Gesundheitspolitik

Menschenverachtend

Klaus G. Brauer

Man muss nicht generell und pauschal gegen Rabattverträge sein – aber was die AOK und manche ihrer Vertragspartner sich dabei leisten, geht wirklich auf keine Kuhhaut. Zumindest so, wie die AOK ihre Rabattverträge handhabt, sind sie unerträglich. Die größte deutsche Kasse schließt offensichtlich sehenden Auges Verträge mit Unternehmen, die noch lange nach Vertragsstart gar nicht in der Lage sind, die benötigten Mengen zu liefern. Die AOK weiß das – sie hat ihren Vertragspartnern sogar explizit eingeräumt, dass sie erst 3 bis 4 Monate nach Vertragsbeginn lieferfähig sein müssen. Das ist Zynismus pur – menschenverachtender Zynismus.

Führen wir uns die Situation vor Augen: Sein gewohntes Arzneimittel kann der AOK-Patient nicht mehr erhalten, weil die AOK das exklusive Lieferrecht einem neuen "Hersteller" zugeschanzt hat. Der kann jedoch nicht liefern – manchmal überhaupt nicht, manchmal nur in Mengen, die den Bedarf nur zu einem Bruchteil decken. Der Patient erhält deshalb eines der nach den Substitutionsregeln erlaubten Ersatzarzneimittel – allerdings nur solange, bis der neue Vertragshersteller mal wieder lieferfähig ist. So geht es hin und her. Das ist vertraglich erzwungenes Arzneimittel-Hopping. Dass dabei massive Compliance-Probleme auftreten, ist nur zu verständlich.

Alles nur Einzelfälle? Mitnichten! Nicht nur Betapharm konnte (bzw. kann) Vertragsarzneimittel monatelang nicht liefern, besonders krass ist die Situation z. B. bei Dexcell. Wir haben Zahlen eines Großhandels angeschaut: Von 1,27 Mio. Packungen (Amlodipin Dexcell, Losartan HCT und Metformin Atid in allen Größen und Stärken), die zwischen Juni und September bestellt wurden, konnte Dexcell nur 288.000 liefern. Die Lieferquote lag im Juni bei 41%, im Juli bei 24%, im August bei 9% (!) und im September – bisher – bei 28%.

Das ist eine Zumutung – für die Patienten zuallererst, aber auch für die Apotheken. Ausreden ziehen nicht: Die benötigten Mengen waren genau vorhersehbar, da die AOK Exklusivverträge abschließt – die Versorgung ihrer Versicherten also fahrlässig von jeweils nur einem Anbieter abhängig macht. Es muss zudem endlich vertraglich oder gesetzlich klargestellt werden: Das Startzeichen für die Umsetzung eines Rabattvertrages darf erst gegeben werden, wenn die betroffenen Arzneimittel auch wirklich nachhaltig lieferbar sind.

Um die Dreistigkeit auf die Spitze zu treiben, hat Dexcell angekündigt, zusätzlich zu dem Ärger und dem Mehraufwand, der den Apotheken und dem Großhandel zugemutet wird, auch noch eine massive Skontokürzung durchsetzen zu wollen. Das trifft unmittelbar den Großhandel, ist aber letztlich ein Angriff auf die Apotheken.


Klaus G. Brauer



AZ 2011, Nr. 39, S. 1

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