Wirtschaft

"Individuelle Gesundheitsleistungen" als Verkaufsschlager

IGeL-Umsätze der Ärzte erreichen inzwischen 1,5 Milliarden Euro

(leo/az). Immer öfter behandeln niedergelassene Vertragsärzte ihre Patienten gegen Rechnung. Mehr als jedem vierten Versicherten (28,3 Prozent) der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) haben sie binnen Jahresfrist eine Leistung "verkauft", für welche die einzelnen Krankenkassen (AOK, Betriebs- und Innungskrankenkassen, Ersatzkassen, Knappschaft und Landwirtschaftliche Krankenkassen) nicht aufkommen.

Die Zusatzeinnahmen aus den "Individuellen Gesundheitsleistungen" – besser bekannt unter der Abkürzung IGeL – belaufen sich nach einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) inzwischen auf 1,5 Milliarden Euro. Dies bedeutet gegenüber 2008 eine Steigerung um 50 Prozent. Für die Studie waren 2500 repräsentativ ausgewählte Personen aller gesetzlichen Krankenkassen befragt worden.

Für die Mediziner werden die IGeL-Leistungen nach Angaben aus Ärztekreisen zunehmend wichtiger, vor allem aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen; denn unter dem Eindruck des zunehmenden Kostendrucks stellen diese Leistungen ein willkommenes "Zubrot" dar. Mehr als die Hälfte aller niedergelassenen Ärzte glaubt inzwischen, dass ihre Praxis auf Dauer ohne IGeL und Privatpatienten nicht durchhalten kann.

"Verkaufsraum für Gesundheitsleistungen"

Dass diese Leistungen zu einem immer größeren Geschäft für die Ärzte werden, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Verkaufstrainer inzwischen ganze Praxisteams schulen. Als Ziel dieser Maßnahmen steht dabei im Vordergrund, möglichst viele Zusatzleistungen zu verkaufen. Ein Verkaufstrainer argumentiert: "Ärzte müssen deshalb kein schlechtes Gewissen haben; denn wirtschaftlicher Erfolg sichert auch die therapeutische Handlungsfreiheit." Der Wandel von der klassischen Arztpraxis hin zu einem "Verkaufsraum für Gesundheitsleistungen" ist in vollem Gang und nicht mehr aufzuhalten. WldO-Geschäftsführer Jürgen Klauber stellt in diesem Zusammenhang fest: "Ärzte werden offenbar auch als Verkäufer immer besser."

Im Mittelpunkt: drei Leistungsgruppen

Insbesondere Gutverdiener unter den Krankenkassen-Patienten nehmen die Ärzte ins Visier. Der WIdO-Studie zufolge berichteten 38,8 Prozent der Versicherten mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von mehr als 4000 Euro, dass ihr behandelnder Arzt ihnen eine Zusatzleistung angeboten hat. In der Einkommensgruppe unter 1000 Euro Monatslohn waren es hingegen nur 16,9 Prozent. Gleichwohl weigert sich so mancher Arzt, seinen Patienten mehr oder weniger zweifelhafte Diagnoseverfahren und Therapien aufzudrängen. Und der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, der über den Ausschluss von Leistungen entscheidet, sagt lapidar: "IGeL sind sinnvoll, aber nicht notwendig."

Die meisten individuellen Gesundheitsleistungen entfallen auf Ultraschall-Untersuchungen (Sonografien) mit 20 Prozent, gefolgt von Vorsorgeuntersuchungen gegen den Grünen Star (16,2 Prozent) und auf die Verordnung von Heilmitteln (11,5 Prozent). Auf diese drei Leistungsgruppen entfällt fast die Hälfte aller IGeL-Angebote. Doch die "Extras" der Ärzte reichen von sportmedizinischen Untersuchungen und reisemedizinischer Beratung über alternative Behandlungsmethoden wie Sauerstofftherapie, Homöopathie und Aufbauspritzen bis hin zur Messung der Knochendichte oder bestimmter Blut- und Laborleistungen. Ein verbindliches IGeL-Verzeichnis mit entsprechenden Bewertungen als Orientierungshilfe der mehr als 300 Angebote gibt es bis heute nicht.

Je nach Fachrichtung vermarkten die Ärzte die privaten Zusatzleistungen unterschiedlich intensiv. An der Spitze liegen die Augenärzte und Gynäkologen. Sie bieten IGeL sechs- bis siebenmal so häufig an wie etwa Allgemeinmediziner. Es folgen Urologen, Orthopäden und Hautärzte, die IGeL ihren Patienten im Vergleich zum Durchschnitt der Allgemeinärzte viermal so oft vorschlagen. Besonders bedenklich ist aus WIdO-Sicht: Die im Bundesmantelvertrag-Ärzte geforderte schriftliche Vereinbarung von Privatleistungen an Krankenkassen-Mitglieder wurde nur in 54,4 Prozent aller Fälle unterschrieben; jede siebte Privatleistung kam sogar ohne Rechnung zustande.

Der Arzt hat einige wichtige Regeln zu beachten

Doch für die Rechnungsstellung gelten seit Jahren klare Regeln: Ärztinnen und Ärzte dürfen eine Behandlung nur dann privat in Rechnung stellen, wenn der Patient zuvor auf die Pflicht zur Kostenübernahme hingewiesen wurde und dem schriftlich zugestimmt hat. Die Vereinbarung zwischen Arzt und Patient muss folgende Punkte enthalten:

  • Jede einzeln vereinbarte Leistung mit Angabe der entsprechenden Kennziffer der Ärztlichen Gebührenordnung und des angewandten Steigerungssatzes,

  • die voraussichtliche Honorarhöhe,

  • die Erklärung der Patientin oder des Patienten, dass sie bzw. er darüber aufgeklärt wurde, dass die Behandlung nicht zum Leistungskatalog der GKV gehört, nicht über die Krankenversichertenkarte (Chipkarte) abgerechnet werden kann und kein Anspruch auf Erstattung der Kosten durch die Krankenkasse besteht.

Unzulässig sind pauschale Honorare, ebenso Barzahlungen ohne Beleg, und auch die zehn Euro Praxisgebühr dürfen nicht erhoben werden. Es darf keine Leistung in Rechnung gestellt werden, die Bestandteil der vertragsärztlichen Behandlung ist, d.h., für die die Krankenkasse die Kosten übernimmt. Wenn auch manche Individuellen Gesundheitsleistungen durchaus sinnvoll sein können wie zum Beispiel eine Reiseimpfung oder eine Ultraschall-Untersuchung zur Krebsfrüherkennung, gibt es gleichwohl Außenseiterbehandlungen ohne nachgewiesenen medizinischen und therapeutischen Nutzen, die sich Patienten in ihrer Not aufdrängen lassen. Versicherte, die deshalb unsicher sind oder Zweifel über den Sinn einer zusätzlichen Leistung hegen, sollten sich vorher von ihrer gesetzlichen Krankenkasse beraten lassen.



AZ 2011, Nr. 1-2, S. 4

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