DAZ aktuell

Der Spontankauf

Gerhard Schulze

Werbung, so lernen wir Soziologen während des Studiums, ist Teufelswerk. Sie manipuliert, verbreitet Lügen, weckt überflüssige Wünsche, entfremdet die Menschen von ihren wahren Bedürfnissen und lässt sie in einer Welt des schönen Scheins verblöden. Es gibt kein richtiges Leben im falschen: So brachte es einmal der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno auf den Punkt.

Wer Werbung produziert, mit ihr Geld verdient oder sie gar schätzt, sieht das naturgemäß anders. Erst Werbung bringt Produkte in die Öffentlichkeit und gibt ihnen eine Aura, die sie sonst nicht hätten. Bestimmte Marken, Logos, Plakate oder Werbefilme prägen das Gesicht ihrer Epoche. Gute Werbung ist Kult und Kunst. Die Werbewirtschaft sichert allein in Deutschland die Existenz von rund 550.000 Arbeitsplätzen, Zulieferbetriebe mit eingerechnet. Viele Zeitschriften und Internetportale würden ohne Werbung ökonomisch nicht überleben. Im richtigen Leben hätte Werbung keinen Platz. Im wirklichen Leben schon, und das ist auch gut so.

Was Werbung darf und was nicht, ist gesetzlich geregelt. Lügen und Irreführung sind verboten. Dennoch lässt sich die Werbewirtschaft von altgewohnten Pfaden der Manipulation nicht so leicht abbringen. Ganz auf blindes Vertrauen setzend, inszenieren zum Beispiel die Strategen des Süßwarenherstellers Ferrero ihr Erfolgsprodukt Milchschnitte als sportlich-leichte Zwischenmahlzeit, dabei enthält eine Portion davon so viel Fett und Zucker wie ein Stück Sahnetorte. Und die Verbraucher? Jeder, der schon mal eine Milchschnitte gegessen und seine fünf Sinne beisammen hat, kann sich denken, dass die zwischen zwei Teigdeckel gepresste Creme die Kalorienbilanz kräftig nach oben schraubt. Die Milchschnitte verkauft sich trotzdem gut, während die Sahnetorte langsam ausstirbt, weil sie als Dickmacher gilt.

Aber vielleicht ist ja etwas in Bewegung geraten. "Stell Dir vor", erzählte mir eine Nachbarin, "ich habe mir heute spontan eine Tube Hautcreme gekauft". Nun wäre das möglicherweise ein Fall von Manipulation, wenn nicht gerade diese Frau dafür bekannt wäre, jeden noch so kleinen Kaufimpuls erst einmal zu überschlafen, sobald er in Richtung Luxus geht oder in die Kategorie des Unnötigen fällt. Hat sie den Impuls am nächsten Tag vergessen, bestand wohl einfach kein Bedarf. Andernfalls denkt sie über einen Kauf nach. Braucht sie das Produkt? Gibt es Alternativen? Welche Erfahrungen haben andere damit gemacht? Solche Leute setzen Werbestrategen voraus, die ihre Vernunft ansprechen – das soll ja vorkommen.

"Das muss ja eine tolle Werbung gewesen sein", erwiderte ich. "Im Gegenteil", erzählte die Nachbarin weiter. "Ich war in der Apotheke und musste vor einem dieser sperrigen Pappaufsteller warten, weil viel los und sonst kein Platz mehr war".

Also hatte die Werbung gewirkt? "Ach wo", sagte meine Nachbarin, "wegen dem Aufsteller wäre ich fast wieder gegangen. Aber dann habe ich mir angeschaut, was dort bereit lag. Es waren verschiedene Hautcremes, und zu jeder gab es eine Probiertube direkt aus dem Sortiment. Das hat mich dann überzeugt. Meine neue Creme riecht gut und fühlt sich gut an. Pappaufsteller hin oder her, ich habe etwas gefunden, das mir gefällt und trotzdem bezahlbar ist, was will ich mehr?"

Frauen wie meine Nachbarin sind nicht so leicht manipulierbar. Sie zeigen jedem den Vogel, der ihnen erzählt, diese oder jene Creme zaubere Falten weg, beseitige Venenleiden, lasse Orangenhaut verschwinden, denn sie wissen: Das ist Bullshit. Auch viele Männer passen nicht mehr ins Klischee des Konsumtrottels. Im Deutschland des Jahres 2011 sollten Hersteller und Werber von nachdenklichen, erfahrenen Konsumenten ausgehen. Selbst Jürgen Habermas, der berühmteste Schüler Adornos, gestand nach einigen Jahrzehnten zu: "Die Resistenzfähigkeit und vor allem das kritische Potenzial eines pluralistischen, nach innen weit differenzierten Massenpublikums habe ich seinerzeit zu pessimistisch beurteilt."

Menschen lernen, sich im Wirrwarr von Information, Meinung und Manipulationsversuch zurechtzufinden. Auch bei Kaufentscheidungen geht es vor allem darum, in einem riesigen Arsenal ähnlicher Produkte etwas Passendes für sich zu finden, "seinem" Produkt zu begegnen. Die Apotheke ist ein idealer Ort für eine solche Begegnung. Das Publikum trifft auf bestens ausgebildetes Fachpersonal, und die Institution Apotheke ist darauf ausgelegt, Entscheidungen zu eigenen Entscheidungen zu machen. Im falschen Leben mag das keine Rolle spielen, im wirklichen Leben schon.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart. Im Februar 2011 erschien sein aktuelles Buch "Krisen. Das Alarmdilemma" im Fischer Verlag.



DAZ 2011, Nr. 31, S. 27

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.