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Zwischen Lebenswelt und System

Gerhard Schulze

In den entwickelten Industrieländern geht es den meisten Menschen gut, sie sind mit allem versorgt, was sie brauchen. Ihnen ist vieles möglich, was früher undenkbar gewesen wäre: Reisen, Ehe ohne Trauschein, behaglich Wohnen, immer genug zu Essen im Kühlschrank. Dass wir tun können, was uns gefällt, liegt zum einen an der Lebenswelt, die offener, freier, gestaltbarer geworden ist. Zum anderen liegt es an den großen Systemen, in die wir alle eingebettet sind. Sie versorgen uns mit dem Notwendigen und mit allem, was darüber hinausgeht. Lebensmittel, Treibstoff, Zeitungen, Rotwein aus der Toskana, Ingwer aus Malaysia, Wolle aus Peru.

Die Systeme gehören zu den üblichen Verdächtigen, wenn es darum geht, die Moderne mit ihren Errungenschaften kritisch zu hinterfragen. In der Lebenswelt isst man eine Currywurst, schaltet das Licht an, fährt zur Tankstelle. Ohne Systeme wäre das schöne Leben nicht zu haben, trotzdem sind sie nicht beliebt. Sie produzieren Lebensmittelskandale, Massentierhaltung, Abgase, Energiekrisen, Finanzkrisen. Die Lebenswelt ist warm und kuschelig, die Systeme sind kalt und herzlos.

In der Lebenswelt verstehen wir uns als Individuen und gehen unsere eigenen Wege, im System sind wir nur ein Rädchen im Getriebe. Im System ist der Apotheker Erfüllungsgehilfe der Gesundheitspolitik, er muss Rabattverträge umsetzen, Zuzahlungen eintreiben, Formulare ausfüllen. In der Lebenswelt muss er blitzschnell von einem Thema auf das andere schalten, ständig ist seine Kreativität gefragt. Außerdem soll er Empathie zeigen, Vertrauen herstellen, falsche Erwartungen dämpfen.

Für Kunden gehört der Apothekenbesuch ausschließlich zur Lebenswelt. Es geht um Gesundheit und Krankheit, um Leben und Tod, um Kommunikation. Man soll sich artikulieren können, in Hörweite anderer Kunden komplizierte und oft sehr persönliche Fragen stellen, soll verstehen, was der Apotheker antwortet, seine Empfehlungen annehmen und umsetzen.

In der Lebenswelt ist man oft nicht so auf dem Laufenden. Vieles ist irrational. Gefühle, Wünsche und überholte Vorstellungen bestimmen das Bild, auch das der Apothekenkunden. In deren Wahrnehmung streicht der Apotheker fette Gewinne ein. "Es gibt immer noch zu viele von Ihnen, die einen Porsche fahren" – so formulierte es vor einigen Jahren die unbeliebteste Gesundheitsministerin aller Zeiten, und genauso nehmen Apothekenkunden das wahr, auch wenn es nicht stimmt.

Das System verlangt Kalkül, die Lebenswelt lebt vom Gefühl. Im System muss jeder zuerst an sich denken, in der Lebenswelt gilt Altruismus als Tugend. Im System kämpft der Apotheker ums Überleben, in der Lebenswelt sieht man ihn als Großverdiener. Das System verlangt eine Krämerseele, die Lebenswelt will ein Kommunikationsgenie, eine Lichtgestalt, bei der sich alle gut aufgehoben fühlen. In der Lebenswelt darf man schon mal ein Auge zudrücken, im System ist öde Pedanterie gefragt.

In der Apotheke prallen System und Lebenswelt offen aufeinander und der Apotheker verkörpert beides, und zwar für alle Kunden sichtbar. Ärzte haben das Problem auch, agieren jedoch geschickter: Die zehn Euro Kassengebühr treibt die Sprechstundenhilfe ein, das Honorar zahlt die Krankenkasse und bei Privatpatienten ist eine Abrechnungsstelle zwischen Arzt und Patient geschaltet. Die Rechnung kommt Tage oder Wochen später per Post und beeinträchtigt nicht die Interaktionen der Lebenswelt.

Die Apotheke dagegen funktioniert wie ein Kaufladen, oft steht der Apotheker persönlich an der Kasse. Es sind in der Regel keine großen Beträge, aber eben doch "Apothekenpreise" – auch so ein Wort aus der Lebenswelt, das die Wahrnehmung stabil prägt. "Es kann passieren was will, bei denen klingeln doch immer die Kassen", raunte mir neulich in der Apotheke ein älterer Herr zu, als sich weiter vorne ein Kunde über die Höhe der Zuzahlung beschwerte.

Ich hätte es gerne so: Habe ich eine Frage, mache ich mit meinem Apotheker einen Termin aus. Wir sprechen in einer abgetrennten Beratungsecke miteinander, niemand kann zuhören. Selbstverständlich bin ich bereit, ihm dafür ein Honorar zu überweisen. Auch für meine übrigen Apothekengeschäfte nehme ich gerne seine Freundlichkeit und seine Fachkenntnisse in Anspruch. Dort aber, wo es ans Zahlen geht, wo die Lebenswelt endet und das System beginnt, sollte besser ein anderer kassieren. Aus der Sicht des Systems ist es egal, wer diesen Job macht. In der Lebenswelt dagegen zählen Symbole und Inszenierung, gute Bilder und große Erzählungen. Was der Apotheker gilt, entscheidet sich hier.


Gerhard Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2011, Nr. 42, S. 32

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