Medizin

Cardiogoniometrie - eine Alternative zum EKG?

Für das Überleben von Herzinfarkt-Patienten ist eine schnelle Frühdiagnostik entscheidend. Doch die Standardmethoden EKG und Belastungs-EKG sind nicht immer aussagekräftig, Blutuntersuchungen können einen Herzinfarkt erst Stunden nach dem Auftreten bestätigen, Kernspintomographie und Angiographie sind als Screening nicht geeignet. Die Cardiogoniometrie, eine nicht-invasive Methode, könnte eine Alternative sein. Sie kann innerhalb von Minuten Aufschluss über den Herzstatus geben.

Herz-Kreislauferkrankungen sind mit 360.000 Fällen pro Jahr die häufigste Todesursache in Deutschland. Die kardiale Sterblichkeit ist in ländlichen Gebieten meist höher als in der Großstadt.

Eine effiziente, kostengünstige und einfache kardiovaskuläre Frühdiagnostik setzt in der hausärztlichen Versorgung an, um kardiale Ereignisse besser verhindern zu können. Das EKG und das Belastungs-EKG (Ergometrie) sind für die kardiale Frühdiagnostik im Bereich der niedergelassenen Ärzte zwar Standard, aber nicht ideal. Zum einen zeigt sich für beide Verfahren eine unbefriedigende Sensitivität und Spezifität, zum anderen sind gerade Belastungstests aufgrund einer Reihe von Kontraindikationen oder körperlicher Limitationen des Patienten nicht immer durchführbar oder aussagekräftig.

EKG erkennt nur einen von drei Herzinfarkten

Studien zeigen, dass das herkömmliche 12-Kanal-EKG sehr wenig treffsicher ist: Nur einer von drei Herzinfarkten wird durch das EKG richtig erkannt. Und auch moderne, sehr empfindliche Blutuntersuchungen, wie der Troponin-Test, können nicht alle kardialen Ereignisse aufzeigen oder geben erst mehrere Stunden nach dem Auftreten eines Herzinfarkts einen Hinweis darauf. Sensitivere Diagnoseverfahren wie kardiale Kernspintomographie oder Angiographie sind aus Gründen der Verfügbarkeit, der Verhältnismäßigkeit und auch der Kosten nicht als Screening praktikabel.

Cardiogoniometrie: Ergebnisse in Minuten

Die Cardiogoniometrie (CGM) kann diese Lücke schließen: Die nicht-invasive Methode liefert heute in wenigen Minuten aussagekräftige Ergebnisse zum Herzstatus des Patienten – und das in einer Ruheuntersuchung auch beim Patienten zu Hause. So kann frühzeitig und zielgerichtet eine Zuweisung zum Kardiologen, in die Notaufnahme eines Krankenhauses oder auch spezialisierte "Chest-Pain-Units" erfolgen und damit ein wichtiger Beitrag zur Prävention und raschen Behandlung von Herz-Notfällen auch in den ländlichen Regionen geleistet werden. Die in diesen Situationen oftmals sehr schwierige Abwägung des Hausarztes zwischen Krankenhauseinweisung und dem Wunsch des Patienten auf häusliche Weiterbehandlung kann mit diesem Verfahren erleichtert werden.


Cardiogoniometrie - wer bietet sie an?


Bislang gibt es nur wenige Praxen und Kliniken, die die Cardiogoniometrie in der Frühdiagnostik kardiovaskulärer Erkrankungen einsetzen. Eine nach Postleitzahlen geordnete Liste der Anwender, die auch kontaktiert werden können, findet sich unter

www.cardiogoniometrie.de/de/anwender-cardiogoniometrie.html

Fünf Elektroden geben Aufschluss

Für die CGM werden insgesamt nur vier Elektroden in definierter Position sowie eine Neutral-elektrode am Patienten angebracht. Die Signale werden über einen kleinen Kasten in der Größe eines Buches verschaltet und aufbereitet, über ein konventionelles Notebook ausgewertet und als Befund dargestellt (Abb. 1). 

Abb. 1: Cardiogoniometrie. Vier Elektroden in definierten Positionen sowie eine Neutralelektrode am Patienten senden Signale über einen kleinen Kasten, die mit Hilfe eines Notebooks ausgewertet und als Befund dargestellt werden. Aufzeichnung und Auswertung dauern bei einem ruhig atmenden Patienten 12 Sekunden. Foto: Enverdis GmbH, Jena
Foto: Enverdis GmbH, Jena
Abb. 2: Normalbefund oder Verdacht auf Myokardischämie? Bei der Cardiogoniometrie werden die Elektroden so platziert, dass sich das Herz zwischen den Ableitungspunkten befindet. Die Informationen erlauben eine vollautomatische Interpretation mit einer einfachen Aussage: "Normalbefund" oder "Verdacht auf klinisch relevante Myokardischämie." 

Die Aufzeichnung beim liegenden, ruhig atmenden Patienten und die Auswertung dauern nur 12 Sekunden.

Die Elektroden sind hierbei so platziert, dass sich das Herz zwischen diesen Ableitungspunkten befindet. Daraus werden virtuelle Ebenen rekonstruiert, die auf die Herzlage abgestimmt sind und zueinander senkrecht stehen (Abb. 2).

Die elektrische Aktivität des Herzens kann hierdurch gleichzeitig räumlich-dreidimensional und zeitlich ermittelt und ausgewertet werden. Sie liefert entsprechend wesentlich detailliertere Informationen, als das klassische EKG mit 12 Ableitungen darstellen kann. Trotz dieser Menge an Informationen erfolgt eine vollautomatische Interpretation mit einfacher Aussage für den Untersucher: "Normalbefund" oder "Verdacht auf klinisch relevante Myokardischämie".

Studien belegen Leistungsfähigkeit

Die Leistungsfähigkeit der CGM konnte in drei Szenarien durch Studien demonstriert werden: 2008 konnten Schüpbach und Mitarbeiter bei 793 Patienten, bei denen vor der geplanten Koronarangiographie eine CGM durchgeführt wurde, eine Sensitivität von 73% und eine Spezifität von 87% zum Nachweis einer stabilen koronaren Herzkrankheit demonstrieren. Prospektiv lag die diagnostische Genauigkeit der CGM bei 71% und damit hochsignifikant besser als die des klassischen Ruhe-EKG.

Tölg und Mitarbeiter zeigten in der 2010 durchgeführten Studie CGM@ACS an 216 Patienten mit akutem Brustschmerz ohne elektrokardiographische ST-Strecken-Hebung, dass die Cardiogoniometrie gegenüber EKG und Troponin die sensitivste und genaueste Methode zur Erkennung eines akuten Koronarsyndroms ohne ST-Hebung ist. Dies umfasst Patienten mit instabiler Angina pectoris und Nicht-ST-Hebungs-Herzinfarkten – die am schwersten zu detektierenden Herznotfälle. Das erste CGM hatte mit 69% gegenüber dem ersten EKG mit 28% eine zweieinhalbmal so hohe Sensitivität und gegenüber dem ersten Troponin mit 50% eine 1,4mal höhere Sensitivität. Wendete man zur Entscheidungsfindung bereits beim ersten Patientenkontakt gleichzeitig Troponin und CGM an, so konnte man, sofern auch nur eine der beiden Messungen pathologisch war, Patienten mit akutem Koronarsyndrom mit einer Sensitivität von 83% erkennen. Selbst bei den Patienten, bei denen EKG und Troponin nicht auffällig waren, erkannte die CGM noch zwei Drittel dieser Fälle sofort und richtig als akutes Koronarsyndrom.

2011 untersuchten Birkemeyer und Mitarbeiter 40 Patienten mit Verdacht auf koronare Herzkrankheit mit dem Goldstandard der nicht-invasiven Ischämiediagnostik, dem Stress-MRT – einer sehr aufwendigen Herzuntersuchung mit Kernspintomographie und einem medikamentösen Herzbelastungstest. Die dabei ermittelten Herz-Perfusionsdefizite und Darstellungen myokardialer Narben verglichen sie mit den Befunden der in Ruhe vorausgegangenen CGM-Untersuchung. Hierbei erzielte die CGM für den Ischämienachweis eine Sensitivität von 70% und eine Spezifität von 95% mit einem positiven Vorhersagewert von 93%. Das EKG blieb mit seiner Sensitivität in dieser Studie weit hinter der CGM zurück. Diese vielversprechenden ersten Resultate werden derzeit in der großen nationalen multizentrischen Studie CGM@MRT an 100 Patienten überprüft.

Geeignet für Screening-Untersuchungen?

Insbesondere die hohe Spezifität und der hohe positive Vorhersagewert legen die Eignung der CGM für Screening-Untersuchungen nahe. Sie könnte im präklinischen bzw. ambulanten Bereich bei Patienten mit akuten Brustschmerzen gute Diagnoseergebnisse erzielen. Insbesondere bei Kontraindikationen zum Belastungstest kann die CGM zum Einsatz kommen, wenn sich die Ergebnisse der ersten Studien an größeren Patientenzahlen bestätigen. Nach bisherigen Daten würde ein pathologischer Befund der CGM die Wahrscheinlichkeit für eine Herzkrankheit so weit erhöhen, dass in der Stufendiagnostik der stabilen koronaren Herzkrankheit eine weitere, zwischengeschaltete Ergometrie überflüssig wird. Der Patient könnte dann entsprechend der höheren Wahrscheinlichkeit entweder direkt einem bildgebenden nicht-invasiven Verfahren oder einer Herzkatheteruntersuchung zugeführt werden.


Autor

Priv.-Doz. Dr. med. habil. Ralph Tölg

Ltd. Oberarzt Herzzentrum

Segeberger Kliniken GmbH Am Kurpark 1, 23795 Bad Segeberg



Privatdozent Dr. Ralph Tölg, Bad Segeberg


DAZ: Herr Dr. Tölg, wie hoch sind die Anschaffungskosten für ein Cardiogoniometrie-Gerät?

Tölg: Der CARDIOLOGIC EXPLORER liegt bei ca. 8.000 EUR netto, wobei hierin nicht nur die Cardiogoniometrie, sondern auch ein vollwertiges, klassisches 12-Kanal-EKG mit modernster Befundinterpretation integriert ist.


DAZ: Mit welchen Kosten muss der Patient rechnen? Erstatten die Krankenkassen die Untersuchung?

Tölg: Hier muss leider unterschieden werden. Bei gesetzlich Versicherten erstattet die Krankenkasse den Aufwand nicht. Hier besteht die Möglichkeit, dies als sogenannte IGeL-Leistung direkt mit dem Patienten als Untersuchungsverfahren zu vereinbaren und von diesem den Aufwand mit etwa 26 € erstatten zu lassen. Bei Privatpatienten ist die reine Untersuchung mit knapp 37 € abrechnungsfähig, hinzu kommen noch die Abrechnung der symptombezogenen körperlichen Untersuchung und das Gespräch.


DAZ: Ist es sinnvoll, dieses Gerät, ähnlich wie Defibrillatoren am Flughafen, an besonderen Standorten zu positionieren?

Tölg: Beim Einsatz eines vollautomatischen Defibrillators handelt es sich um eine akut lebensrettende Wiederbelebungs-Maßnahme, ohne die der Betroffene zu Tode käme. Der Defibrillator ist eine akute Therapiemaßnahme, während die Cardiogoniometrie ein wertvolles diagnostisches Hilfsmittel darstellt. Schon aus diesem Grund kann man die CGM damit nicht vergleichen und auch nicht in dieser Weise einsetzen. Zudem ist die CGM trotz schneller und einfacher Anwendung nicht für den ungeschulten Laien geeignet.


DAZ: Könnte man sich denn eine Erstdiagnostik mit diesem Gerät in Apotheken vorstellen?

Tölg: Prinzipiell vorstellbar wäre es - dennoch handelt es sich ja nicht um ein Verfahren, was mit der bereits in Apotheken praktizierten Blutdruck-, Blutzucker- oder auch Blutfettmessung zu vergleichen ist. Herzerkrankungen sind noch immer die häufigste Todesursache in industrialisierten Ländern, und so sollte ein Betroffener mit Brustschmerzen auch unverzüglich seinen Arzt konsultieren. In der Diagnosestellung sollte auch immer die Bewertung der geschilderten Symptome durch einen Arztkontakt an erster Stelle stehen – und nicht allein eine automatisierte Interpretation. Ich sehe die CGM vielmehr als wertvolle Unterstützung der hausärztlich tätigen Kollegen, die oft die erste Anlaufstelle für den Patienten sind und auch sein sollen. Hier kann durch die CGM die schnelle Weichenstellung für eine effektive Weiterbehandlung erfolgen. Ich sehe die CGM beispielsweise auch als wertvolle Hilfe und Absicherung für den orthopädischen Kollegen in der Behandlung vermeintlich orthopädisch bedingter Symptome im Schulter-Oberkörperbereich.


DAZ: Herr Dr. Tölg, vielen Dank für das Gespräch!


Interview: Dr. Doris Uhl



DAZ 2011, Nr. 38, S. 80

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