Arzneimittel und Therapie

Retardierte Opioide und das Alkohol-Interaktionsrisiko

Retardierten Opioiden auf Polymethacrylat-Triethylcitrat-Basis soll die Zulassung entzogen werden. Das hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur EMA im Rahmen seiner Tagung im Juli 2010 beschlossen. Hintergrund ist die Gefahr einer verstärkten Wirkstofffreisetzung durch Alkohol. Der Beschluss liegt der Europäischen Kommission zur Entscheidung vor. Für den deutschen Markt wird er aber keine Konsequenzen haben.

Die in Deutschland im Handel befindlichen retardierten Opioide enthalten zwar teilweise noch Polymethacrylat in Form von Eudragit, aber kein Triethylcitrat, so dass sie von dem von der EMA angestrebten Zulassungswiderruf nicht betroffen sein werden. Lediglich die Retardkapseln Capros® einmal täglich in den Stärken 20 mg, 60 mg, 120 mg und 200 mg wären unter die Regelung gefallen, sind aber seit Mitte Juli 2010 außer Vertrieb.

Schon seit Längerem wird die Gefahr des Dose dumpings, also der verstärkten Freisetzung der Opioide Morphin, Oxycodon und Hydromorphon aus der retardierten Zubereitung diskutiert. In den USA musste im Juli 2005 das Hydromorphon-HCl-haltige PalladoneTM vom Markt genommen werden, nachdem in pharmakokinetischen Untersuchungen mit gesunden Probanden nach Einnahme von Alkohol ausgeprägte Erhöhungen der Hydromorphon-Plasmakonzentrationen gemessen worden sind. Um schon im Vorfeld eine solche Interaktion mit Alkohol feststellen zu können, hatte die FDA empfohlen, in vitro die Freisetzung von Opioiden aus Retardpräparaten in Gegenwart von bis zu 40% (V/V) Ethanol zu untersuchen. Retardierungsprinzipien, bei denen es unter diesen In-vitro-Bedingungen nicht zu einer verstärkten Wirkstofffreisetzung kommt, werden als sicher angesehen. Diese Interpretation ist jedoch umstritten. In einem Artikel in der Deutschen Apotheker Zeitung (DAZ 2008, Nr. 17, S. 62 – 70) kritisierten Wissenschaftler um Prof. Dr. Henning Blume und Prof. Dr. Werner Weitschies die unrealistischen Prüfbedingungen. Ethanol-Konzentrationen von 20% und mehr würden im nüchternen Magen nur nach Gabe großer Mengen hochprozentiger Alkoholika zu erreichen sein. Zudem würde die Verdünnung durch Magensaft schnell zu einem Konzentrationsabfall führen. Vielmehr würden hohe Konzentrationen von Alkohol die Magenentleerung verzögern, was zu einer längeren Verweilzeit der Retardformen im Magen führt. Der in dieser Zeit freigesetzte Wirkstoff erreicht dann schlagartig den Darm und führt zu entsprechend hohen Wirkstoffspiegeln. Ein entsprechendes Interaktionsrisiko ist nach dieser Hypothese damit auch für andere retardierte Opioide nicht auszuschließen.

Die CHMP-Bewertung

Der Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA hatte für die Bewertung des Dose-dumping-Phänomens drei verschiedene kontrollierte Freisetzungssysteme für Hydromorphon, vier verschiedene für Oxycodon und sieben verschiedene für Morphin bewertet. 50% dieser Formulierungen zeigten in vitro ein verändertes Freisetzungsverhalten unter Alkohol. In der Regel war der Effekt nur schwach ausgeprägt. Lediglich für eine retardierte Morphin-Formulierung zur einmal täglichen Gabe zeigten die In-vitro-Tests eine 80%ige Wirkstofffreisetzung innerhalb von 15 Minuten in 20%igem Alkohol. Diese Formulierung war mit einem Polymethacrylat-Triethylcitrat-Überzug versehen. Sie erwies sich als sehr unbeständig gegenüber Alkohol. Daher hat der CHMP empfohlen, die Zulassung retardierter Opioide auf dieser Basis zu widerrufen. Der CHMP diskutiert auch eine verstärkte In-vitro-Wirkstofffreisetzung bei Hydromorphon-Formulierungen. Sie waren bei hohen Alkoholkonzentrationen (35%, 40%) festzustellen, doch diese Produkte seien nie in den Markt eingeführt worden. Bei einer Morphin-Formulierung nahm die Wirkstofffreisetzung unter 40%igem Alkohol-Einfluss ab. Alle anderen Systeme sollen in keiner nennenswerten Weise durch Alkohol beeinflusst worden sein.

Quelle CHMP referral Assessment report WMA/CHMP/430939/2010

 


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Prof. Dr. Werner Weitschies
Foto: DAZ/Reimo Schaaf

DAZ-Interview: Spielball wirtschaftlicher Interessen!


Wenn der CHMP-Beschluss zum Zulassungswiderruf spezieller retardierter Opioide wegen Interaktionen mit Alkohol durch den Kommissionsentscheid der EU rechtlich bindend wird, dann wird in Deutschland mit keinen Rückrufen zu rechnen sein. Danach könnte man meinen, wir sind auf der sicheren Seite. Im Gespräch mit der DAZ erläutert Prof. Dr. Werner Weitschies vom Institut für Pharmazie der Universität Greifswald, warum dies ein Trugschluss ist.


DAZ: Herr Professor Weitschies, wie werten Sie den CHMP-Beschluss? In Deutschland scheint es ja keine Präparate zu geben, die davon betroffen sind. Sind wir mit unseren Opioid-Retardierungen auf der sicheren Seite?

Weitschies: Bezüglich der Risikobewertung der Auswirkung von hohen Konzentrationen an Alkohol auf die Retardierungsprinzipien begrüße ich den CHMP-Beschluss ausdrücklich. Allerdings wäre es aus meiner Sicht ein Trugschluss jetzt anzunehmen, dass es kein Interaktionsrisiko gibt. Die Einnahme von retardierten Opiaten zusammen mit Alkohol kann unabhängig vom Retardierungsprinzip gefährlich sein, da Ethanol konzentrationsabhängig die Magenentleerung hemmen kann.


DAZ: Das heißt, bei allen retardierten Opioiden besteht eine Dose-dumping-Gefahr? Viele Hersteller berufen sich auf den In-vitro-Test mit 240 ml 40%igem Ethanol und schließen ein Dose-dumping-Phänomen aus. Liegen sie falsch?

Weitschies: Ich denke ja. Die Food-Effekte von Alkohol, also insbesondere die verzögerte Magenentleerung werden bei solch einem Test ja überhaupt nicht berücksichtigt. Um das Dose-dumping-Risiko richtig einzuschätzen, müsste man entsprechende kinetische Studien in vivo mit retardierten Opioiden durchführen. Statt einer generellen Debatte um die potenziellen Auswirkungen der Einnahme von Retardpräparaten mit Alkohol wird versucht, Präparate von Wettbewerbern anhand von in ihrer Relevanz umstrittenen In-vitro-Untersuchungen aus dem Markt zu drängen.


DAZ: Dem Vernehmen nach werden in Deutschland auch nach dem CHMP-Beschluss weiterhin generische retardierte Opioide im Markt sein, die nach FDA-Kriterien den In-vitro-Dissolutionstest nicht bestehen. Warum kommt der CHMP hier zu einer anderen Bewertung?

Weitschies: Der Dissolutionstest zur Risikoeinschätzung bleibt bestehen, die Interpretation der Ergebnisse zur Risikobewertung ist zwischen EMA und FDA allerdings unterschiedlich. Von den strittigen Generika ist nur ein Produkt mit unstrittigem Dose-dumping-Potenzial übrig geblieben (das mit dem Eudragit-Triethylcitrat-Überzug). Dieses Produkt ist inzwischen nicht mehr im Handel. Der Warnhinweis auf die möglicherweise schnellere Freisetzung bei Einnahme mit Alkohol entfällt jetzt sogar generell! Es bleibt nur die Warnung vor der pharmakodynamischen Interaktion. Eine generelle Prüfungspflicht auf diese Interaktion (Alkohol-Freisetzungsverhalten) am Menschen wird es auch nicht geben. Das ist auch durchaus nachzuvollziehen. Sehr bedauerlich ist aus meiner Sicht allerdings, dass das Ganze nicht zum Anlass genommen wurde, eine prinzipielle Untersuchung der Auswirkung von Ethanol auf die Magenentleerung und die resultierenden Plasmaspiegelverläufe bei Einnahme von Retardformen von Arzneistoffen mit enger therapeutischer Breite anzuschieben. Die Efficacy Working Party der EMA hat diese Frage ja auch in ihrer Stellungnahme zu den Auswirkungen der Einnahme von retardierten Opioiden mit Ethanol völlig folgerichtig aufgegriffen. Man hätte das Thema wissenschaftlich und damit ursächlich angehen können. So bleibt es ein Spielball wirtschaftlicher Interessen.


DAZ: Herr Professor Weitschies, wir danken Ihnen für das Gespräch!


Prof. Dr. Werner Weitschies, Institut für Pharmazie, Biopharmazie und Pharmazeutische Technologie, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße 17, 17487 Greifswald


Interview: Dr. Doris Uhl, Stuttgart

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