Management

Der Apotheker als Vorbild

"Shifting baselines" – und was sie für die Mitarbeiterführung bedeuten

Shifting baselines – damit ist gemeint: Was gestern als unnormal und außergewöhnlich galt, beurteilen wir heute als normal – und umgekehrt. Was jedoch hat das mit der Mitarbeiterführung zu tun?

Warum herrscht in der einen Apotheke ein Klima des Vertrauens, das sich in dem partnerschaftlichen Umgangston zwischen dem Apotheker und den Mitarbeitern niederschlägt? Was sich dann auch in den Kundenbeziehungen des Apothekenteams manifestiert, die durchweg partnerschaftlich organisiert sind?

Anderes Beispiel: Im Mitarbeitergespräch formuliert der Chef in der einen Apotheke selbst konkrete und eilige Anweisungen in einem kooperativen Duktus: "Frau Müller, sind Sie bitte so freundlich und beraten den Kunden im Frei- und Sichtwahlbereich? Er hat es etwas eilig und darum müssen wir jetzt sofort " Während es in der anderen Apotheke auch diesbezüglich ganz anders zugeht – rau, autoritär, sachlich, neutral, unpersönlich. Natürlich, dies muss nicht zwangsläufig eine negative Bedeutung für die Beratungsqualität und Kundenorientierung haben. Zuweilen jedoch bemerkt der Kunde schon beim Betreten der Apotheke eine gedrückte Stimmung.

Shifting baselines: Wie sich Grenzen unmerklich verschieben

Die Gründe für die unterschiedlichen Atmosphären in den Apotheken sind vielfältig. Wenn sich aber erst einmal ein bestimmtes Betriebsklima ausgebildet hat, scheint es schwierig zu sein, eine Änderung herbeizuführen. Neue Mitarbeiter zum Beispiel passen sich rasch den Gepflogenheiten ihrer Arbeitsumgebung an und übernehmen den partnerschaftlichen oder den autoritären Umgangsstil.

Oft werden solche Prozesse und Abläufe von dem Apotheker nicht bewusst wahrgenommen. Wer aber das Betriebsklima verbessern will – auch im Sinne harmonischerer Kundenbeziehungen, die von Vertrauen und Kooperation bestimmt sind – muss sich mit diesen Prozessen und den Gründen für jene unterschiedlichen Atmosphären auseinandersetzen.

Eine Möglichkeit dazu bietet die Beschäftigung mit den shifting baselines. Der Philosoph und Autor Richard David Precht erläutert in seinem Buch "Die Kunst, kein Egoist zu sein", was darunter zu verstehen ist: Es handelt sich um Phänomene, bei denen sich unmerklich eine Grenze verschiebt. Ein Beispiel sind die Vorkommnisse im japanischen Fukushima: Unter dem Eindruck der Atomkatastrophe hat sich die Grenze dessen, was wir energiepolitisch für vertretbar halten, rasant verschoben.

Mit einfachen Worten ausgedrückt: Was gestern als unnormal und außergewöhnlich galt, beurteilen wir heute als normal – und umgekehrt. Precht nennt weitere einleuchtende Beispiele, etwa den Schutzfaktor von Sonnenmilch. Wer alt genug ist, erinnert sich: Vor knapp 30 Jahren reichte ein Faktor von zwei bis sechs. Heute – nach unendlichen Diskussionen zu den Themen Klimawandel und gefährliche Sonneneinstrahlung – sind Schutzfaktoren von 20 bis 30 üblich, es gibt Cremes mit Schutzfaktor 50 und mehr. Precht schreibt dazu: "Dass die Sonneneinstrahlung zugenommen hat, nehmen wir längst als Fügung hin. Was wir früher für besorgniserregend gehalten haben, halten wir inzwischen längst für normal. Und wo der Schutzfaktor zehn früher als hoch galt, gilt er heute als niedrig."

Die shifting baselines und die Mitarbeiterführung

Was haben die shifting baselines mit der Mitarbeiterführung zu tun? Welche konkreten Hinweise für die Führungsarbeit ergeben sich für den Apotheker? Zunächst einmal sollte er sich in seiner Funktion als Apotheker und vor allem als Führungskraft immer wieder vor Augen halten, dass er als Vorbild wirkt.

Natürlich: Das ist keine neue Einsicht, die shifting baselines sind jedoch geeignet, nochmals den Zusammenhang zu verdeutlichen: Wenn der Apotheker seinen Mitarbeitern freundlich und zuvorkommend begegnet und den partnerschaftlich-kooperativen Führungsstil pflegt, Anweisungen begründet und Entscheidungen erklärt, werden die Mitarbeiter mit einiger Wahrscheinlichkeit ähnlich reagieren. Und das gilt für alle Ebenen, auf denen sich Menschen begegnen – im Team, im Meeting, im Gespräch mit dem Chef, und auch im Kundengespräch.

Bei Precht heißt es: "Gruppenverhalten und shifting baselines gehören häufig eng zusammen. () Wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen kooperieren, dann ist die Kooperation jedes einzelnen hoch; wenn der Glaube vorherrscht, dass die anderen nicht kooperieren, dann kooperiert tatsächlich keiner." Das bedeutet für den Apotheker: Wenn er die partnerschaftlich-kooperative Haltung vorlebt, wird er auf Mitarbeiterseite Nachahmer finden, ja, sogar bei Personaleinstellungen eher Bewerber anziehen, die wie er auf Kooperation und Partnerschaftlichkeit im Umgang setzen.

Die Führungskraft setzt sozusagen den Rahmen, innerhalb dessen die Kommunikation abläuft. Wer seine Mitarbeiter des Öfteren sogar anschreit, muss damit rechnen, dass diese im Kundengespräch eher unwirsch und wenig kundenorientiert agieren.

Mitarbeiterindividuelle Führung

Vielleicht sollte ein Apotheker noch einen Schritt weitergehen und darauf achten, mit verschiedenen Mitarbeitern verschieden zu kommunizieren, also seinen Kommunikationsstil konsequent auf den Gesprächspartner auszurichten – dies gilt übrigens wiederum auch für das Kundengespräch. Denn bei der Mitarbeitermotivation zum Beispiel wird er mehr erreichen, wenn er seine Argumentation konsequent auf die Persönlichkeitsstruktur des Gesprächspartners abstimmt. Dem dominanten Mitarbeiter etwa billigt er mehr Eigenverantwortung zu, dem kreativen Mitarbeiter räumt er neue Gestaltungsspielräume ein.

In diesem Zusammenhang sei noch einmal Richard David Precht zitiert – er nennt einen weiteren Fall von shifting baselines, nämlich die Überzeugung: "Wenn die anderen gegen die guten Sitten verstoßen, dann tue ich das auch." Für den Apotheker heißt das im Umkehrschluss: Er verdeutlicht seinem Team wo immer möglich seine Führungsgrundsätze, damit alle verlässlich und nachvollziehbar erkennen können und wissen, nach welchen Prinzipien die Zusammenarbeit in der Apotheke abläuft. Jeder Mitarbeiter kann so einschätzen, woran er ist. Und in einem Klima der Verlässlichkeit können die Teammitglieder und auch die Chefs ihre Potenziale eher entfalten und zum Beispiel Kundenfreundlichkeit und Qualitätsorientierung leben.

Nach dem Gesetz der shifting baselines setzt sich nun ein selbst verstärkender Prozess in Gang: Die Apothekenmitarbeiter beobachten, dass ein Klima des Vertrauens und der Verlässlichkeit existiert, und setzen diesbezüglich eine hohe Erwartungshaltung an. Das Gefühl dafür, was als Vertrauensklima bezeichnet werden kann, verschiebt sich immer weiter nach oben – bereits kleinere Vertrauensverstöße werden darum negativ be- und schließlich verurteilt.

Nochmals sei betont: Das Gesetz gilt auch mit umgekehrtem Vorzeichen. Herrscht Misstrauen vor, werden sich die Apothekenatmosphäre und das Betriebsklima immer mehr in diese eher destruktive Richtung entwickeln. Es kommt also sehr auf den Apotheker an, es liegt in der Hand der Führungskraft als Vorbild, wohin das Pendel ausschlägt.


Dr. Michael Madel, freier Autor und Kommunikationsberater



AZ 2011, Nr. 45, S. 6

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