Wirtschaft

Soziale Sicherheit – in 1805 Paragrafen gegossen

Am 30. Mai 1911 verabschiedete der Reichstag die Reichsversicherungsordnung

(leo). Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Sozialgesetzbuch ist sie – vom Umfang her gesehen – das drittgrößte deutsche Gesetz, die Reichsversicherungsordnung, abgekürzt RVO. Vor 100 Jahren, am 30. Mai 1911 wurde die Kodifikation vom Reichstag verabschiedet und am 19. Juli des gleichen Jahres im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Für das Gesetz hatten 232 Abgeordnete gestimmt, dagegen 58, unter anderem die Sozialdemokraten.

Überlegungen, die zur RVO führen sollten, hatten schon bald nach der Jahrhundertwende eingesetzt. Wenn auch mit der "Erstlingsgesetzgebung" der Jahre 1883 bis 1889, die nacheinander Kranken-, Unfall- und Alters- bzw. Invalidenversicherung geschaffen hatte, große Not gelindert worden war, konnte es nicht ausbleiben, dass sich bei der Neuartigkeit der Gesetzgebung im Laufe der Jahre Mängel zeigten. Die zunehmende Industrialisierung trug ihren Teil dazu bei. Auch bot die Versicherung in der Vielheit der Gesetze, der Gestaltung im Einzelnen und der Organisationsformen ein nur schwer zu überschauendes Gebilde.

Im Rahmen von Reformbestrebungen bildeten sich drei große Richtungen heraus: Eine Gruppe war für die Zusammenlegung aller drei bisherigen Versicherungszweige zu einer Einheitsversicherung. Eine andere Gruppierung wollte die Krankenversicherung an die Invaliditäts- und Altersversicherung angegliedert wissen und wiederum andere Kreise strebten eine Zusammenfassung der Altersversicherung mit der Unfallversicherung an. Letztlich setzte sich die Auffassung durch, die für getrennte Versicherungszweige in einem Gesetz votierte.

RVO – rund 300 Mal geändert

Ein erster Entwurf wurde im Jahr 1909 vorgelegt. Der Name "Reichsversicherungsordnung" wurde, wie in der Amtlichen Begründung nachzulesen ist, gewählt, "weil es sich um eine allseitige, umfassende Ordnung der sozialen Versicherung handelt, auch nach der Seite der Verwaltung hin". Das Gesetz wahrte im Wesentlichen in sechs Büchern mit 1805 Paragrafen die Grundlagen des bisherigen Rechtszustandes und beließ es bei der Selbstständigkeit und Organisation der drei Versicherungszweige. Von der ursprünglichen Substanz der RVO ist heute allerdings fast nichts mehr übrig. Rund 300 Gesetzesänderungen musste die Reichsversicherungsordnung im Laufe der Jahre und Jahrzehnte über sich ergehen lassen. Zudem sind zahlreiche Bereiche des sozialen Lebens heute in anderen Gesetzen enthalten. Der größte Teil der Bestimmungen hat Eingang in das Sozialgesetzbuch (SGB) gefunden, das die RVO weitestgehend abgelöst hat und seit dem Jahre 1976 nach und nach in Kraft getreten ist. Dieses auf 14 Bücher konzipierte Gesetzeswerk, von dem bisher zwölf Bücher gelten, hat keine grundsätzlich neue Sozialgesetzgebung eingeleitet. Vielmehr wurde an Bestehendes und Bewährtes angeknüpft – auch und gerade an die RVO.

Heute: Wenig RVO und viel SGB

Von der RVO sind heute noch 24 Paragrafen in Kraft, vor allem Bestimmungen über Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, aber auch das Dienstordnungsrecht der Krankenkassen und Regelungen über Kassenverbände und Sektionen. Wann der Gesetzgeber sich dazu entschließt, diese Vorschriften in das SGB zu übernehmen, lässt sich derzeit nicht absehen.

Die RVO brachte im Zeichen der fortschreitenden Industrialisierung in Deutschland nicht nur eine Einheitlichkeit des Verfahrens in der Zuständigkeit; sie dehnte auch die Versicherungspflicht in allen drei Zweigen aus und erweiterte teilweise die Leistungen. Eine umso höher zu bewertende Tatsache, wenn man bedenkt, dass nach der Jahrhundertwende nur zehn Millionen Menschen – etwa 18 Prozent aller Einwohner des damaligen Deutschen Reiches – gesetzlich krankenversichert waren. In der Unfallversicherung waren vor dem Inkrafttreten der RVO nur die Beschäftigten in den großen und gefährlichsten Betrieben, etwa 16,5 Millionen Arbeitnehmer unfallversichert. Die Invalidenversicherung verzeichnete zwölf Millionen Versicherte, wobei die Hinterbliebenenversorgung damals noch nicht gesetzlich verankert war, vielmehr erstmals in die RVO aufgenommen und organisatorisch mit der Invalidenversicherung verbunden wurde.

In der gesetzlichen Krankenversicherung, geregelt im Zweiten Buch der RVO, finden sich Bestimmungen darüber, ob jemand zum versicherungspflichtigen Personenkreis gehört oder versicherungsfrei ist, einer Krankenkasse freiwillig beitreten kann, Krankengeld, Krankenhauspflege, Sterbegeld oder andere Leistungen erhält oder in Anbetracht eines freudigen Ereignisses Mutterschaftsleistungen bezieht. Die Feststellung, dass die RVO den Menschen "von der Wiege bis zur Bahre" begleitete, war bei dem breit gefächerten Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übertrieben. Auch die jeweiligen Kassenarten, z. B. Orts-, Betriebs-, Innungskrankenkassen und Ersatzkassen sowie die Zuständigkeit im Einzelfall fanden im Gesetz ihren Niederschlag. Dabei griff die RVO auch entscheidend in die Organisation der Krankenkassen ein und beseitigte in einer Art "Flurbereinigung" die damals noch bestehende Gemeindekrankenversicherung mit rund 8500 Kassen. Gesetzlich geregelt wurden auch die rechtlichen Beziehungen zu Kassenärzten, Kassenzahnärzten, Krankenhäusern, Apotheken und Hebammen.

In der gesetzlichen Unfallversicherung, die ihren Niederschlag im Dritten Buch fand, wurde der versicherungspflichtige Personenkreis geringfügig erweitert und die Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze der Betriebsrenten bis zu einem Jahresverdienst von 5000 Mark vorgenommen. Ansonsten erfolgten systemkonforme marginale Änderungen und Anpassungen an gewandelte Verhältnisse.

Auch in der Invalidenversicherung (im Vierten Buch) erweiterte die RVO den Kreis der versicherungspflichtigen Personen. Allen Versicherungspflichtigen und Versicherungsberechtigten wurde das Recht eingeräumt, zu jeder Zeit und in beliebiger Zahl Zusatzmarken zur Erzielung einer Zusatzrente für den Fall der Invalidität zu entrichten. Als Grenze für den Bezug einer Altersrente wurde das 70. Lebensjahr festgesetzt. Gegenstand der Versicherung waren Invalidenrente, Altersrente, als Nebenleistungen Witwen- und Waisengeld sowie die Hinterbliebenenrente.

Der umfassenden Kodifikation, die in sechs Büchern mit ursprünglich 1805 Paragrafen die "Erstlingsgesetzgebung" zusammenfasste und einen wesentlichen "Meilenstein" auf dem Weg zu einer umfassenden und modernen Sozialgesetzgebung bildete, war leider kein glücklicher Start beschieden. Schon bald nach dem vollständigen Inkrafttreten der RVO brach der Erste Weltkrieg (1914 bis 1918) aus. Niemand hatte bei den parlamentarischen Beratungen zu dem Gesetz an Krieg oder kriegsähnliche Verhältnisse gedacht. Gleichwohl, und dies zeigt die Güte der RVO, wurde sie lange Zeit auf der Welt als das fortschrittlichste und beste Sozialgesetz bezeichnet – trotz folgender Kriegswirren, Inflation, Währungsverfall, Preisanstieg und wachsender Arbeitslosigkeit.



AZ 2011, Nr. 20, S. 4

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.