Meinung

Das IQWiG nach Sawicki

Von Christian Behles und Harald G. Schweim

Nach vielen Spekulationen und Diskussionen seit der letzten Bundestagswahl ist nun der Verzicht auf eine Vertragsverlängerung von Prof. Dr. med. Peter T. Sawicki beschlossen worden. Ob damit "die Politik vor den durchsichtigen Interessen der Industrie einen Kotau macht" (Glaeske) oder der Leiter des IQWiG sich selber durch sein Verhalten ("Dennoch gibt es genug Gründe, um eine Trennung zu begründen – ohne das Einknicken vor der Pharma-Lobby begründen zu müssen") zu Fall gebracht hat, sei dahingestellt [1]. Wirklich problematisch ist vielmehr, dass dieser zuletzt inhaltsfrei geführte Streit von den Strukturproblemen der Gestaltung des Leistungskatalogs ablenkt und eine Weiterentwicklung behindert.

Das IQWiG in Köln Erhält das Institut mit der neuen Leitung auch eine neue Struktur?
Fotos: IQWiG

Es gibt gute Gründe, sowohl die Nutzen- als auch die Kostenbewertung in einem Gesundheitssystem des 21. Jahrhunderts für sinnvoll und hilfreich zu halten. Die Finanzierungsprobleme der Krankenversicherungen aufgrund der demografischen Entwicklung und die technisch-wissenschaftliche Weiterentwicklung in der Medizin haben bereits in den 80er Jahren die Frage nach dem Wert einzelner medizinischer Verfahren stellen lassen. Die Gründung von staatlichen und privaten Einrichtungen, wie der damaligen AHCPR [2] oder des ECRI [3] in den USA, waren Zeichen der Professionalisierung des Health Technology Assessment (HTA), das einen Prozess zur systematischen Bewertung medizinischer Technologien, Prozeduren und Hilfsmittel, aber auch von Organisationsstrukturen, in denen medizinische Leistungen erbracht werden, bezeichnet. Untersucht werden dabei Kriterien wie Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten, jeweils unter Berücksichtigung sozialer, rechtlicher und ethischer Aspekte.

Der mit der Bewertung verbundene hohe Arbeitsaufwand, die begrenzten Daten und das Fehlen einer wissenschaftlich entwickelten, standardisierten Methodik machten die internationale Zusammenarbeit notwendig, die sich u. a. im International Network of Agencies for Health Technology Assessment (INAHTA) institutionalisierte [4]. Weltweit wandten sich die Staaten derartigen Hilfsmitteln zu, um die Kosten in den Gesundheitssystemen zu steuern.

Allerdings kann man der in Deutschland agierenden Pharmaindustrie, insbesondere der sich als innovativ bezeichnenden, den Vorwurf nicht ersparen, diesen Trend nicht rechtzeitig aufgegriffen zu haben. Dies gestehen auch Vertreter der Pharmaverbände ein [5].

Diese Entwicklung ging bis Mitte der 90er Jahre an Deutschland im Wesentlichen vorbei und beschränkte sich auf die Arbeit des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), die durch ihre Bewertungen versuchen, wirkungslose und unwirtschaftliche Leistungen nicht durch die GKV finanzieren zu lassen. In der Privaten Krankenversicherung fand und findet eine derartige Bewertung bis heute nicht in relevantem Ausmaße statt.

Das Bundesministerium für Gesundheit unter Horst Seehofer beauftragte bereits 1995 das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) [6], ein wissenschaftliches Netzwerk für das HTA aufzubauen. Im Jahr 2000 wurde die Deutsche Agentur für Health Technology Assessment (DAHTA) beim DIMDI gegründet, die bis heute erfolgreich HTA-Berichte erstellt und veröffentlicht. Hieraus sollte die fundierte wissenschaftliche Erforschung und Bewertung der nationalen Krankenkassenleistungen resultieren, um die Effizienz des deutschen Versicherungssystems zu verbessern.

Diese Ziele wurden nur in Ansätzen erreicht. Ein Geburtsfehler war, dass dem DIMDI von Anfang an untersagt wurde, sich mit der Effizienz der Arzneimittelbehandlung zu befassen, und sich auf medizinische Techniken und Verfahren beschränken musste. Damit entfiel von vornherein ein wichtiges Therapie- und Kostenfeld.

Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde dann 2004 gemäß GMG die Gründung des IQWiG als einer unabhängigen Institution, die anhand von Studien den therapeutischen Fortschritt eines neuen Medikamentes mit herkömmlichen Arzneimitteln vergleichen und bewerten sollte, vollzogen. Finanziert wird das IQWiG durch Zuschläge für stationäre und ambulante medizinische Behandlungen, also letztlich aus den Beiträgen der Mitglieder aller Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) [7]. Der Etat betrug 2009 rund 15 Millionen Euro [8].

Seither wird die Strategie verfolgt, anhand der "Bewertungen" des IQWiG für die Entscheidungen des G-BA ein eindeutiges, zugängliches und zuverlässiges Kriterium zu schaffen, das den Ausschluss von medizinischen Leistungen unter Beachtung des nationalen und europäischen Rechts (u. a. des Willkürverbots bzw. der Transparenzrichtlinie) erlauben soll.

Die Regeln für diese Bewertungen schuf sich das IQWiG in einem von vielen als intransparent und gar willkürlich kritisierten Verfahren selbst.

Hiermit ging die Einschränkung auf die Bewertung des Nutzens möglichst mittels randomisierter, kontrollierter Studien einher. Seit der Erweiterung seines Auftrages auf "Kosten" arbeitet das IQWiG daran, Arzneimittel einer Kosten-Nutzen-Bewertung zu unterziehen, um u. a. einen Preisdruck auch auf (hochpreisige) Arzneimittelinnovationen auszuüben. Neben den umfangreicheren und "hochpreisigen" Berichten gibt das Institut auch Rapid Reports heraus, die weniger kosten- und zeitaufwendig sind. Ferner werden auch "Gesundheitsinformationen" für Bürger und Patienten erstellt, die den IQWiG-Anspruch erfüllen sollen, "allgemein verständlich" zu sein.

Strukturprobleme der Nutzenbewertung

Das IQWiG ist in Bereichen der medizinischen Nutzenbewertung, der ökonomischen Bewertung medizinischer Verfahren und der gesundheitlichen Patienten- bzw. Verbraucheraufklärung aktiv. Es ergibt sich somit für das Institut ein höchst heterogenes Arbeitsspektrum, indem es inhaltlich gegenüber spezialisierten wissenschaftlichen Einrichtungen, den wissenschaftlich-medizinischen Institutionen und Gremien sowie den Forschungsressourcen der pharmazeutischen Industrie mit seinen "bescheidenen Mitteln" zu bestehen versucht (Ausgaben für Forschung und Entwicklung der VFA-Mitgliedsfirmen im Jahr 2008: 4,84 Milliarden Euro).

Angesichts dieses Ungleichgewichts an Ressourcen ist die inhaltliche und methodische Kritik am IQWiG nicht verwunderlich. Ein konfrontativer Umgang mit der Pharmaindustrie – wie von Herrn Sawicki in der Attitüde des "Pharmakritikers" gepflogen – ist also kontraproduktiv, zumal die benötigten Daten in der Regel von der Pharmaindustrie erhoben werden.

Weiterhin sind die Wissenschaftler des IQWiG gezwungen, ihre Bewertungen auf einer – systematisch bedingt – höchst unvollständigen Datenlage vorzunehmen. Zum Zeitpunkt der Zulassung eines Arzneimittels liegen Erfahrungen über die Wirksamkeit und unerwünschten Arzneimittelwirkungen nur von relativ wenigen Patienten vor. Die Nutzen-Risiko-Einschätzung ist daher nur mit einer erheblichen Unsicherheit vorzunehmen. Die "wahren" Daten ergeben sich erst bei breiter Anwendung. Hieraus erklären sich auch die Rücknahmen der Zulassungen zu einem späteren Zeitpunkt: Dies ist bei gut 10% aller neuartigen Wirkstoffe innerhalb der ersten sieben Jahre nach der Markteinführung der Fall [9].

Zu den größten Problemen gehört, dass für den Begriff "Nutzen" von medizinischen Maßnahmen bislang weder national noch international eine einheitliche und allgemein akzeptierte Definition existiert. Das IQWiG behauptet, den Nutzen an "patientenrelevanten Endpunkten" festzumachen. Realiter werden allerdings "randomisierte kontrollierte Studien" (RCT) als "Goldstandard" definiert. RCTs werden normalerweise als Zulassungsstudien angelegt, die nach Eigeneinschätzung des IQWiG sowieso artifizielle Ziele verfolgen und aufgrund dessen gerade oft nicht die Forderung, patientenrelevant zu sein, erfüllen. Daher degeneriert die Beurteilung des IQWiG eher zu einem zweiten Durchlaufen des Zulassungsprozesses. Aus Zulassungsstudien lassen sich aber oft keine Nutzenbewertungen ableiten, und somit bleibt das Ziel, die "effectiveness" eines Arzneimittels (= Wirksamkeit unter Bedingungen des Behandlungsalltags) zu messen, die über die bereits dokumentierte "efficacy" (= Wirksamkeitsbeweis im Sinne einer Arzneimittelzulassung) hinausgeht, unerreicht.

Daten über den Nutzen unter realen Versorgungsbedingungen können eigentlich erst nach der Zulassung erhoben werden und liegen, wenn überhaupt, erst Jahre später vor. Ein Medikament kann zugelassen und in Verkehr gebracht werden, wenn es an nur etwa 700 Patienten getestet wurde (Mittelwert; ohne Krebsmedikamente u. ä., für die meist nur geringe Patientenzahlen vorliegen). Selten sind es mehr als 3000 Patienten.

Darüber hinaus ist die Bewertung des Nutzens komplex, da die Arzneimittelanwendungen und Patientencharakteristika höchst unterschiedlich sind. Da diese Erhebungen sehr aufwendig und teuer sind, gehen obendrein diese finanziellen Mittel für die Patientenversorgung verloren. Der Bewertungsprozess muss daher stets auf seine Effizienz hin überprüft werden.

Letztendlich handelt es sich bei den Aktivitäten des IQWiG um wissenschaftliche Arbeit, die der wissenschaftlichen Diskussion unterliegen muss, zumal für den Vergleich von Nutzen und Wirtschaftlichkeit verschiedene Methoden und Ansätze existieren. Eine diskussions- und kritikfreie Arbeit des IQWiG ist nicht möglich oder hätte mit wissenschaftlicher Bewertung nichts mehr zu tun. Die gesetzliche Privilegierung eines wissenschaftlichen Instituts entspricht weder dem Wesen wissenschaftlicher Arbeit, noch fördert sie die Qualität der Ergebnisse.

Darüber hinaus ist das IQWiG aufgrund der organisatorischen sowie rechtlichen Konstruktion und durch sein eigenes Zutun in das Zentrum der Rationierungsdiskussion geraten. So fehlen dem IQWiG konkrete Kriterien als Vorgaben für die Bewertungen. Die Auswahl dieser Kriterien führt aber unmittelbar in die gesellschaftliche Auseinandersetzung über die inhaltliche Ausgestaltung der Kriterien des § 12 SGB V (ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich, notwendig).

Mit welcher Legitimation sollte jedoch ein wissenschaftliches Institut solche ethisch und politisch heiklen Entscheidungen treffen dürfen, die jeden Einzelnen der Bevölkerung essenziell betreffen können? Diese Aufgabe kann das IQWiG nicht erfüllen; hierfür sind die dazu legitimierten Institutionen und die Bevölkerung zuständig.

Weiterentwicklung der Nutzenbewertung

Die Diskussion über die Personalie Sawicki lenkt somit von den eigentlichen Strukturproblemen der Bewertung der Versicherungsleistungen und damit auch der Arbeit des IQWiG ab.

Auf die Vorwürfe gegen Herrn Sawicki soll hier nicht detailliert eingegangen werden, zumal sie an diesen Strukturproblemen vorbeigehen. Denn Sawicki hat die Diskussion um eine strukturelle und wissenschaftliche Weiterentwicklung des IQWiG eher behindert, wenn auch das IQWiG unter seiner Leitung wichtige Beiträge geliefert hat. In diesem Zusammenhang sei nur auf die angestoßene Diskussion zum Nutzen von kurzwirksamen Insulinanaloga hingewiesen, die unabhängig von der Bewertung deutlich gemacht hat, dass Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit unter realen Versorgungsbedingungen nicht in ausreichendem Maße erhoben worden waren. Man ist versucht, der "Findungskommission" zu wünschen, sie möge als Nachfolger/in Sawickis eine Persönlichkeit mit hoher Sachkompetenz und mehr moderierendem als zuspitzendem Charakter finden.

Die Querelen um das Ausscheiden von Herrn Sawicki haben die Arbeit des IQWiG und die Weiterentwicklung der Nutzenbewertung sicherlich nicht gefördert und einfacher gemacht. Umso wichtiger ist nunmehr die Weiterentwicklung dieses Prozesses, denn die finanziellen Probleme der Krankenkassen und der medizinische Fortschritt werden eine ständige Überprüfung der Leistungen der Versicherungen notwendig machen, um ein gerechtes und effizientes Gesundheitssystem weiterhin zu gewährleisten. Eine Neuaufstellung des IQWiG erscheint unumgänglich. Folgende Aufgaben und Ziele sind anzustreben:

  • Aufbau nationaler HTA-Zentren unter Berücksichtigung akademischer, wirtschaftswissenschaftlicher Einrichtungen und Weiterentwicklung eines nationalen Netzwerks. Diese sollten die wissenschaftliche Bewertungsarbeit leisten.
  • Koordinierung dieses Prozesses und Einbindung dieser Einrichtungen durch das IQWiG im Rahmen seiner Aufträge und durch das DIMDI, indem dieses seinen ursprünglichen Auftrag fortsetzt. Es wäre zu prüfen, ob eine Integration der DAHTA beim DIMDI mitsamt den Haushaltsmitteln in das IQWiG einen (kostensparenden) Synergieeffekt ergibt.
  • Erarbeitung eines neuen Methodenpapiers nicht unter der Regie des IQWiG, sondern der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) als unabhängiger Institution.
  • Verstärkte Integration und Nutzung der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kompetenz der wissenschaftlichen und berufspolitischen, medizinischen sowie auch der pharmazeutischen Institutionen, der Patientenverbände, der Industrie und der Kostenträger.
  • Nutzung und Koordinierung der bestehenden nationalen und internationalen Aktivitäten wie des MDK, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und der Arzneimittelzulassung.
  • Fokussierung der eigenständigen wissenschaftlichen Arbeit auf die Nutzenbewertung.
  • Schaffung der notwendigen Datenbasis als Voraussetzung für die wissenschaftliche Bewertung; Erschließung der erforderlichen finanziellen Mittel durch staatliche Förderung, durch Ermächtigung der Krankenversicherer zur Finanzierung von Untersuchungen und durch Verpflichtung der Industrie zur Durchführung entsprechender Studien im Rahmen der Produktentwicklung und Produktpflege.
  • Realisierung eines umfassenden HTA entsprechend den internationalen Standards der INAHTA.

Zusammenfassung

Das IQWiG sollte sich darauf fokussieren, den Bewertungsprozess des Nutzens und der Wirtschaftlichkeit mit der Kompetenz der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Einrichtungen zu steuern und somit die Grundlage für die Entscheidungsträger zu schaffen.

Die Verantwortung für den konkreten Ausschluss von Arzneimitteln oder medizinischen Verfahren sowie für die Konkretisierung der Anforderungen aus § 12 SGB V, die zwar nicht rechtlich, aber in der öffentlichen Diskussion dem IQWiG zugeschrieben wird, ist weder aus rechtlicher, gesellschaftspolitischer noch wissenschaftlicher Sicht zielführend.

Die derzeitige Diskussion um die Arbeit des IQWiG und seines bisherigen Leiters sollte nicht die Weiterentwicklung der Nutzenbewertung behindern, sondern als Chance verstanden werden, die Strukturen weiterzuentwickeln. Angesichts der demografischen und finanziellen Herausforderungen ist ein derartiges Vorgehen für den Erhalt eines gerechten und leistungsfähigen Gesundheitssystems ohne Alternative.

Quellen [1]www.berlinonline.de/berlinerzeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2010/0120/wirtschaft/0003/index.html. [2] Heute: Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ); www.ahrq.gov. [3] Emergency Care Research Institute; www.ecri.org/Pages/default.aspx. [4] www.inahta.org. [5] Sickmüller B. Pharm Ztg 2006;151(22):12. [6] www.dimdi.de/static/de/hta/index.htm. [7] www.iqwig.de/index.938.html. [8] www.iqwig.de/download/IQWiG_in_Zahlen.pdf. [9] Lasser KE, et al. Timing of new black box warnings and withdrawls for prescription medications. JAMA 2002;287:215-220. 

 


Korrespondenzautor

Prof. Dr. Harald G. Schweim 

Pharmazeutisches Institut der Universität Bonn

An der Immenburg 4, 53121 Bonn

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