Warfarin ein signifikant niedrigeres Risiko für lebensbedrohliche und intrakranielle Blutungen für Dosierungen von zweimal täglich 110 mg und zweimal täglich 150 mg Dabigatran. Schwere Blutungen traten im Vergleich zu Warfarin nur bei der niedrigeren Tagesdosierung von 220 mg Dabigatran seltener auf. Das Risiko für gastrointestinale Blutungen war bei Gabe von zweimal 150 mg Dabigatran im Vergleich zu Warfarin zudem signifikant erhöht, wobei davon vorwiegend ältere Patienten (75 Jahre und älter) betroffen waren (Tab. 3).


Tab. 3: Blutungsereignisse unter Dabigatran im Vergleich zu Warfarin [aus 1]

Dabigatran 110 mg
2 x täglich
Dabigatran 150 mg
2 x täglich
Warfarin
Anzahl randomisierter Patienten
6015
6076
6022
schwere Blutungen
342 (2,87%)
399 (3,32%)
421 (3,57%)
   intrakranielle Blutungen
27 (0,32%)
38 (0,32%)
90 (0,76%)
   gastrointestinale Blutungen
134 (1,14%)
186 (1,57%)
125 (1,07%)
   tödliche Blutungen
23 (0,19%)
28 (0,23%)
39 (0,33%)
leichte Blutungen
1566 (13,6%)
1787 (14,85%)
1931 (16,37%)
Blutungen insgesamt
1754 (14,74%)
1993 (16,56%)
2166 (18,37%)

Boehringer: "Meldungen seltener als erwartet"

Prinzipiell ist jede gerinnungshemmende Therapie eine Gratwanderung, Blutungskomplikationen können nicht ausgeschlossen werden. Zur Frage, wie viele Patienten in Deutschland und wie viele weltweit bislang an den Folgen solcher Komplikationen nach Dabigatran-Gabe gestorben sind, konnte ein Sprecher von Boehringer Ingelheim keine genauen Angaben machen. Allerdings soll die Zahl der gemeldeten Fälle noch unter den Werten liegen, die man nach den Erfahrungen aus Zulassungsstudien erwarten würde. In einer Pressemitteilung heißt es dazu [2]: "Die bisher von Ärzten gemeldeten Blutungen, darunter auch tödliche Blutungen, sind im Verhältnis geringer als jene, die in der Zulassungsstudie (RE-LY) mit 18.000 Patienten erhoben wurden. Aus dieser Studie wissen wir, dass tödliche Blutungen ungefähr bei 0,33% der Patienten aufgetreten sind, die für ein Jahr mit einem Vitamin-K-Hemmer behandelt wurden. Bei mit Pradaxa® (150 mg, 2 x täglich) behandelten Patienten war dies bei 0,23% der Fall; bei Pradaxa® in der niedrigeren Dosierung (110 mg 2 x täglich) lag die Rate bei 0,19% pro Behandlungsjahr. Bezogen auf tödliche Blutungen hat Pradaxa® in der Dosis 150 mg 2 x täglich ein vergleichbares und in der Dosis 110 mg 2 x täglich sogar ein günstigeres Sicherheitsprofil wie Vitamin-K-Hemmer, die bisherige Standardmedikation."

Was tun bei Blutungen und Überdosierungen?

Dabigatran hat mit 12 bis 14 h eine im Vergleich zu Warfarin (36 h) und Phenprocoumon (150 h) deutlich kürzere Eliminationshalbwertszeit, so dass durch Absetzen beziehungsweise Verlängerung des Dosierungsintervalls bessere Steuerungsmöglichkeiten bestehen. Treten unter Dabigatran leichte Blutungen auf, wird deshalb empfohlen, den Abstand zur nächsten Gabe zu verlängern oder die Behandlung zu unterbrechen. Ein spezifisches Antidot steht nicht zur Verfügung. Bei hämorrhagischen Komplikationen muss laut Fachinformation die Behandlung abgebrochen und die Blutungsquelle festgestellt werden. Wegen der überwiegend renalen Ausscheidung von Dabigatran ist eine ausreichende Diurese sicherzustellen. Als unterstützende Behandlungsoptionen werden eine chirurgische Hämostase oder ein Plasmavolumenersatz vorgeschlagen. Zwar ist Dabigatran aufgrund seiner geringen Plasmabindung dialysefähig, doch liegen für einen solchen Behandlungsansatz nur begrenzte klinische Erfahrungen vor. Diskutiert wird auch die orale Gabe von Aktivkohle, wenn die Dabigatranetexilat-Einnahme nicht länger als zwei Stunden zurückliegt. Aber auch hier fehlen klinische Daten ebenso wie für den Ansatz, bei lebensbedrohlichen Komplikationen mit rekombinantem aktiviertem Faktor VII (rFVIIa) die Wirkung von Dabigatran zu antagonisieren [3].


Quelle

[1] Fachinformation Pradaxa® Hartkapseln, Stand August 2011

[2] Stellungnahme von Boehringer Ingelheim zu Pradaxa® -Veröffentlichungen, 3. November 2011

[3] Ryn J, et al.: Dabigatran etexilate: a novel, reversibel, oral direkt thrombin inhibitor. Thromb Haemost 2010; 103: 1116 - 1127


du



DAZ 2011, Nr. 45, S. 46

Das könnte Sie auch interessieren

Direkter Thrombin-Inhibitor erhöht das Risiko schwerer Blutungen

Gefährlicher „Blutverdünner“ Dabigatran?

Eine Analyse zur Diskussion um die Sicherheit des neuen oralen Antikoagulans Dabigatran

Ohne Antidot und Monitoring?

Zur Pharmakologie und den Vor- und Nachteilen der neuen Antikoagulanzien

(K)ein Ritt auf der Rasierklinge

Neue Antikoagulanzien im Vergleich

So wirksam wie Warfarin

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.