Fachmedien kurz rezensiert

Die Wissenschaftslüge

Ben Goldacre

Die Wissenschaftslüge

Die pseudo-wissenschaftlichen Versprechungen von Medizin, Homöopathie, Pharma- und Kosmetikindustrie. 432 Seiten, 9,95 Euro.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2010. ISBN 978-3-956-18510-8

Manchmal bin ich mir nicht so sicher, ob wir Menschen trotz technischen Fortschritts und des rasanten naturwissenschaftlichen Erkenntniszuwachses in den letzten – sagen wir 200 Jahren, seit also etwa Samuel Hahnemann sein Grundlagenwerk der Homöopathie, das "Organon der Heilkunst" 1810 veröffentlichte, weniger abergläubisch und weniger irrational an unser Leben herangehen. Es ist fast das täglich Brot in einer öffentlichen Apotheke: Fragen von Patienten und Kunden nach dubios anmutenden Therapien, die sie in irgendwelchen Zeitungen und Illustrierten aufgeschnappt haben, etwa die neueste Schlankheitspille oder Heilsversprechen durch Nahrungsergänzungsmittel oder die ultimative Anti-Aging-Kur. Da stehen wir häufig erst einmal da und sind ratlos, wissen nicht, wie wir die Spreu vom Weizen trennen können.

Einer, der Licht in dieses Dunkel bringen möchte, ist der Brite Ben Goldacre, Arzt und Medizinjournalist, dessen seit 2003 erscheinende wöchentliche Kolumne "Bad Science" in der Zeitung "The Guardian" in Großbritannien inzwischen Kult ist. Auf seiner Website, eine äußerst wertvolle Fundgrube kritischer Informationen zu allerlei Themen der Alternativmedizin, erscheint er als 35-jähriger Krauskopf mit sympathischem Lächeln und wachen, leicht schelmischen Augen. Sein Buch "Bad Science", das 2008 erschien, liegt jetzt auf Deutsch mit dem etwas sperrigen Titel "Die Wissenschaftslüge" vor. Ben Goldacre ist bekennender Anhänger der evidenzbasierten Medizin, wenn er etwa im Vorwort seines Buches schreibt: "In der evidenzbasierten Medizin, der jüngsten angewandten Wissenschaft, stecken einige der klügsten Ideen der vergangenen zwei Jahrhunderte, sie hat schon Millionen Leben gerettet (…)". Damit hat er den Kampf auf zwei Fronten eröffnet: gegen jede Form dubioser Therapien, die hauptsächlich oder ausschließlich auf Glauben anstatt Wissen basieren wie z. B. Homöopathie auf der einen Seite und gegen die unseriösen Machenschaften der Pharma-, Nahrungsergänzungs- und Kosmetikindustrie auf der anderen Seite. Er versucht dem Leser – und dabei hat er sowohl medizinische Laien als auch Heilberufler vor Augen – eine kritische Herangehensweise an alle Arten von präsentierten Daten nahe zu bringen und führt auf durchaus leicht leserliche und amüsante Art in die evidenzbasierte Medizin ein. Er beschreibt deren Gold-Standard, die randomisierte, placebokontrollierte, doppelblinde Studie und schafft es sogar, etwas Statistik mit Kurzweil zu vermitteln. Grossen Stellenwert in seinem Buch nehmen neben den aufschlussreichen Ausführungen zum Placebo-Effekt u. a. auch die Homöopathie und die Medien mit ihrer zuweilen katastrophal fehlerhaften Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen ein. Er legt dar, mit welchen Tricks die Pharmaindustrie es ständig schafft, die Meinungen und Geldgeber für ihre Produkte einzunehmen und fragt vor diesem Hintergrund, ob die Schulmedizin böse ist. Und schließlich versucht er am Beispiel der Masern-Mumps-Röteln-Impfung das häufig sehr emotional aufgeladene Thema Impfen auf eine solide, evidenzbasierte Basis zu stellen.

Dass er die Homöopathie so ziemlich "gefressen" hat ("wirkstofffreie Zuckerpillen") und dass seine Expertise in dieser Hinsicht auch von höchster britischer Stelle gefragt ist, zeigte sich jüngst in einer Anhörung im britischen Parlament vor einem Wissenschafts- und Technikausschuss zu dem Thema "Evidence Check: Homeopathy" am 25. November 2009. Diese Anhörung sollte klären, ob der Staat – in Form des National Health Service NHS – finanziell für homöopathische Therapien aufkommen soll. Beim Betrachten der Aufzeichnung kann man Ben Goldacre sowie andere Kritiker und Befürworter der Homöopathie verfolgen und sich selbst ein Bild von der Stichhaltigkeit der jeweiligen Argumente machen. Dass er auf der anderen Seite kein Liebling der Pharmaindustrie ist (wie Gegnern der Alternativmedizin häufig vorgeworfen wird), zeigt z. B. sein starkes Misstrauen gegenüber den Ergebnissen Industrie-gesponsorter klinischer Studien, die viel häufiger zu Gunsten des Sponsors ausfallen als etwa unabhängig durchgeführte Studien.

Dieses Buch ist absolut lesenswert und lässt sich auch noch abends im Bett gut verdauen. Es ist somit beinahe ein Muss für alle in den Heilberufen Tätigen aber auch darüber hinaus. Dem Kommentar eines der Gründers der Cochrane Library, Sir Ian Chalmers, kann ich mich da nur anschließen: "Bad Science introduces the basic scientific principles to help everyone to become a more effective bullshit detector”.


Apotheker Dieter Kaag, Apotheke der Thoraxklinik-Heidelberg, Heidelberg

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