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Sarrazins Welt

Deutschland – quo vadis? Diese Frage könne auch er nicht beantworten – so Thilo Sarrazin, der als Festredner zum Fortbildungskongress der Bundesapotheker in Meran eingeladen war. Der Volkswirt, Ex-Finanzsenator von Berlin, Ex-Bundesbanker ist mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" Autor eines gigantischen Bestsellers (verkaufte Auflage bisher 1,25 Mio.). Er wird bewundert und kritisiert, verehrt und verachtet, runter und hoch geschrieben, angefeindet, interpretiert zuweilen wohl auch fehlinterpretiert. Aber auch nach seinem Festvortrag beim BAK-Kongress in Meran bleibt die Person schillernd.
Foto: DAZ/ck
Thilo Sarrazin hielt in diesem Jahr den Festvortrag beim Pharmacon Meran - was im Vorfeld heftige Diskussionen ausgelöst hatte.

Anderes war nicht zu erwarten. Die Zustimmung, auf die Sarrazin trifft, stützt sich – nach seiner eigenen Einschätzung – auf "die breite Mitte der Bevölkerung". Aber von nahezu der gesamten politischen Klasse in Deutschland wird er – zu recht oder zu unrecht – nach wie vor parteiübergreifend scharf abgelehnt. Das gilt erst recht für den Großteil der Intellektuellen und große Teile der veröffentlichten Meinung. Dies machte seine Einladung zum Festvortrag nach Meran (!) für die Apotheker politisch hoch riskant – und zwar unabhängig von der Frage, ob seine Analysen und Thesen nun zutreffen oder nicht. Können wir es uns leisten, darüber nonchalant hinwegzusehen? Das Ansehen unserer Berufsvertretung bei den Medien und in der Politik ist derzeit denkbar schlecht. Angesichts der Situation in den Apotheken und im Hinblick auf Vorhaben des Gesetz- und Verordnungsgebers sind wir eigentlich darauf angewiesen, potenzielle Verbündete nicht zu verprellen. Wir müssen damit rechnen, dass der prasselnde Beifall, mit dem Sarrazin in Meran verabschiedet wurde, auch in Berlin gehört wird. Ist seine Welt wirklich unsere?

Sarrazin ist kein glänzender Redner. Vielleicht auch deshalb wirkt er mündlich (live) weniger emotionalisierend als wenn andere über ihn schreiben, distanzierter auch als etliche Passagen in seinem Buch. Er beschreibt Trends, wie sie sich ihm aufgrund unserer jüngeren Vergangenheit darstellen: Die Bevölkerung in Deutschland schrumpft, sie altert, wird weniger intelligent ("dümmer") und zunehmend durch Migration geprägt. Solche Trends könne man ändern, wenn man sich den Inhalten hinter den Zahlen zuwende. Ohne Eingriffe würden sich, so Sarrazin, durch das Zusammenwirken der beschriebenen Trends die Lebensbedingungen in Deutschland innerhalb der nächsten Generationen radikal ändern. Ohne Eingriffe? Diese Prämisse ist allerdings wenig realistisch. Trends sind keine Naturgesetze. Gesellschaften reagieren auf Bedrohungen – manchmal zu zaghaft, zu träge: zugegeben. Aber immerhin, sie reagieren. Das beeinflusst Trends. Es schwächt sie ab. Trotzdem: Es kann Verlierer geben und Gewinner. So war es immer in der Geschichte.

Niemand bestreitet: Die deutsche Bevölkerung schrumpft massiv. In Frankreich, einem in vielem vergleichbaren Land, ist das gleiche Phänomen nur sehr gering ausgeprägt. Unsere Gesellschaft altert: auch richtig. Ältere sind Neuem gegenüber oft weniger aufgeschlossen, selbst auch weniger innovativ. Mentalitäten und Machtverhältnisse verschieben sich. Aber wird unsere Gesellschaft auch "dümmer"? Sarrazin leitet das daraus ab, dass der Rückgang der Kinderzahl (durchschnittlich 1,3 bis 1,4 je Frau) bei Frauen mit niedriger Bildung (ohne Berufabschluss: im Schnitt 1,83 Kinder) sehr viel geringer ist als bei Frauen mit höherer Bildung (Uniabsolventinnen im Schnitt 1 Kind). Der Bildungserfolg spiegelt sich im Lebensverlauf wider und das Bildungsverhalten der Eltern übertrage sich in der Regel auf die Kinder. Hinzu komme, dass die Intelligenz, die ein Kind beim Lernen einsetzen könne, unbestritten zumindest zum Teil (Sarrazin: zu 50 bis 80%) genetisches Erbe seiner Eltern ist. Auffällig sei, dass in Deutschland nur noch eine Minderheit der Abiturienten das Rüstzeug für ein mathematisch-naturwissenschaftliches oder technisches Studium mitbringe – für Studiengänge also, an denen der wissenschaftlich-technische Fortschritt hänge. Die Leistungsabschwächung in diesem Bereich erfasse nicht nur die oberen Bildungsklassen. Und sie vollziehe sich nicht nur in Deutschland.

Zum Thema Migration meinte Sarrazin, Einwanderung habe es immer gegeben und es sei gut, wenn es Ländern (z. B. den USA oder Kanada) gelinge, High-Potentials anzuziehen. Die USA kompensierten damit, dass sie im PISA-Vergleich immer "grottenschlecht" abschnitten. Auffällig sei, dass sich die mathematisch-naturwissenschaftliche Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Einwanderungsgruppen erheblich unterscheide. Bei 15-Jährigen seien Chinesen, Vietnamesen und Inder auf diesem Feld zwei Schuljahre weiter als der Durchschnitt; Türken, Marokkaner und Pakistani lägen zwei Jahre unter dem Durchschnitt. Anders als ihm unterstellt werde, glaube er nicht, dass ethnische Unterschiede dabei bestimmend seien. Der drastische Unterschied zwischen Indern und Pakistani sei dann nicht zu erklären. Sarrazin sieht die Erklärung im kulturellen Hintergrund des Islam. Er setzte der Gestaltungsfähigkeit Grenzen. Deshalb stünden Menschen mit muslimischem Hintergrund, was Bildung und Wohlstand angeht, in vielen Ländern schlechter da als andere Bevölkerungsgruppen. Den wachsenden muslimischen Minderheiten in Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz "nordeuropäische Mentalitäten anzuerziehen", hält Sarrazin für aussichtslos. Wenn die Unterschiede in der Nettoreproduktionsrate zwischen der deutschen Bevölkerung und muslimischen Zuwanderern so bleibe, werde in drei Generationen die heutige Mehrheitsgesellschaft zur Minderheitsgesellschaft. Das sei nicht seine Prognose, sondern "pure Mathematik": das Ergebnis von Modellrechnungen.

Trotz des ungeheuren Erfolges seines Buches und trotz der Resonanz, die er damit in der Medienwelt erzielt hat, fühlt sich Sarrazin von eben dieser Medienwelt schlecht behandelt. Eine Mehrheit der Medienschaffenden lasse sich von einem "code of thinking" steuern, der seiner Ansicht nach von Vorurteilen und Emotionen gespeist wird. Dass er selbst von Vorurteilen und Emotionen nicht ganz frei sein könnte – diese Vermutung liegt durchaus nah, auch nach seinem Vortrag in Meran. Die Diskussion darüber wird uns so leicht nicht loslassen. Das zumindest hat Sarrazin erreicht.


Klaus G. Brauer



DAZ 2011, Nr. 22, S. 24

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