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Blutzucker bei Typ-2-Diabetes: normnah oder nicht?

Profitieren Typ-2-Diabetespatienten von einer normnahen Blutzuckereinstellung?

Eine Diskussion zwischen IQWiG und Deutscher Diabetes Gesellschaft

Sollte für alle Typ-2-Diabetespatienten eine normnahe Blutzuckereinstellung angestrebt werden oder können zu niedrige HbA1c -Werte den Patienten sogar schaden? Im Auftrag des G-BA hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einem Rapid Report anhand verschiedener Studien versucht zu klären, ob und wie Typ-2-Diabetespatienten von einer normnahen Blutzuckereinstellung profitieren. Anfang Juli wurde der Bericht veröffentlicht. Das Fazit: der Nutzen ist unklar, einer geringeren Anzahl von tödlichen Herzinfarkten steht ein höheres Hypoglykämierisiko gegenüber. Heftige Kritik daran kam umgehend von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Im Gespräch mit der DAZ erläutert Prof. Dr. Andreas Fritsche, Pressesprecher der DDG, die Positionen. Prof. Jürgen Windeler, Leiter des IQWiG, nimmt zu den DDG-Vorwürfen Stellung.

Das IQWiG hatte zur Klärung der Fragestellung sieben randomisierte klinische Studien (Kumamoto, UGDP, UKPDS, van der Does, ACCORD, ADVANCE, VADT)mit insgesamt fast 28.000 Teilnehmern ausgewertet. Die Wissenschaftler konnten keinen Beleg dafür finden, dass Typ-2-Diabetespatienten von einer langfristigen, normnahen Blutzuckereinstellung (Nüchternblutzuckerwerte langfristig unter 126 mg/dl oder HbA1c mindestens unter 7,5%) im Hinblick auf die Gesamtmortalität, Folgekomplikationen oder eine verbesserte Lebensqualität profitieren.

Diese Schlussfolgerungen kann die DDG nicht nachvollziehen. Im Gegenteil. Zusammen mit anderen Fachgesellschaften wie der American Diabetes Association sieht sie ausreichend Belege dafür, dass eine normnahe Blutzuckersenkung für viele Patienten von Nutzen sein kann. In einer Stellungnahme attestiert sie dem IQWiG-Report gravierende Mängel, die der Diskussion um eine wissenschaftlich fundierte Diabetestherapie und damit der guten Patientenversorgung schaden würden. Zudem erwecke der Report leider auch den Eindruck, dass eine Diabetestherapie gar nicht nötig sei. Dies könne fatale Folgen haben und die Gesundheit von Patienten gefährden, so die DDG – ein für das IQWiG absurder Vorwurf (s. Stellungnahme).

Wir haben mit Prof. Dr. Andreas Fritsche, Pressesprecher der DDG und Mitautor der DDG-Stellungnahme, über den umstrittenen Rapid Report gesprochen und auch Prof. Dr. Jürgen Windeler, den Leiter des IQWiG, gebeten, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen (siehe IQWiG-Stellungnahme)


Prof. Dr. Andreas Fritsche

DAZ: Herr Professor Fritsche, die Deutsche Diabetes Gesellschaft kritisiert den Rapid Report des IQWiG massiv. Was sind die Hauptkritikpunkte?

Fritsche: Wir kritisieren zum einen die Auswahl der Studien und zum anderen eine falsche Interpretation der ausgewählten Studien. Zur Auswahl der Studien: Mit der UGDP-Studie aus dem Jahre 1970 wurde eine Uralt-Studie mit in die Auswertung einbezogen, die aus einer Zeit stammt, in der HbA1c-Ziele noch nicht zu erfassen waren, weil es noch keine HbA1c-Messung gab. Hier gingen als Zielwerte Nüchternblutzucker, Blutzuckerwerte 1,5 Stunden nach dem Frühstück und Werte nach einem Glucosebelastungstest ein. Zudem war die Therapie völlig anders als heute. Hier ließ sich kein Unterschied zwischen normnaher und nicht normnaher Blutzuckersenkung im Hinblick auf die Mortalität finden.


DAZ: In die Auswertung flossen auch die nach 2000 durchgeführten Studien ADVANCE und ACCORD ein. Gerade letztere hatte ja für Diskussionen über den anzustrebenden HbA1c-Wert gesorgt, weil hier eine zu starke Absenkung mit einer höheren Mortalität einherging...

Fritsche: Das ist richtig, und gerade zu ACCORD und ADVANCE hatte die DDG damals ausführlich Stellung genommen und die Ergebnisse in den Leitlinien berücksichtigt. In diesen Studien wurde festgestellt, dass bei älteren, langjährigen und schlecht eingestellten Typ-2-Diabetespatienten eine zu starke Senkung des Blutzuckers mit einer Polypharmakotherapie nicht vorteilhaft ist im Vergleich zu Patienten, bei denen ein nicht so niedriger HbA1c-Wert angestrebt wurde. Eine solch starke HbA1c-Wert-Senkung erwies sich in einigen Fällen sogar zum Nachteil des Patienten.

Um zu erklären, was hier passiert ist, ziehe ich gerne folgenden Vergleich: Wenn man Krebspatienten jahrelang unbehandelt lässt und sie dann einer starken, nebenwirkungsreichen Chemotherapie unterzieht, dann wird man im Hinblick auf Folgeerkrankungen und Mortalität keinen Benefit erzielen, im Gegenteil. Und genauso ist es bei über Jahre hinweg schlecht eingestellten Patienten mit Diabetes, bei denen Folgekomplikationen schon entstanden sind. Hier ist von einer starken Blutzuckersenkung kein Benefit mehr zu erwarten.


DAZ: Die drei aus dem Rapid-Report angesprochenen Studien UGDP, ADVANCE und ACCORD konnten also keinen Benefit einer normnahen Blutzuckersenkung zeigen. In der von Ihnen mitverfassten DDG-Stellungnahme zum Rapid-Report des IQWiG betonen Sie dennoch, dass es unbestritten ist, dass Typ-2-Diabetespatienten gerade im Hinblick auf Folgeerkrankungen von einer normnahen Blutzuckereinstellung profitieren können. Auf welche Studien berufen Sie sich, und warum konnte das IQWiG diesen Beleg nicht finden?

Fritsche: Das liegt, wie schon angesprochen, an der Studienauswahl. Denn die Studien, auf die wir uns berufen – und das sind insbesondere die Nachauswertungen der UKPDS-Studie – hat das IQWiG außen vor gelassen. Eingang in den Rapid-Report hat nur die Drei-Jahres-Auswertung der UKPDS-Studie gefunden. Zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich zwar Vorteile beispielsweise im Hinblick auf Folgeerkrankungen an den Nieren ab, zu Todesraten und zur Mortalität ließen sich damals verständlicherweise jedoch noch keine Unterschiede finden. Die inzwischen publizierten 10-Jahresauswertungen haben jedoch für alle patientenrelevanten Endpunkte wie Nierenschädigungen, Augenerkrankungen, Herzinfarkt und Tod Vorteile einer normnahen Blutzuckereinstellung gezeigt. Warum diese Nachauswertungen nicht berücksichtigt wurden, darüber kann ich nur spekulieren. Ich persönlich befürchte, dass es bei dieser ganzen Diskussion nicht um die Qualität der Behandlung geht, sondern um Kosten und Einsparpotenziale.


DAZ: Was muss denn Ihrer Ansicht nach das Ziel einer modernen Diabetestherapie sein? Welche HbA1c-Zielwerte sollten bei einem Typ-2-, welche bei einem Typ-1-Diabetespatienten angestrebt werden?

Fritsche: Eine optimale Diabetestherapie ist immer eine individuelle Therapie. Man kann keinen allgemeingültigen HbA1c-Zielwert für alle Diabetespatienten festlegen. Trotzdem gibt es Richtwerte. Bei einem jüngeren Diabetespatienten wird es – egal ob Typ 1 oder Typ 2 – immer wichtig sein, einen HbA1c-Wert jedenfalls unter 7,5% anzustreben, ohne dass schwerwiegende Hypoglykämien auftreten. Bei der Zielfestlegung ist immer die Diabetesdauer und das Alter zu beachten, aber auch Komorbiditäten wie beispielsweise die koronare Herzerkrankung oder neurologische Erkrankungen, bei denen Hypoglykämien besonders problematisch sind.


DAZ: Welchen Schluss sollten Diabetespatienten, die die Diskussion zum Thema normnahe Blutzuckereinstellung verfolgen, keinesfalls ziehen?

Fritsche: Der Patient, aber auch die mitbehandelnden Hausärzte, dürfen nun nicht auf die Idee kommen, dass eine Blutzuckersenkung und eine Diabetesbehandlung nicht notwendig sind. Dies hätte unabsehbare negative Folgen für die Diabetespatienten.


DAZ: Herr Professor Fritsche, wir danken Ihnen für das Gespräch!



Prof. Dr. med. Andreas Fritsche Medizinische Klinik IV Universität Tübingen Otfried Müller Straße 10 72076 Tübingen


Interview: Dr. Doris Uhl, Stuttgart


Foto: IQWiG
Prof. Dr. Jürgen Windeler

IQWiG-Stellungnahme zu den DDG-Vorwürfen


In der Stellungnahme der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zum Rapid Report "Normnahe Blutzuckersenkung" des IQWiG werden erhebliche Vorwürfe geäußert. Prof. Dr. Jürgen Windeler, Leiter des IQWiG, nimmt zu diesen Vorwürfen im Einzelnen Stellung:


Vorwurf: Die Ergebnisse der Follow-up Periode der UKPDS-Studie (2008) nicht einzubeziehen, sei falsch:

Diese Ergebnisse konnten wir nicht einbeziehen, weil die Ergebnisse nicht eindeutig interpretierbar sind. Denn nach dem Ende der Studie 1997 wurde die Randomisierung aufgehoben. Das heißt, die Teilnehmer wurden nicht so weiterbehandelt, wie es ursprünglich vorgesehen war, nämlich mit dem Ziel einer normnahen oder nicht normnahen Blutzuckersenkung. Vielmehr war die Therapie fortan beliebig. Unterschiede zwischen den Gruppen könnten also nicht mehr nur auf die jeweiligen Therapieansätze (normnah/nicht normnah), sondern auf die nachfolgende "individualisierte" Therapie zurückzuführen sein. Selbst in Meta-Analysen, an denen die UKPDS-Autoren beteiligt waren, wurden diese Ergebnisse nicht einbezogen.


Vorwurf: Die Aussage des IQWiG, dass andere Übersichtsarbeiten zu denselben Ergebnissen kommen, sei falsch, auf die Leitlinie der DDG beispielsweise träfe das nicht zu:

Zum ersten: Wir haben weitbeachtete Übersichtsarbeiten der vergangenen Jahre berücksichtigt und im Bericht unseren Ergebnissen gegenübergestellt. Beispielhaft zu nennen wären hier die Analysen von Ray und Kollegen aus dem Lancet oder von Kelly und Kollegen aus den Annals of Internal Medicine. Sie haben weitgehend die gleichen Ergebnisse errechnet wie wir in unserem Rapid Report. Dennoch kommen einige Autoren zu etwas abweichenden Einschätzungen. Das hat damit zu tun, dass manche Autoren, wenn das systematische Review kein überzeugendes Ergebnis zeigt, einzelne Studien oder Ergebnisse herausgreifen und besonders hoch gewichten. Das kann man so machen, man kommt dann allerdings zu einer anderen Einschätzung. Und es entspricht nicht dem Vorgehen des IQWiG, das sich die systematisch recherchierten Studien und die Metaanalysen anschaut und allein auf dieser Basis zu einer Einschätzung kommt.

Zum zweiten: Eine Leitlinie ist nun mal keine Übersichtsarbeit. Beide folgen unterschiedlichen Prinzipien. Dass man in einer Leitlinie zu etwas anderen Einschätzungen kommt als in einem systematischen Review, ist deshalb nicht verwunderlich. Auch der Verweis der DDG auf die American Diabetes Association überzeugt nicht: Die DDG rekurriert auf das Positionspapier von 2009. Es gibt aber ein aktuelleres Positionspapier von 2011, mit dem wir die Diskussion der Ergebnisse in unserem Bericht abschließen. Und dort empfiehlt die US-amerikanische Diabetes Gesellschaft als Therapieziel einen Wert von 7% HbA1c, niedrigere Werte seien nur für spezielle Patientengruppen in Erwägung zu ziehen, während für andere Subgruppen weniger strenge HbA1c-Werte angemessen sein können. In beiden Positionspapieren plädiert die ADA für individualisierte Therapieziele. Und die sind mit dem IQWiG-Bericht kompatibel.


Vorwurf: Der Bericht lege nahe, dass eine Diabetestherapie gar nicht nötig sei, was fatale Folgen für die Patienten haben könne:

Das ist eine absurde Behauptung. In unserem Bericht gibt es keine Aussage, die dies auch nur im Entferntesten nahelegen würde. Selbstverständlich ist eine Diabetestherapie notwendig. Es entsteht der Eindruck, dass es sich hier um einen Schnellschuss der DDG handelt, der mit den Inhalten des Berichts relativ wenig zu tun hatte. Offenbar hatte man den Bericht zu dieser Zeit noch gar nicht gelesen.


Vorwurf zum Einbezug älterer Studien:

Alte und neue Studien kommen zu keinen grundsätzlich anderen Ergebnissen. Aus den Ergebnissen im Bericht kann man ableiten, was passieren würde, wenn man die älteren Studien nicht einbezieht: Die Schlussfolgerungen blieben dieselben. Es leuchtet mir nicht ein, warum – wie die DDG sagt – man die älteren Studien herauslassen müsse, weil sie die aktuelle Versorgungsrealität nicht abbilden, man andererseits aber eine neuere Studie wie ACCORD einbeziehen soll, bei der Medikamente eingesetzt wurden, die inzwischen vom Markt genommen wurden (Rosiglitazon). Im Übrigen haben auch die Autoren anderer Übersichtsarbeiten ältere Studien einbezogen.


Vorwurf: Die Erarbeitung des Berichts habe sechs Jahre (seit 2005) gedauert. Es handle sich nicht um einen "Schnellbericht" (Prof. Andreas Fritsche im Interview mit dem British Medical Journal, Juni 2011 http://www.bmj.com/content/343/bmj.d4609.full):

Die Erstellung dieses Berichts hat keineswegs sechs Jahre gedauert. Der G-BA hatte 2005 eine ganze Reihe von Aufträgen erteilt, in denen der Nutzen nichtmedikamentöser Therapie- und Präventionsansätze bei erhöhtem Blutzucker und Blutdruck bewertet werden sollte. Das IQWiG hat die einzelnen Aufträge dieses Pakets nacheinander abgearbeitet. Aufgrund der großen Zahl von Aufträgen, die das IQWiG in den vergangenen sechs Jahren vom G-BA erhalten hat, mussten einzelne Projekte priorisiert und andere zurückgestellt werden. Diese Priorisierung nimmt das IQWiG immer in Abstimmung mit dem G-BA vor.


Prof. Dr. Jürgen Windeler


Prof. Dr. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Dillenburger Straße 27, 51105 Köln



DAZ 2011, Nr. 30, S. 53

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