Arzneimittel und Therapie

Paracetamol: Ein Wolf im Schafspelz läuft frei herum!

Neue Studien zur Paracetamol-Einnahme in der Schwangerschaft haben Prof. Dr. Dr. Kay Brune vom Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, der Universität Erlangen-Nürnberg veranlasst, sich die Studienlage zu Paracetamol noch einmal genauer anzuschauen. Im folgenden Gastkommentar untermauert er seine Forderung, Paracetamol zumindest vollständig der Rezeptpflicht zu unterstellen.
Prof. Dr. Dr. Kay Brune

Die Meisten von uns sind mit Märchen aufgewachsen und daher mit dem bösen Wolf (auch im Schafspelz) bestens vertraut. Er tritt scheu und milde wie ein Lämmchen auf, ist jedoch äußerst gefährlich. Wir kennen den bösen Wolf auch aus der Geschichte von den sieben Geißlein, die ihn in dem Glauben, er sei ungefährlich, in das Haus ließen, um dann von ihm gefressen zu werden. Immerhin genügte ein Schnitt in den Bauch dieses Wolfes, um die hübschen, kleinen, weißen Zicklein wieder zu Tage zu fördern.

Jahrzehntelang glaubten wir (auch ich), Paracetamol sei ein sanftes Lamm, nicht sehr kräftig, aber harmlos und trotzdem wirksam. Neue wissenschaftliche Daten sind geeignet, diesen Glauben zu erschüttern und das Paracetamol als Wolf im Schafspelz zu identifizieren. Ja, es scheint, als ob wir diesen Wolf nur sorgfältig "zerteilen" müssen, um die unschöne Wahrheit aus dem Bauch herauszuschälen. Es springen nämlich keine hübschen Geißlein heraus, sondern sieben hässliche Kröten. Viele Fachleute sind nicht mehr bereit, sie zu schlucken, und die Zweifel an diesem Wirkstoff nehmen zu [1]:

1. Leberschäden sind bei hoher Dosierung unvermeidlich. Sie kommen aber auch bei niedriger Dosierung vor [2; 3].

2. Die Entdeckung, dass Paracetamol ein präferentieller, nicht-selektiver Hemmer der Cyclooxygenase-2 ist [4], erklärt uns, warum bei kurzfristiger, mehr noch bei längerer Einnahme von Paracetamol der Blutdruck erhöht ist [5 – 7].

3. Ein länger bestehender, erhöhter Blutdruck und die Unterdrückung der Bildung des endothelialen Gefäßschutzwirkstoffes Prostacyclin erklären das vermehrte Auftreten von Herzinfarkten und Schlaganfällen [6; 8].

4. Die Kombination von Paracetamol mit einem nicht-selektiven Hemmer der Cyclooxygenase, wie z. B. Acetylsalicylsäure, führt besonders häufig zu Magen-Darm-Blutungen [9].

5. Hohe Paracetamolkonzentrationen nach oraler und parenteraler Applikation können zu Asthmaanfällen führen [10].

Diese "Kröten" könnte man mit dem Hinweis, es gibt kein Arzneimittel ohne Nebenwirkungen, abtun. Zwei neue Befunde sind aber besonders bedenklich, betreffen sie doch Schwangere und deren noch ungeborene Kinder sowie Kleinkinder:

6. Aus zwei großen skandinavischen, epidemiologischen Datenbankanalysen ergibt sich ein enger Zusammenhang mit einer verminderten männlichen Fertilität aufgrund von Hodenhochstand und reduzierter Hodenfunktion und der Einnahme von Paracetamol durch die Schwangere [11 – 12]. Die Ergebnisse von zwei unabhängigen Untersuchungen sollten uns nicht verwundern. Schließlich ist die Bedeutung des Prostaglandins bei der fetalen Entwicklung des Urogenitalsystems längst bekannt [13]. COX-2-Hemmer sind deswegen in der Schwangerschaft kontraindiziert.

7. Schließlich mehren sich die Arbeiten, die zeigen, dass Kinder häufiger an Asthma erkranken, wenn sie als Kleinkinder oder in der Gebärmutter Paracetamol ausgesetzt waren [14 – 18]. Ob diese immer noch umstrittene, aber durch zahlreiche Analysen nicht vom Tisch zu wischende Nebenwirkung von Paracetamol auf der Hemmung der Cyclooxygenasen in frühen Entwicklungsstadien zurückzuführen ist, ist zurzeit noch unklar. Schließlich kommt das Aspirin-induzierte Asthma bei den entsprechend empfindlichen Patienten durch Hemmung der Cyclooxygenase-1 zustande.

Fazit

Ist der Wolf im Schafspelz endlich als Wolf enttarnt, dürfen wir ihn nicht mehr frei herumlaufen lassen. Die bisher nicht bekannten Nebenwirkungen und Risiken des Paracetamols sollten Anlass sein zu überlegen, ob der rezeptfreie Zugriff auf Paracetamol, noch dazu in Kombinationspräparaten (z. B. Heißgetränken), noch zu vertreten ist. Während der Frühschwangerschaft ist die Anwendung nicht mehr zu rechtfertigen. Auch in späteren Schwangerschaftsphasen und beim Kleinkind ist eine Änderung des "Status" (rezeptfrei!) nötig. Viele unklare Todesfälle können auf den Gebrauch von Paracetamol zurückgeführt werden [19]. Leider glauben junge Frauen und werdende Mütter, in Form von Paracetamol einen milden, wirksamen, Vertrauen erweckenden, gut untersuchten, preiswerten Schmerz- und Fieberhemmstoff zu haben. Leider ist dem nicht so! Akute und chronische Schäden sind evident. Es ist daher an der Zeit, Paracetamol ganz vom Markt zu nehmen oder wenigstens das Prädikat "rezeptfrei" zu entziehen.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Kay Brune, Doerenkamp-Stiftungsprofessur für Innovationen im Tier- und Verbraucherschutz, Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

 

Literatur [1] Zahn PK, et al.: Paracetamol for perioperative analgesia. Anaesthesist 2010; 59: 940 – 952. [2] Lee WM: Acetaminophen toxicity.Hepatology 2007; 46: 966 – 970. [3] Canbay, A et al.: Acute liver failure in a metropolitan area in Germany. Z Gastroenterol 2009; 47: 807 – 813. [4] Hinz B, Cheremina, O, Brune K: Acetaminophen (paracetamol) is a selective cyclooxygenase-2 inhibitor in man. FASEB J 2008; 22: 383 – 390. [5] Sudano I, et al.: Acetaminophen increases blood pressure in patients with coronary artery disease. Circulation 2010; 122: 1789 – 1796. [6] Forman JP, et al.: Non-narcotic analgesic dose and risk of incident hypertension in US women. Hypertension 2005; 46, 500 – 507. [7] White WB, Campbell P: Blood pressure destabilization on nonsteroidal antiinflammatory agents. Circulation 2010; 122: 1779 – 1781. [8] Chan AT et al.: NSAIDs, acetaminophen, and the risk of cardiovascular events. Circulation 2010; 113: 1578 – 1587. [9] Rahme E, et al.: Hospitalizations for upper and lower GI events associated with traditional NSAIDs and acetaminophen. Am J Gastroenterol 2008; 103, 872 – 882. [10] Ho MH, et al.: Anaphylaxis to paracetamol. J Paediatr Child Health 44, 746 – 747 (2008). [11] Jensen MS et al.: Maternal use of acetaminophen, ibuprofen, and acetylsalicylic acid during pregnancy and risk of cryptorchidism. Epidemiology 2010; 21: 779 – 785. [12] Kristensen DM et al.: Intrauterine exposure to mild analgesics is a risk factor for development of male reproductive disorders in human and rat. Hum Reprod 2010. [13] Komhoff M, et al.: Cyclooxygenase-2-selective inhibitors impair glomerulogenesis and renal cortical development. Kidney Int 2000; 57: 414 – 422. [14] Etminan M, et al: Acetaminophen use and the risk of asthma in children and adults. Chest 2009; 136: 1316 – 1323. [15] Scialli AR, et al.: Childhood asthma and use during pregnancy of acetaminophen. A critical review. Reprod Toxicol 2010. [16] Shaheen SO, et al.: Prenatal paracetamol exposure and asthma. Int J Epidemiol 2010; 39: 790 – 794. [17] Shaheen SO, et al.: Prenatal and infant acetaminophen exposure. J Allergy Clin Immunol 2010. [18] Beasley RW, et al.: ISAAC Phase Three. Am J Respir Crit Care Med. 2010. [19] Marinetti L, et al.: OTC-cold medications – postmortem findings. J Anal Toxicol 2005; 29: 738 – 743.

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.