Arzneimittel und Therapie

Neues Analgetikum Tapentadol

Tapentadol ist ein neuartiges, zentral wirksames Opioid-Analgetikum, das seit 2009 in den USA in schnell freisetzender Formulierung (NucyntaTM) zur Akutschmerz-Therapie zugelassen ist. In Deutschland steht eine retardierte Form (Palexia® retard) zur Behandlung starker chronischer Schmerzen bei Erwachsenen zur Verfügung. Tapentadol hat sich in Studien sowohl bei nozizeptiven als auch neuropathischen Schmerzen als wirksam und gut verträglich erwiesen.
Wirkmechanismus Tapentadol wird als erster Vertreter der neuen Substanzklasse der MOR-NRI angesehen, da der Wirkstoff einen μ-Opioid-Rezeptor-Agonismus (MOR) und eine Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmung (NRI) in einem Molekül vereinigt. Durch die Bindung an die μ-Opioid-Rezeptoren im zentralen Nervensystem werden die sensorischen und emotionalen Aspekte des Schmerzes verändert, die Übertragung von Schmerzen zum Rückenmark gehemmt und Aktivitäten in Teilen des Gehirns beeinflusst, die für die Schmerzwahrnehmung verantwortlich sind.

Das Betäubungsmittel Tapentadol ist zur Behandlung starker, chronischer Schmerzen bei Erwachsenen, die nur mit Opioidanalgetika angemessen behandelt werden können, indiziert. Die Substanz vereinigt zwei Wirkprinzipien in einem Molekül: einen μ-Opioid-Rezeptor-Agonismus (MOR) und eine Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmung (NRI). Er wird daher als erster Vertreter der neuen Substanzklasse der MOR-NRI angesehen. Wie andere starke klassische Opioide auch aktiviert Tapentadol μ-Rezeptoren und unterdrückt damit die Weiterleitung von Schmerzreizen in Gehirn und Rückenmark. Zusätzlich hemmt der Wirkstoff die Wiederaufnahme von Noradrenalin (NA) aus dem synaptischen Spalt und erhöht damit die Noradrenalin-Konzentration im ZNS, wodurch körpereigene schmerzhemmende Mechanismen aktiviert werden.

Dieser duale Wirkmechanismus ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass in präklinischen Untersuchungen die In-vivo-Potenz von Tapentadol im Akutschmerz trotz 50-fach niedrigerer Affinität zum μ-Opioid-Rezeptor nur zwei- bis viermal geringer als Morphin war.

Gegen nozizeptive und neuropathische Schmerzen

Tapentadol wurde in einem umfangreichen Studienprogramm an mehr als 7000 Patienten mit starken Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation und Ursache, darunter z. B. Arthrose-Schmerzen, chronische Rückenschmerzen, diabetische Polyneuropathie, untersucht. Patienten mit "mixed-pain" (siehe Kasten), also einer Kombination aus nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen, profitierten besonders von der Behandlung.

Schmerzmessung mit NRS


Die Numerische Rating Skala (NRS) ist wie andere Messinstrumente (z. B. Visuelle Analog-Skala, VAS) eine Möglichkeit, das individuelle Schmerzempfinden eines Patienten messbar und interpretierbar zu machen. Bei der Numerischen Rating Skala bewertet er die Intensität seines Schmerzes mithilfe einer 11-Punkte-Skala (0 Punkte: keine Schmerzen, 10 Punkte: schwerste Schmerzen).


Dies zeigte sich beispielsweise in einer doppelblinden placebo- und aktivkontrollierten Phase-III-Studie mit 981 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Sie erhielten entweder zweimal täglich 100 bis 250 mg Tapentadol, zweimal täglich äquianalgetische Dosen Oxycodon (20 bis 50 mg) oder Placebo. An eine dreiwöchige Titrationsphase schloss sich eine zwölfwöchige Behandlungsphase mit konstanter Dosis an. Danach wurde die Wirksamkeit anhand der Veränderung der Schmerzintensität auf der 11-Punkt-Skala NRS (siehe Kasten) beurteilt. Dabei erwies sich Tapentadol in der Schmerzlinderung als genauso effektiv wie Oxycodon.


Gemischte Schmerzsyndrome - "mixed-pain"


In der Schmerzbehandlung unterscheidet man zwischen nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen. Beim nozizeptiven Schmerz sind die peripheren und zentralen Nervenstrukturen intakt. Schmerzrezeptoren der Haut, der Muskulatur, der Sehnen oder Gelenke leiten die Informationen an das ZNS weiter; der Patient empfindet den Schmerz meist als dumpf oder drückend. Neuropathische Schmerzen entstehen infolge von Läsionen oder Dysfunktionen des zentralen oder peripheren Nervensystems. Sie werden oft als brennend oder stechend empfunden. Bei vielen Krankheitsbildern, z. B. Tumor- oder Rückenschmerzen, treten gemischte Schmerzzustände auf, deren Behandlung sich oft schwierig gestaltet.

Weniger Nebenwirkungen

In dieser sowie weiteren Studien zeigte sich außerdem, dass eine Behandlung mit Tapentadol – bei vergleichbarer analgetischer Potenz – mit deutlich weniger opioid-typischen Nebenwirkungen (z. B. Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Schwindel oder Juckreiz) verbunden ist. Dies führte auch zu geringeren Abbruchraten. So lagen beispielswiese die Abbruchraten aufgrund von gastrointestinalen unerwünschten Ereignissen in der genannten Studie mit Rückenschmerz-Patienten unter Tapentadol bei 5,3% und unter Oxycodon bei 18,3%.


Tapentadol

Geringes Interaktionspotenzial

Tapentadol (3-[(1R,2R)-3-(Dimethylamino)-1-Äthyl-2-Methyl-propyl)]-phenol) ist ein nicht-razemisches Molekül, das direkt ohne metabolische Aktivierung und ohne Bildung analgetisch relevanter Metaboliten wirkt. Der Wirkstoff wird nach oraler Gabe schnell und vollständig absorbiert, die durchschnittliche Bioverfügbarkeit liegt bei 32%. Nach 72 Stunden sind 95% über den Urin ausgeschieden. Tapentadol wird hauptsächlich über Glucuronidierung abgebaut und besitzt eine geringe Plasmaeiweißbindung (ca. 20%). Aus diesen Gründen ist die Wahrscheinlichkeit von Interaktionen mit anderen, gleichzeitig eingenommenen Wirkstoffen aufgrund von Induktion oder Hemmung abbauender Enzyme bzw. Verdrängung aus der Plasmaeiweißbindung gering. Tapentadol eignet sich daher gut zur Behandlung multimorbider Patienten, die mehrere Arzneimittel einnehmen müssen. Die Substanz wird in Deutschland unter dem Handelsnamen Palexia® retard als Betäubungsmittel in den Stärken 50, 100, 150, 200 und 250 mg eingeführt, die Einnahme sollte zweimal täglich (alle zwölf Stunden) erfolgen.


Umdenken in der Schmerztherapie

Schmerzen sind ein nicht zu unterschätzendes individuelles, gesellschaftliches und ökonomisches Problem. In Deutschland leiden etwa sechs Millionen Menschen an chronischen Schmerzen. Die jährlichen Behandlungskosten werden auf rund 15,3 Milliarden Euro geschätzt. Primäres Behandlungsziel ist der rechtzeitige Einsatz des passenden Analgetikums, um eine Chronifizierung und die Ausbildung des Schmerzgedächtnisses zu verhindern. Bisher orientierte man sich bei der Behandlung chronischer Schmerzen an dem aus dem Jahre 1986 stammenden WHO-Stufenschema, das ursprünglich für die Behandlung von Tumorschmerzen entwickelt worden war. Darin unterscheidet man je nach Intensität, Qualität und Lokalisation der Schmerzen drei Stufen der Schmerztherapie. Sobald die Wirkung der aktuell genutzten Stufe nicht mehr ausreicht, wird auf der nächsthöheren Stufe behandelt. Unter Schmerzspezialisten gilt dieses Stufenschema jedoch inzwischen als veraltet. Man hat mittlerweile erkannt, dass die Schmerzursache bei der Auswahl des Analgetikums nicht außer Acht gelassen werden sollte. Daher spielt die Frage, ob es sich um einen nozizeptiven, neuropathischen, inflammatorischen oder gemischten Schmerz handelt, zunehmend eine Rolle, und moderne Behandlungskonzepte orientieren sich an den Kriterien Schmerzmechanismus, Schmerzcharakter und patientenindividuelle Komorbidität. Die Verbesserung der Lebensqualität der betroffenen Patienten steht dabei im Vordergrund.

Quelle Fachinformation Palexia® retard Retardtabletten, Stand August 2010. 

 

Prof. Dr. med. Ralf Baron, Kiel, Kai Martens, Aachen, Dr. Ulrich Jahnel, Aachen, Dr. med. Kai-Uwe Kern, Wiesbaden: "Palexia® retard – Der neue Schlüssel für eine einfache und effiziente Schmerztherapie?", Hamburg, 8. September 2010, veranstaltet von der Grünenthal GmbH, Aachen.

 

Buynak R et al.: Efficacy and safety of Tapentadol extended release for the management of chronic low back pain: results of a prospective, randomized, double-blind, placebo- and active-controlled phase III study. Expert Opin Pharmacother 2010; 11(11): 1787 – 1804.

 


 

Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

Tapentadol


Handelsname: Palexia retard

Hersteller: Grünenthal GmbH, Aachen

Einführungsdatum: 15. September 2010

Zusammensetzung: Jede Filmtablette enthält 50, 100, 150, 200 oder 250 mg Tapentadol (als Hydrochlorid). Sonstige Bestandteile: Tablettenkern: Hypromellose, mikrokristalline Cellulose. hochdisperses Siliciumdioxid, Magnesiumstearat (Ph. Eur.). Tablettenüberzug: Hypromellose, Lactose-Monohydrat, Talkum, Macrogol 6000, Polypropylenglycol, Titandioxid (E 171); Eisen(III)-hydroxid-oxid x H2 O (E172) (

Packungsgrößen, Preise und PZN: Palexia retard 50-/ 100-/ 150-/ 200-/ 250 mg Retardtabletten.

50 mg Retardtabletten: 20 St., 44,14 Euro, PZN 6808915; 50 St., 95,80 Euro, PZN 6808938; 100 St., 179,05 Euro, PZN 6808950.

100 mg Retardtabletten: 20 St., 72,53 Euro, PZN 6809027; 50 St. 166,15 Euro, PZN 6809033; 100 St., 311,59 Euro, PZN 6809062.

150 mg Retardtabletten: 20 St., 107,03 Euro, PZN 6809151; 50 St., 252,30 Euro, PZN 6809168; 100 St., 481,01 Euro, PZN 6809180.

200 mg Retardtabletten: 20 St., 134,01 Euro, PZN 6809234; 50 St., 317,41 Euro, PZN 6809240; 100 St., 606,41 Euro, PZN 6809257.

250 mg Retardtabletten: 20 St., 169,92 Euro, PZN 6809317, 50 St. 408,79 Euro, PZN 6809323; 100 St., 782,96 Euro. PZN 6809352.

Stoffklasse: Analgetika; Opioid. ATC-Code: N02AX06.

Indikation: Für die Behandlung starker, chronischer Schmerzen bei Erwachsenen, die nur mit Opioidanalgetika angemessen behandelt werden können.

Dosierung: Zweimal täglich eine Einzeldosis unabhängig von den Mahlzeiten, beginnend mit 50 mg, Steigerung alle drei Tage zweimal täglich um 50 mg, maximale Gesamttagesdosis 500 mg Tapentadol.

Gegenanzeigen: Situationen, in denen Arzneimittel mit μ-Opioidrezeptor-Agonismus kontraindiziert sind, z. B. bei Patienten mit ausgeprägter Atemdepression, akutem oder starkem Bronchialasthma, Hyperkapnie; Patienten mit bestehendem oder Verdacht auf paralytischen Ileus; Patienten mit akuter Intoxikation durch Alkohol, Schlafmittel (Hypnotika), zentral wirksame Analgetika oder psychotrope Substanzen.

Nebenwirkungen: Sehr häufig: Schwindel, Somnolenz, Kopfschmerz; Übelkeit, Verstopfung. Häufig: verminderter Appetit; Angst, depressive Stimmung, Schlafstörungen, Nervosität, Ruhelosigkeit; Aufmerksamkeitsstörungen, Tremor, unwillkürliche Muskelkontraktionen; Erröten; Dyspnoe; Erbrechen, Diarrhö, Dyspepsie; Pruritus, Hyperhidrose, Hautausschlag; Asthenie, Müdigkeit, Gefühl der Körpertemperaturveränderung, trockene Schleimhäute, Ödeme.

Wechselwirkungen: Die gleichzeitige Behandlung mit MAO-Hemmern kann zu additiven Wirkungen auf den synaptischen Noradrenalinspiegel führen, die in kardiovaskulären Nebenwirkungen wie einer hypertensiven Krise resultieren können. Bei einer Kombination mit einer auf die Atmung oder auf das zentrale Nervensystem dämpfend wirkenden Substanz sollte eine Verringerung der Dosis von einer oder beiden Substanzen in Betracht gezogen werden. In Kombination mit serotoninergen Arzneimitteln wie selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren kann es zu einem Serotonin-Syndrom kommen; das Absetzen der serotoninergen Arzneimittel führt in der Regel zu einer raschen Besserung. Tapentadol sollte nur mit Vorsicht mit gemischten (wie Pentazocin, Nalbuphin) oder partiellen μ-Opioid-Agonisten (wie Buprenorphin) kombiniert werden. Die gleichzeitige Anwendung von starken Inhibitoren der Isoenzyme UGT1A6, UGT1A9 und UGT2B7 kann zu einer erhöhten systemischen Exposition von Tapentadol führen. Eine gleichzeitige Behandlung mit starken Enzyminduktoren sollte mit Vorsicht durchgeführt werden.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen: Tapentadol besitzt ein Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial. Bei hoher Dosierung oder bei Patienten, die empfindlich auf μ-Opioidrezeptor-Agonisten reagieren, kann Tapentadol zu einer dosisabhängigen Atemdepression führen, daher sollte es bei Patienten mit eingeschränkter respiratorischer Funktion mit Vorsicht verabreicht werden. Tapentadol sollte nicht bei Patienten angewendet werden, die besonders empfindlich gegenüber den intrakraniellen Auswirkungen einer Kohlendioxid-Retention sind, beispielsweise Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck, herabgesetztem Bewusstsein oder komatöse Patienten. Analgetika mit μ-Opioidrezeptor-Agonismus können bei Patienten mit Schädelverletzung den klinischen Verlauf verschleiern und sollten hier nur mit Vorsicht angewendet werden. Bei Patienten mit einem Anfallsleiden in der Vorgeschichte oder einer Erkrankung, die mit einem erhöhten Anfallsrisiko einhergeht, sollte Tapentadol mit Vorsicht eingesetzt werden, ebenso bei Patienten mit einer Gallenwegserkrankung, einschließlich akuter Pankreatitis.

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