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Kritische Aspekte der Stimulanzientherapie

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zählt mit einer Prävalenz von 5% zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Die Störung sei aber nicht häufiger geworden, so Prof. Dr. Frank Häßler von der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, Rostock, nur die Aufmerksamkeit auf die Symptome und die Diagnosekriterien haben sich geändert.
Frank Häßler
Foto: DAZ/ck

ADHS tritt überall, weltweit auf. Aber die Wahrnehmung ist traditionell und gesellschaftlich unterschiedlich: Kinder, die spätabends auf den Beinen sind, durch die Zimmer und Straßen laufen, werden in Italien zum Beispiel als völlig normal angesehen. In Deutschland ist man mit der Diagnose ADHS schnell bei der Hand. Und mit einer Stimulanzientherapie, wie die in den vergangenen Jahren gestiegenen Verordnungszahlen an Methylphenidat zeigen. Auch die Tendenz, ein ADHS schon bei Kleinkinder oder gar Säuglingen zu diagnostizieren, sieht Häßler sehr kritisch: im Kindergartenalter, unter vier bis fünf Jahren, gäbe es diese Erkrankung gar nicht. Und Methylphenidat dürfe hier auch auf gar keinen Fall eingesetzt werden.

Differentialdiagnostik ist ein absolutes Muss!

Heutzutage stellen die Eltern ihre Kinder in der Sprechstunde vor – und liefern die Diagnose gleich mit: "Mein Kind hat ADHS." Daher muss an allererster Stelle immer eine genaue Differentialdiagnostik stehen. Zumal es bei den Symptomen einen hohen Überlappungsgrad mit anderen psychischen Störungen gibt. Angststörungen, die sich auch in unkonzentriertem, hektischem Verhalten äußern, treten bei 20 bis 30% der Kinder und Jugendlichen auf, bei Erwachsenen bis zu 40 bis 50%. Ähnliches gilt für Störungen des Sozialverhaltens, für depressive Störungen oder Schlafstörungen.

Um ADHS wirklich diagnostizieren zu können, ist eine einzige Untersuchung beim Kinderarzt einfach zu wenig, Standard sollte es sein, Eltern und Lehrer nach dem Verhalten des Kindes zu befragen. Weiterführende psychologische Tests und neurophysiologische Untersuchungen fehlen oft, kritisierte Häßler.

Die verbesserte Aufmerksamkeit und Effektivität der Kinder, die in Studien mit Stimulanzien berichtet wird, hängt leider sehr oft vom Beobachter bzw. vom Berichter ab. Lehrer und Eltern schätzen den Erfolg wesentlich höher ein, als Ärzte. Häßler bedauerte sehr, dass auch ein Zusammenhang zwischen einer Schulung von Lehrern durch Industrievertreter und einem "Therapieerfolg" erkennbar sei. In einer Studie ergab eine spätere Nachuntersuchung, dass nur ein Drittel der Probanden noch die Kriterien einer ADHS erfüllten.

Die Ergebnisse solcher Studien werden nur unzureichend oder verzögert publiziert, klagte Häßler. Er sieht die Ursache darin, dass in den Studien oft eine sehr schlechte Adhärenz zu beklagen ist, die die Ergebnisse verfälschen kann. Nach kritischer Auswertung ergeben viele Studien, dass keine Therapie einer anderen überlegen ist. Ein Ergebnis, das die Hersteller solcher Produkte nicht gern hören. Seine Forderung: Jeder Therapie mit Methylphenidat muss eine Psychotherapie vorgeschaltet sein. Denn dass Methylphenidat die Vigilanz und das Arbeitsgedächtnis verbessern kann, ist unbestritten, auch dass unerwünschte Wirkungen auftreten können ist bekannt. Aber ihr Ausmaß wird oft unterschätzt. Studien haben gezeigt, dass unter Methylphenidat Kinder im Durchschnitt 2,7 kg weniger in drei Jahren zunahmen, als die Kontrollgruppe. Das erscheint nicht viel, so Häßler, aber die Appetitminderung und der Gewichtsverlust können Essstörungen provozieren. Auch die Reduktion des Größenwachstums scheint nicht dramatisch zu sein: die Kinder waren im Schnitt 2 cm kleiner als die Kontrollgruppe in drei Jahren. Aber die Körpergröße triggert bei Kindern das Selbstbild erheblich – und besonders verhaltensauffällige Kinder haben ein schlechtes Selbstbild. Innere Erregung, Einschlafstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen treten ebenso auf wie ein Puls- und Blutdruckanstieg. Letztere unerwünschte Wirkung schätzt Häßler als problematisch bei grenzwertigem Blutdruck ein, die langfristigen Folgen können noch nicht überschaut werden.

In der Diskussion um das Für und Wider einer Stimulanzientherapie bei Kindern sollte nicht vergessen werden, dass die Familie auf Ausprägung und Verlauf einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung einen großen Einfluss hat. Eine medikamentöse Therapie sollte eingeleitet werden, wenn eine Verhaltenstherapie nicht ausreichend ist und wenn es zu einer Zuspitzung der Symptomatik kommt. Bei Kindern schätzt Häßler eine Medikation als notwendig ein, wenn eine adäquate Beschulung nicht mehr möglich ist und wenn die Kinder selber unter der Symptomatik leiden; bei Jugendlichen ist eine Medikation notwendig, wenn die Gefahr des Abrutschens in eine Sucht besteht.

ck

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