DAZ-Jubiläumskongress

Wenn Gesundheit zur Ware, Patienten zu Kunden werden

Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Paul U. Unschuld, Direktor des Horst-Görtz-Stiftungsinstituts, Charité Berlin, sieht sich als Zeitzeuge eines Umbruchs im Gesundheitswesen, den es so noch nie gegeben hat. Zum ersten Mal sei in der Geschichte der Zivilisation ein Zustand erreicht worden, in dem Kranksein volkswirtschaftlich mindestens so wertvoll ist wie Gesundheit. Wenn man sich diese These aneignet, dann werden die nach fachlich ethischen Gesichtspunkten ausgebildeten Ärzte und Apotheker zum Störfaktor.
Prof. Dr. Paul U. Unschuld, Berlin

Im Rahmen des DAZ-Zukunftskongresses zum 150-jährigen DAZ-Jubiläum untermauerte Unschuld diese These, nach der Gesundheit zur Ware, Patienten zu Kunden und Ärzte zu Handlangern werden.

Deprofessionalisierung im Gesundheitswesen

Unschuld beobachtet einen Prozess der Deprofessionalisierung im Gesundheitswesen, den er am Beispiel der Ärzte erläuterte. Professionalisierung bedeute den Übergang einer Berufsgruppe aus einem Status, in dem sie ihr Wissen und Weisungen von anderen empfängt, in die Selbstständigkeit, in der sie ihr Wissen und deren Anwendung selber bestimmt. Daher stamme auch der Begriff Stand. Dies sieht Unschuld beispielsweise bei den Ärzten als nicht mehr gegeben. Sie würden ihr Wissen nicht mehr selber schaffen, dies hätten nach und nach Berufsgruppen wie beispielsweise Molekularbiologen übernommen, die andere Interessen als der Berufsstand der Ärzte verfolgen würden. Auch darüber, wie das Wissen angewendet werde, könnten Ärzte nicht mehr selbst bestimmen, ebenso wenig wie über die Vergütung der Anwendung des Wissens. Dieser gesellschaftliche Prozess einer Deprofessionalisierung kommt nach Unschuld einer Entmündigung gleich.

Vom existenziellen Staatsinteresse

Was wir heute in Europa erleben, sei das Ende einer Phase, die Ende des 18. Jahrhunderts begonnen habe, so Unschuld. Damals bildeten sich Nationalstaaten heraus, in denen der Staat ein existenzielles Interesse an einem gesunden Bürger hatte. Er benötigte ihn für seine Manufakturen und für die Industrialisierung, um konkurrenzfähig zu bleiben und er benötigte ihn für seine Volksheere. Der starke Staat war der gesunde Staat. Gesundheit, besser gesagt die Volksgesundheit, wurde Mittel zum Zweck. Das neue Denken, dass der Mensch nicht für alles, was in seinem Umfeld seine Gesundheit beeinflussen kann, verantwortlich gemacht werden kann, dass hier die Wohn-, Arbeits- und Umweltbedingungen eine wichtige Rolle spielen, dieser Blick aufs Soziale, das habe Europa stark gemacht. Nur in Europa sei daraus ein Mandat an die Ärzteschaft und auch die Apotheker erwachsen. Wie wertvoll dieses Mandat und Privileg ist, werde deshalb meist nicht gesehen, weil vielen der Vergleich zu Gesellschaften fehle, in denen es eine solche Tradition nicht gibt. Doch der Volksgesundheitsgedanke habe leider in Deutschland zur endgültigen Katastrophe beigetragen. Denn nachdem die Schädlinge, die das Individuum bedrohen, eingedämmt waren, habe sich die Volksgesundheitsidee verselbstständigt, um auch die Schädlinge zu bekämpfen, die das Volk bedrohen. Deshalb habe dieses Wort "Volksgesundheit" in unserem Wortschatz nur noch historisch eine Bedeutung.

… hin zum Selbstzweck

Heute haben wir, so Unschuld, eine völlig neue Situation. Es gebe keine Volksheere mehr, die Wehrpflicht wurde zum 1. Juli 2011 abgeschafft. Gesundheit ist wieder zum Selbstzweck geworden. Sie liegt nicht mehr im Interesse der Politik. Denn es gebe eher zu viele als zu wenige gesunde Arbeitskräfte. Wer gesund bleiben will, müsse sich selber darum kümmern. Statt von Volksgesundheit spreche man nun von Public health, was jedoch nur eine Nebensache sei.

Metamorphose zur Gesundheitswirtschaft

Aus dem Gesundheitswesen sei eine eigene Marktwirtschaft geworden, in der neue Akteure in den Entscheidungszentren sitzen. Ärzte und Apotheker würden jedoch nach wie vor ausgebildet, ihre Patienten fachlich und ethisch zu behandeln und zu beraten. Da in der Gesundheitswirtschaft jedoch Renditedenken gefragt sei, würden sowohl Ärzte als auch Apotheker an den Rand des Gesundheitswesens gedrängt. Die Gesetzlichen Krankenkassen hätten ihre ursprüngliche Rolle als Mittler zwischen Beitragszahlern und Heilkundigen aufgegeben und seien inzwischen eigenständig operierende Agenten, die einen nicht unerheblichen Teil der über die Pflichtbeiträge eingezahlten Gelder für ihre Eigeninteressen zurückbehalten. Sie hätten eigene Gewinninteressen, würden Unsummen für Werbung ausgeben und hätten bestimmte Krankheiten als "lukrativ" entdeckt. Und warum sollte man etwas Lukratives abschaffen, man befinde sich ja schließlich in der Marktwirtschaft.


Dass die Zukunft des Apothekers pharmazeutisch entschieden wird, bezweifelte Professor Unschuld im Gespräch mit DAZ-Redakteurin Dr. Beatrice Rall.

"Zielgerichtetes Verkranken von Versicherten"

Auf diese Weise erhalte zunächst Sinnvolles eine fragwürdige Absurdität, so zum Beispiel der Gesundheitsfonds mit Morbiditäts-Risiko-Strukturausgleich (Morbi-RSA), der die GKV ermuntere, ihre Patienten möglichst krank aussehen zu lassen. Er habe zu einem "zielgerichteten Verkranken der Versicherten" geführt. Es sei eine der Lebenslügen, dass Krankenkassen irgendein Interesse daran hätten, mit gesunden Patienten Kosten zu sparen. In diesem Zusammenhang zitierte er SPD-MDB Karl Lauterbach, der im Rahmen einer Rede zur Integrierten Versorgung in Hamburg im November 2008 im Zusammenhang mit dem Morbi-RSA Folgendes erklärt hat:

"Ich bringe ein Beispiel, also, wenn ich heutzutage einen Patienten versorge mit einer etwas teureren Form der Leukämie, da ist eine Knochenmarktransplantation notwendig Eine solche Krankheitsepisode kann leicht 150.000 € kosten. Für einen solchen Fall gibt es diesen Durchschnittsbetrag auch im Morbi-RSA Wenn ich aber eine solche Krankheitsepisode komplett abdecken kann für 70.000, 80.000 oder 90.000 €, dann bringt diese Krankheitsepisode der Krankenkasse einen Gewinn von mehr als 50.000 €. Wie lange muss ich einen Gesunden versichern, um diesen Betrag zu erwirtschaften? . Der HIV-Patient ist natürlich, wenn es gut organisiert wird, und es gibt einen hohen Deckungsbeitrag, ein unglaublich lukrativer Kunde. Das muss man sich mal überlegen, d. h., dieses Umdenken, das wird eine Zeit lang brauchen ..."

Früher seien Krankenhäuser dazu da gewesen, kranke Patienten zu behandeln. Heute würden die Kraft und Güte eines Krankhauses danach beurteilt wie viele Case-Mix-Punkte etc. es hat. Sinken diese Werte, sinkt auch das Einkommen und der Vorstandvorsitzende der Klinik muss sich dafür rechtfertigen.

Medizin: ein "Konsumgut"

Medizin werde zum Konsumgut. In diesem Zusammenhang zitierte Unschuld Eugen Münch, den Aufsichtsratsvorsitzenden der Rhön-Kliniken AG, mit folgenden Worten: " Ich behaupte sogar, dass Medizin im Wesentlichen ein Konsumgut ist ... Konsum lässt sich kaum mit Daseinsvorsorge umschreiben, sondern gehört zu dem, was wir mit Wirtschaft umschreiben."

Private Investoren hätten den wachsenden Gesundheitsmarkt entdeckt. Das habe weitreichende Folgen. Ärzte und Apotheker, so Unschuld, würden zunehmend das Sagen verlieren. Sie würden aus dem Zentrum der Entscheidungen, was mit dem Patienten geschieht, verdrängt zugunsten neuer Entscheidungsträger. Dass in der Gesundheitswirtschaft unsere Zukunft liegt, ist nach Ansicht Unschulds Konsens über alle Parteigrenzen hinweg. Medizinische Experten müssten sich den Interessen der Ökonomie unterordnen. Amortisation und Renditezwang ständen im Vordergrund. Das bedeute jedoch nicht, eine Renditesteigerung von 2 bis 3% wie bei einem kommunalen Klinikverbund und Reinvestition in die Klinik, sondern das Anstreben von Steigerungsraten von 7, 8, oder 11% und die Reinvestition in der Karibik. Die Abschaffung des unabhängigen Apothekers sei nur eine von selbstverständlichen Konsequenzen. Ebenso zwangsläufig ist nach Unschulds Ansicht die Forderung nach Apothekenketten.

Verlust des Vertrauens – Ende einer Epoche

Der Preis, der von der Gesellschaft in einer Gesundheitswirtschaft zu zahlen sei, sei der Verlust des Vertrauens, ein Vertrauen, das es in anderen Volkswirtschaften, beispielsweise in China, nie gegeben habe. In Europa habe man lange Zeit eine Situation des Vertrauens gehabt, begründet in dem Mandat und auch den Privilegien, die den Standesberufen Arzt und Apotheker gegeben waren. Dies sei vorbei. Denn in der "Krankheitswirtschaft" könne sich niemand mehr sicher sein, ob die Empfehlung beim Arzt, im Krankenhaus oder wenn der Staat sage "gegen Schweinegrippe impfen" aus Rendite- oder medizinisch-fachlichen Erwägungen erfolge. Die Menschen hätten das schon verstanden, wie die Impfmüdigkeit gerade im Zusammenhang mit der Schweinegrippe gezeigt habe. Es gebe keine Gewissheit mehr, dass der Arzt, die Kliniken oder der Staat den Kriterien bester medizinischer Versorgung folgen. Für Unschuld ist eine Epoche beendet.


du

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