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Votum zur Priorisierung kann von Bürgern kommen

LÜBECK (tmb). Der Deutsche Apothekertag 2010 hat sich für eine Diskussion über die Priorisierung im Gesundheitswesen ausgesprochen. Dazu gehört auch ein Blick auf die wissenschaftliche Debatte. Zentrale Fragen dabei sind, wer mit welcher Rechtfertigung über die Prioritäten entscheiden soll und wie für die nötige gesellschaftliche Akzeptanz solcher Maßnahmen gesorgt werden kann. Ein mögliches Instrument dafür stellt eine Bürgerkonferenz dar, die in Skandinavien und der Schweiz zu verschiedenen Themen eingesetzt wird. Wie dies auf Deutschland übertragbar ist, wurde im zurückliegenden Sommer mit der Lübecker Bürgerkonferenz erprobt.
Der Initiator Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe zeigte mit einer Bürgerkonferenz, dass informierte Laien in kurzer Zeit ein qualifiziertes Bürgervotum erarbeiten können.
Fotos: DAZ/tmb

Initiator und Leiter des Projektes war der renommierte Sozialmediziner Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe, Begründer und bisheriger Direktor des Instituts für Sozialmedizin der Universität Lübeck. Er gilt als Vorreiter der wissenschaftlichen Arbeit zur Priorisierung im deutschen Gesundheitswesen. In einem Symposium am 29. Oktober in Lübeck stellte er die Ergebnisse des sozialwissenschaftliches Experimentes vor. Die Veranstaltung war zugleich die Verabschiedung Raspes in den Ruhestand.

Was ist eine Bürgerkonferenz?

Die Bürgerkonferenz ist eine von vielen Methoden, die in den Sozialwissenschaften für die partizipative Demokratie vorgeschlagen werden. Im Zentrum steht dabei der deliberative Ansatz – das heißt, die Beratung und das argumentative Auseinandersetzen, erklärte die Medizinethikerin Prof. Dr. Silke Schicktanz, Göttingen. Als Begründungen für solche Konferenzen nannte sie die Sicherung des sozialen Friedens, die Offenlegung von Wertkonflikten, die Kopplung von Verantwortung und Entscheidung sowie den Erkenntnisgewinn durch neue oder insbesondere neu gewichtete Argumente. Der Ansatz sei nicht als Alternative zur repräsentativen Demokratie zu verstehen, sondern als komplementäres Instrument. Den Hintergrund für den Einsatz im Gesundheitswesen bilde die WHO-Charta der Patientenrechte, die eine kollektive Repräsentation der Patienten über die individuellen Patientenrechte hinaus vorsieht. Insbesondere in Skandinavien, der Schweiz und den Niederlanden ist die Bürgerbeteiligung im Vorfeld von Entscheidungen z. B. in der Umweltpolitik, der Städteplanung und dem Gesundheitswesen verbreitet. Dabei kommen sehr unterschiedliche Formen der Beteiligung zum Einsatz. Als Vorreiter gilt Dänemark, wo Bürgerkonferenzen vom Parlament initiiert werden.

Die Teilnehmer Einige der 20 Teilnehmer der Lübecker Bürgerkonferenz zur Priorisierung stellten sich im Symposium vor.

Das Verfahren der kürzlich in Lübeck veranstalteten Bürgerkonferenz orientiert sich am dänischen Vorbild. Eine solche Bürgerkonferenz ist eine Zusammenkunft von zufällig ausgewählten Laien ohne Anspruch auf Repräsentativität. Nach einem strukturierten Verfahren diskutieren sie mit Unterstützung eines Moderators und erarbeiten ein Bürgervotum, bei dem auch ein ergänzendes Minderheitenvotum möglich ist. Dies soll keine demokratisch legitimierte Entscheidung sein, sondern ein Hilfsmittel für die entscheidenden Gremien. Bei dem Experiment in Lübeck hatten sich 20 Bürger im Frühsommer 2010 an vier Wochenenden getroffen und am 5. Juli ihr Bürgervotum vorgelegt.

Umfrage in Lübeck

Vorausgegangen war eine repräsentative schriftliche Umfrage unter 3000 Lübeckern zur Priorisierung. Die Antwortquote betrug 45,6 Prozent. Zugleich wurde nach der Bereitschaft zur Teilnahme an der Bürgerkonferenz gefragt. Aus den Interessenten wurden die Teilnehmer ausgelost. In der schriftlichen Befragung wurden Behandlungen mit großem Nutzen, nachgewiesener Wirksamkeit und für Patienten mit schweren Erkrankungen deutlich als zu bevorzugende Kriterien gewählt. Die gesellschaftliche Verantwortung des Patienten oder die wirtschaftliche Effizienz der Behandlung wurden als Maßstab klar abgelehnt. An den Entscheidungen sind nach Auffassung der meisten Beantworter primär Ärzte, Krankenkassen und Patienten zu beteiligen. Abgeschlagen auf der Liste sind dagegen Kirchenvertreter und Politiker – doch Letztere wären in der repräsentativen Demokratie als Entscheidungsträger zuständig.

Das Bürgervotum

Kerstin Rückert, Sprecherin der Bürgerkonferenz, stellte das Bürgervotum vor. Demnach ist eine Priorisierung angesichts knapper Ressourcen ein geeignetes Instrument für das Gesundheitswesen. Dazu sollten zunächst Grundwerte definiert und daraufhin Kriterien erstellt werden. Die Bürgerkonferenz hat Menschenwürde, Gleichheit und Solidarität als wichtigste Werte herausgearbeitet. Als wichtigste Kriterien für medizinische Maßnahmen wurden Lebenserhaltung und Dringlichkeit der Behandlung angesehen. Abhängig von Bedarf und Dringlichkeit könnten aber auch Nutzen und Kosten in eine Bewertung eingehen. Hinsichtlich des Verfahrens hebt das Bürgervotum Transparenz und Selbstbestimmung hervor. Jede Form der Diskriminierung, auch aufgrund des Alters, wird abgelehnt. Bei einer Priorisierung müssten regelmäßig Innovationen berücksichtigt und die Wirksamkeit der Verfahren überprüft werden.

Was bringt das Verfahren?

Für die Referenten des Symposiums ist damit belegt, dass informierte Laien in kurzer Zeit eine qualifizierte Stellungnahme zu einem ihnen bis dahin fremden Thema erarbeiten können. Alle Referenten zollten den Konferenzteilnehmern großen Respekt für ihre Leistung. Die Bürgerkonferenz wurde damit auch als Gegenentwurf zur Forderung des Präsidenten der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, thematisiert, der die Vorarbeit zur Priorisierung einem aus Experten gebildeten Gesundheitsrat überantworten möchte. Die Medien hätten das Projekt allerdings kaum beachtet. Denn erstens seien die Medien offenbar an Bürgerbeteiligung primär interessiert, wenn diese sich als Protest äußert. Zweitens sei die Priorisierung offenbar noch kein Thema für die deutsche Gesellschaft.

Die Diskutanten Über die Zukunft der Priorisierung diskutierten Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert und Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe, moderiert von Prof. Dr. Dr. Dr. Eckhard Nagel (Mitte).

Zum Konzept der Bürgerkonferenz betonte der Theologe Prof. Dr. Peter Dabrock, Marburg: "Quantität entscheidet nicht über die Dignität eines Arguments." Demnach könnten auch von einer kleinen Gruppe wichtige Ideen ausgehen. Aus juristischer Sicht stellte Prof. Dr. Felix Welti fest, dass die Bürger letztlich die gleichen Kriterien hervorgehoben hätten, die auch im Grundgesetz und im Sozialgesetzbuch betont werden. "Die Gesetzgebung ist demokratischer als ihr Ruf, und die Bürger sind verständiger als ihr Ruf", so Welti, der damit zugleich die Frage aufwarf, ob neue Gremien wie Bürgerkonferenzen überhaupt nötig seien. Der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Jürgen Wasem wies auf einen Schwachpunkt der Fragestellung für die Bürgerkonferenz aus ökonomischer Perspektive hin. Im Bürgervotum fehle die explizite Betrachtung begrenzter Budgets, die nötig sei, um ein Spannungsverhältnis zwischen alternativen Mittelverwendungen deutlich zu machen. Erst diese Betrachtung decke auf, wie die Menschen die Austauschrelationen zwischen verschiedenen Leistungsangeboten bewerten. Zudem würde das Bürgervotum die Austauschbeziehung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit nicht thematisieren. Für die gesundheitsökonomische Betrachtung der Priorisierung sieht Wasem drei Ansätze: Die wohlfahrtstheoretische Tradition spricht für eine Maximierung des Nutzens für viele im Sinne des Utilitarismus. Weit verbreitet ist die Maximierung der Gesundheit, beispielsweise im Sinne qualitätsadjustierter Lebensjahre. Er dagegen vertritt eine dritte Position, die keinen Algorithmus zur Optimierung entwickeln will, sondern ökonomische Informationen nur als ein Argument in einem multidimensionalen Entscheidungsprozess betrachtet.

Priorisierung oder Rationierung?

Das Bürgervotum geht wesentlich davon aus, dass Priorisierung und Rationierung zu unterscheiden sind. Demnach führt Priorisierung zu einer Rangreihe von Maßnahmen im Gesundheitswesen. Dies sei vom Vorenthalten notwendiger medizinischer Leistungen zu unterscheiden. Diese auch von Raspe vertretende Auffassung blieb im Symposium nicht unumstritten. Wasem sieht beide Begriffe als zwei Seiten einer Medaille. Prof. Dr. Peter Sawicki, ehemaliger Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, meinte, wenn die Nachrangigkeit einer notwendigen Leistung dazu führe, dass die Patienten sie nicht erhielten, sei dies letztlich Rationierung. Raspe kritisierte hingegen die Dichotomie einer solchen Betrachtung, denn es gäbe mehr oder weniger notwendige Maßnahmen. Zudem warnte er vor dem Missverständnis, Prioritäten als Entscheidungen zu betrachten. Denn "Priorisierung ist Information der Entscheidungsträger", so Raspe.

Sawicki hob die hohe Gewichtung der Solidarität im Bürgervotum hervor, äußerte aber Zweifel, ob eine Priorisierungsdebatte überhaupt nötig ist. Denn es gäbe noch Rationalisierungsreserven im System. Außerdem sollten die Patienten ausführlicher und unabhängiger über den zu erwartenden Nutzen und Schaden medizinischer Maßnahmen aufgeklärt werden. Wenn viele Patienten entsprechend informiert würden, dürften diese wohl von sich aus auf viele aufwendige Maßnahmen verzichten, vermutet Sawicki.

Die Medizinethikerin Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert, Münster, befürchtet, die Priorisierungsdebatte könne dazu führen, dass andere wichtige Themen wie Effizienzreserven aus dem Blickfeld geraten. Außerdem meinte sie, der Begriff Leistungsbegrenzung treffe besser, worum es gehe. Raspe konterte, dass Priorisierung auch in einer Situation des Überflusses sinnvoll sei, wie es beispielsweise in Norwegen praktiziert wird. Es gehe um den vernünftigen Umgang mit Ressourcen und darum zu fragen, was den Menschen wichtig sei. Doch werde die Diskussion in Deutschland von der Politik, den Krankenkassen und teilweise von der medizinischen Ethik aktiv supprimiert, so Raspe. Doch mit der Bürgerkonferenz sollte gezeigt werden, dass gut informierte Bürger ein Bürgervotum zur Priorisierung erarbeiten können.

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