Arzneimittel und Therapie

Verbesserung der Gehfähigkeit mit Fampridin

Einschränkungen der Gehfähigkeit gehören für Patienten mit multipler Sklerose zu den größten Belastungen. Mit dem Kaliumkanal-Inhibitor Fampridin (Fampyra®) steht für die Betroffenen seit September die erste zugelassene medikamentöse Therapie zur Verbesserung der Gehfähigkeit zur Verfügung.
Fampridin

Aktuellen Hochrechnungen zufolge leben in Deutschland circa 130.000 Patienten mit multipler Sklerose (MS). Multiple Sklerose ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der körpereigene Immunzellen die Schutzschicht der Nervenfasern (Myelinscheide) zerstören, so dass die Weiterleitung von Nervenimpulsen nicht mehr zuverlässig erfolgen kann. Der Erkrankungsbeginn liegt zumeist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, wobei Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer betroffen sind. Die Folgen der Autoimmunkrankheit reichen von Fatigue über kognitive Beeinträchtigungen bis zu körperlichen Behinderungen. Es existieren unterschiedliche Verlaufsformen, wobei der größte Teil der Patienten (85 Prozent) unter einer schubförmigen MS (Relapsing-Remitting MS = RRMS) leidet. Diese Form ist gekennzeichnet durch klar definierte Schübe, gefolgt von Zeiten der partiellen oder sogar vollständigen Remission.

64 bis 85 Prozent der Patienten mit multipler Sklerose berichten über Gehbehinderungen, wobei 70 Prozent davon diese Mobilitätseinschränkung als den belastendsten Aspekt ihrer Erkrankung angegeben. Sie gehen mit dem Verlust der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit sowie der Mobilität insgesamt einher, worunter die Lebensqualität der Betroffenen erheblich leidet. Um das Ausmaß der persönlichen Mobilität zu bestimmen, hat sich die Messung der Gehgeschwindigkeit mit dem Timed-25-Foot Walk (T25FW), im Gegensatz zur reinen Messung der Gehfähigkeit, am aussagefähigsten erwiesen. So gibt die Gehgeschwindigkeit den besten Aufschluss über die Gehaktivität im Alltag von MS-Patienten. Zusätzlich lässt sich auch die maximale Gehstrecke ermitteln.


Verbesserte Gehfähigkeit mit Fampridin

Mit Fampridin hat die europäische Arzneimittelbehörde EMA im Juli 2011 das erste Medikament zur Verbesserung der Gehfähigkeit erwachsener MS-Patienten mit Gehbehinderung (EDSS, Expanded Disability Status Scale, 4 – 7) zugelassen. In den beiden multizentrischen, randomisierten, placebokontrollierten Phase-III-Zulassungsstudien erzielte Fampridin bei MS-Patienten, die auf die Therapie ansprachen, eine signifikante und nachhaltige Verbesserung der Gehfähigkeit um durchschnittlich 25 Prozent. Die Wirksamkeit, die durch die signifikant höhere Geschwindigkeit im T25FW bestimmt wurde, trat bei den Respondern nach circa zwei Wochen ein und hielt über die gesamte Therapiephase an.

Nahezu jeder zweite Patient profitiert

Als Responder wurden Patienten definiert, die in mindestens drei von vier Untersuchungen unter Therapie mit Fampridin eine höhere Gehgeschwindigkeit gegenüber dem besten von fünf T25FW-Tests ohne Behandlung aufwiesen. In beiden Studien sprachen bis zu 43 Prozent der MS-Patienten auf die Behandlung mit Fampridin an. Für einen großen Teil der Patienten mit multipler Sklerose bedeutet die neue Therapie mit dem Wirkstoff Fampridin einen erheblichen Fortschritt in Richtung mehr Lebensqualität, so das Resümee der Experten Prof. Dr. Bernd Kieseier und Priv.-Doz. Dr. Mathias Mäurer auf der Zulassungspressekonferenz des Biotechnologieunternehmens Biogen Idec GmbH in Hamburg. Bisher gab es keine zugelassene medikamentöse Therapie speziell zur Verbesserung der Gehfunktion, lediglich Behandlungsoptionen für einzelne Symptome, die zu Mobilitätseinschränkungen führen, oder Rehabilitationsprogramme standen zur Verfügung.

Darüber hinaus bewirkte Fampridin unter anderem eine Zunahme der Muskelkraft in den unteren Extremitäten gemäß LEMMT-Score (Lower Extremity Manual Muscle Test) sowie eine Verbesserung der Selbsteinschätzung der Patienten hinsichtlich verschiedener Parameter zur Steh- und Gehfähigkeit gemäß MS Walking-Scale 12. Subgruppenanalysen belegten zudem, dass individuelle Erkrankungscharakteristika keinen Einfluss auf die Wirksamkeit von Fampridin nehmen: Die Verbesserung der Gehfähigkeit wurde unabhängig von der Dauer und Verlaufsform der multiplen Sklerose sowie bei bestehender Begleittherapie nachgewiesen. Fampridin kann in Kombination mit allen bestehenden Basis-/Langzeittherapeutika oder auch alleine eingenommen werden. Im Rahmen der Studien traten keine sicherheitsrelevanten Wechselwirkungen auf.

Verbesserte Weiterleitung von Aktionspotenzialen

Fampridin (4-Aminopyridin oder 4-AP) ist der erste Wirkstoff seiner Klasse. Es handelt sich dabei um einen selektiven Inhibitor spannungsabhängiger neuronaler Kaliumkanäle. Der selektive Kaliumkanalblocker erhöht die Leitfähigkeit demyelisierter Axone und führt dadurch zu einer verbesserten neurologischen Funktion. Ohne Fampridin kann die Signalübertragung aufgrund der beschädigten Myelinhülle der Nervenfaser nicht oder nur abgeschwächt erfolgen, da Kalium aus den freiliegenden Kanälen entweicht, was eine verringerte Weiterleitung von Aktionspotenzialen zur Folge hat. Fampridin blockiert diese freiliegenden Kaliumkanäle und verbessert damit die Signalübertragung. Die Aktionspotenziale werden trotz der Demyelinisierung wieder verstärkt. Fampridin wird als Tablette mit verlängerter Wirkstoff-Freisetzung angeboten und braucht daher nur zweimal täglich eingenommen zu werden (2 x 10 mg/Tag). Die Erstverordnung sollte auf zwei Wochen begrenzt sein, da ein klinischer Behandlungserfolg im Allgemeinen innerhalb von zwei Wochen nach Behandlungsbeginn erkennbar ist. Zur Beurteilung von Verbesserungen wird die Durchführung eines Gehtests mit Messung der Gehgeschwindigkeit empfohlen. Wenn keine Verbesserung beobachtet wird, sollte Fampridin abgesetzt werden.

Fampridin

Fampridin ist insgesamt gut verträglich. Die Retentionsraten lagen in beiden Phase-III-Studien über 90 Prozent. Als häufigstes unerwünschtes Ereignis traten bei etwa zwölf Prozent der Patienten Harnwegsinfekte auf. Diese wurden in den meisten Fällen aber nicht durch eine positive Kultur gesichert. Man geht hingegen davon aus, dass MS-Patienten unter Fampridin aufgrund der verbesserten Innervation verstärkt urogenitale Missempfindungen verspüren. Außerdem wurden im Vergleich zu Placebo vermehrt Schlaflosigkeit, Angstzustände, Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Parästhesien, Tremor, Kopfschmerzen und Asthenie beobachtet. Die Nebenwirkungen traten in der Regel nur vorübergehend und in geringer bis moderater Ausprägung auf. 


Apothekertin Gode Meyer-Chlond

Fampridin


Handelsname: Fampyra

Hersteller: Biogen Idec GmbH, Ismaning

Einführungsdatum: 1. September 2011

Zusammensetzung: 1 Retardtablette enthält 10 mg Fampridin. Sonstige Bestandteile: Cellulose, mikrokristalline, Siliciumdioxid, hochdisperses, Hypromellose (HST), Magnesiumdistearat, Titandioxid, Macrogol 400.

Packungsgrößen, Preise und PZN: 2 x 14 Retardtabletten, 274,18 Euro, PZN 9219711; 4 x 14 Retardtabletten, 538,70 Euro, PZN 7774058.

Stoffklasse: Neuropathiepräparate; Kaliumkanal-Inhibitor. ATC-Code: N07XX07.

Indikation: Zur Verbesserung der Gehfähigkeit von erwachsenen Patienten mit multipler Sklerose mit Gehbehinderung (EDSS 4-7)

Dosierung: 10 mg (eine Retardtablette) zweimal täglich im Abstand von zwölf Stunden (eine Tablette morgens und eine Tablette abends), auf nüchternen Magen

Gegenanzeigen: Patienten mit Krampfanfällen in der Vorgeschichte oder die gegenwärtig an Krampfanfällen leiden; Patienten mit leichter, mäßiger oder schwerer Niereninsuffizienz; gleichzeitige Behandlung mit Fampridin und Inhibitoren des organischen Kationentransporters 2 OCT2 (z. B. Cimetidin).

Nebenwirkungen: Sehr häufig: Harnwegsinfekte. Häufig: Schlaflosigkeit, Angst; Schwindel, Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörung, Parästhesie, Tremor; Dyspnoe; pharyngolaryngeale Schmerzen; Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Dyspepsie; Rückenschmerzen; Asthenie.

Wechselwirkungen: Vor gleichzeitiger Anwendung von Fampridin und Arzneimitteln, die Substrate von OCT2 sind, wie beispielsweise Carvedilol, Propranolol und Metformin, wird gewarnt.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen: Fampridin muss bei Vorliegen von Faktoren, die die Krampfanfallsschwelle herabsetzen können, mit Vorsicht angewandt werden. Fampridin wird hauptsächlich unverändert über die Nieren ausgeschieden; daher wird eine Bestimmung der Nierenfunktion vor der Behandlung und ihre regelmäßige Kontrolle während der Behandlung empfohlen, insbesondere für ältere Patienten. Fampridin ist bei Patienten mit kardiovaskulären Rhythmusstörungen und sinuatrialen oder atrioventrikulären Herzüberleitungsstörungen mit Vorsicht anzuwenden. Fampridin kann Schwindel und Gleichgewichtsstörungen hervorrufen; in den ersten vier bis acht Behandlungswochen kann das Sturzrisiko erhöht sein; die Verkehrstüchtigkeit und die Fähigkeit zum Bedienen von Maschinen werden beeinträchtigt.



DAZ 2011, Nr. 37, S. 44

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