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Der Traum vom Verschwinden der Infektionskrankheiten

Prof. Dr. Christoph Gradmann von der Sektion Medical Anthropology and Medical History an der Universität Oslo, Norwegen, beleuchtete in seinem Plenarvortrag die Frage, ob Infektionskrankheiten jemals wirklich unter Kontrolle waren.

Inhaltsverzeichnis: DPhG-Jahrestagung

Nach Gradmanns Ansicht war die wichtigste Entwicklung in der europäischen Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts die Veränderung der Bedeutung von Infektionskrankheiten.

Bis zum 1. Weltkrieg spielten im öffentlichen Gesundheitswesen die "Volksseuchen" Tuberkulose, Cholera und Typhus, die Tausende Opfer forderten, die größte Rolle. Danach kam es zum allmählichen Rückzug dieser Krankheiten. Die Hauptursachen dafür waren, so Gradmann,

  • die allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse,
  • die Verfügbarkeit von Desinfektionsmitteln,
  • die Einführung der ersten Schutzimpfungen (z. B. gegen Diphtherie 1923, gegen Tetanus 1927),
  • der Einsatz der ersten spezifischen antiinfektiösen Therapien (z. B. Salvarsan®, die ersten Sulfonamide, Penicillin).
Christoph Gradmann
Foto: DAZ/cb

Durch den technischen Fortschritt in dieser Zeit wurde die Vorstellung geboren, dass der Mensch die Natur beherrschen und damit auch die Welt von Infektionskrankheiten befreien kann. Dieses "Kontrollversprechen" der medizinischen Bakteriologie war typisch für das ganze 20. Jahrhundert. Bei der Bekämpfung der Krankheiten fokussierte man auf solche mit raschem Verlauf und hoher Sterblichkeit wie Cholera, Typhus, Diphtherie und Tuberkulose.

Bedeutung der Infektionskrankheiten geht zurück

Nach dem 2. Weltkrieg hatten Infektionskrankheiten ihre Bedeutung im Gesundheitswesen verloren. An ihre Stelle traten chronische Erkrankungen wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes mellitus. Zeitlich fällt dieser Wandel mit der Verfügbarkeit des Insulins (in Deutschland Beginn der industriellen Herstellung durch die Farbwerke Hoechst, 1923) und des ersten Betablockers (Propranolol, 1964) zusammen.

Schon Mitte der 50er Jahre traten die ersten Antibiotikaresistenzen auf, was unter anderem die Entwicklung des neuen Faches Medizinische Mikrobiologie zur Folge hatte. Der "Technologieglaube" in der Gesellschaft war zu dieser Zeit zwar noch ungebrochen. Doch in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dem sogenannten postantibiotischen Zeitalter, schlug die Euphorie in Skepsis oder Pessimismus um: Das Bild vom "Verschwinden der Infektionskrankheiten" bekam Risse. Auch die Stellung des Krankenhauses als ein "möglichst keimarmer, möglichst gesunder Ort" geriet ins Wanken.

Der wissenschaftliche Nachwuchs war in Braunschweig stark vertreten. An den 230 im "Kubus" und auf den Gängen des TU-Hauptgebäudes ausgestellten wissenschaftlichen Postern fanden rege Diskussionen statt.
Foto: DAZ/cb

Nach und nach wurden Krankenhäuser im Bewusstsein der Menschen zu den "gefährlichsten Orten, an die sich ein Patient überhaupt begeben kann". Es war eine Zeit, in der man sich bewusst machte, dass die Anwendung von Technologien auch unerwünschte Folgen haben und die Beherrschung der Natur auch zur Zerstörung derselben führen kann. Der Traum von der "Erlösung durch Technik" war damit ausgeträumt. In diese Zeit fällt auch der Beginn der Umweltschutzbewegung in Deutschland.

Das "Warten auf die Pandemie"

In den 1980er Jahren verdichtete sich ein neues Bedrohungsszenario, in dem Infektionskrankheiten (z. B. Aids) und Antibiotikaresistenzen wieder einen bedeutenden Platz einnahmen. Chronische Krankheiten wurden zudem als "ansteckende" neu definiert, die Grippe machte als neue Volksseuche "Karriere". Als eines der interessantesten Phänomene des 20. Jahrhunderts bezeichnete Gradmann das "Warten auf die Pandemie". Nachdem man 1996 das Vogelgrippe-Virus H5N1 identifiziert hatte, bereitete man sich darauf vor. Zwar hatten weder die Vogelgrippe noch die durch das H1N1-Virus hervorgerufene Neue Grippe ("Schweinegrippe"), die 2009 zur Ausrufung des Pandemiefalls durch die WHO geführt hatte, die gefürchteten verheerenden Folgen. Doch sie boten die Möglichkeit, die dagegen entwickelten Technologien – antivirale Medikamente und die Schutzimpfung – in größerem Umfang einzusetzen. Das Resümee des Medizinhistorikers: Zwar waren einige der Volksseuchen tatsächlich unter Kontrolle zu bringen, doch an ihre Stelle sind neue getreten. Es darf daher bezweifelt werden, ob es dem Menschen jemals gelingen wird, Infektionskrankheiten zu eliminieren. cb

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