Pflanzensystematik

Neue Namen für altbekannte Arznei- und Giftpflanzen

Von Hartmut H. Hilger, Theodor C. H. Cole und Michael Wink

Die molekulargenetische Forschung der letzten 30 Jahre hat dazu geführt, dass die heutige Pflanzensystematik annähernd die tatsächliche Evolution der Pflanzen widerspiegelt. Das neue phylogenetische System vervollständigt das in Jahrhunderten gewachsene Wissen über Strukturen (Morphologie/Anatomie) oder Inhaltsstoffe (Chemotaxonomie) der Pflanzen. Es sollte schnell in allen Wissenschaften, die mit Pflanzen zu tun haben, umgesetzt werden, also auch in der Pharmazie, denn ein aus falsch verstandener Tradition bewahrtes System wird dem Fortschritt der Wissenschaft nicht gerecht.

Abb. 1: Stammbaum der Pflanzen von Ernst ­Haeckel. Aus: Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen, Bd. 2, 1866.

Wissenschaftliche Pflanzennamen haben die Aufgabe, eine Art (Spezies) eindeutig zu bezeichnen. Die Benennung von Organismen (auf beliebiger Rangstufe) wird Nomenklatur genannt. Die heute gebräuchliche Nomenklatur geht auf Linné zurück, wobei dessen Werk "Species plantarum" vom 1. Mai 1753 den Ausgangspunkt für die Benennung der Pflanzen bildet. Linné verwendete die binäre Nomenklatur, um die Arten eindeutig zu benennen. Einer Gattung (lat. genus) wurden eine oder mehrere Arten (lat. species) zugeordnet. Die Ordnungskriterien waren anfänglich rein praktisch (z. B. die Anzahl der Staubgefäße einer Blüte), führten aber doch zu einer Gruppierung verwandter Arten in einer Gattung. Damit war bereits ein Schritt über die Taxonomie (die Lehre/Theorie der Klassifikation) hinaus in die Systematik (die Lehre/Theorie von der Verwandtschaft der Lebewesen) gemacht. Hierbei ist anzumerken, dass die Begriffe Taxonomie und Systematik auch häufig synonym verwendet werden.

Zuerst wurden also morphologische Eigenschaften (nach dem Prinzip der abgestuften Ähnlichkeiten) zur Verwandtschaftsaufklärung verwendet (Abb. 1). Doch die Forschung ging weiter, und über Inhaltsstoffe und andere nicht direkt sichtbare Merkmale ist man inzwischen – seit ca. 30 Jahren – bei der DNA als Erbsubstanz angekommen, wobei hier die Sequenz der Nucleotide von "Marker"-Genen (bei Pflanzen meist die der Plastiden- und der Kern-DNA) miteinander verglichen und angenommen wird, dass die ähnlichsten Sequenzen auch die engsten Verwandtschaftsbeziehungen anzeigen (Abb. 2).

Abb. 2: Von der Gewebeprobe zum Stammbaum Sequenzierung der Markergene von Pflanzen und vergleichende Auswertung mit Computerprogrammen.

Durch Verrechnung mit verschiedenen mathematischen Verfahren entstehen dann molekulare "Stammbäume" oder Phylogenien, bei denen die Verwandtschaft durch "Äste" an "Knoten" oder "Verzweigungen" (griech. klados) dargestellt wird. Man sieht sofort, wie nah oder fern die Verwandtschaftsbeziehungen sind.

Im Großen und Ganzen hat die molekulare Systematik die über die letzten 200 Jahre gewachsene Systematik bestätigt. Nur wenig wurde gefunden, was nicht schon früher einmal angedacht worden ist und nur nicht auf allgemeine Akzeptanz gestoßen war. So z. B. die für viele überraschende Feststellung, dass die Monokotyledonen innerhalb der Gesamt-Dikotyledonen entspringen und nicht etwa die ursprüngliche Linie darstellen; s. u., Abb. 6).

Kladistik

Nach der Kladistik (phylogenetische Systematik) sind nur monophyletische Gruppen erlaubt, deren Mitglieder alle von einem unmittelbaren gemeinsamen Vorfahren abstammen und denselben Taxon-Namen tragen (Abb. 4). Wenn in einer Gruppierung Taxa mit einem anderen Namen erscheinen, die einen anderen unmittelbaren gemeinsamen Vorfahren haben, handelt es sich um eine paraphyletische Gruppe. Das trifft auf die Dikotyledonen zu, denn Magnoliopsida und Rosopsida haben keinen unmittelbaren gemeinsamen Vorfahren.

Um paraphyletische Taxa aufzulösen und gemäß der Kladistik monophyletische Taxa herzustellen, sind Namensänderungen erforderlich. Trotzdem wird man in Bestimmungsschlüsseln aus Praktikabilitätsgründen auch weiterhin paraphyletische Gruppen finden.


Abb. 6: Aktueller Stammbaum der Blütenpflanzen (Stand 02/2010, aus APweb [13]; mit freundlicher Genehmigung von P. F. Stevens). Die Dikotyledonen (Di) finden sich an zwei verschiedenen Stellen, sie sind also paraphyletisch.

Synonyme durch Umbenennung

Ein Pflanzenartname wird untrennbar mit einem Herbarbeleg verbunden, dem "Typus". Nun ist es leicht vorstellbar, dass ein Name, der häufig eine bestimmte Eigenschaft einer Pflanze kennzeichnet, mehr als einmal vergeben wurde und wird. Es entstehen somit taxonomische, auf mehrere Typusbelege gegründete Synonyme, deren Anerkennung, Gültigkeit oder Ablehnung im Allgemeinen durch die "Priorität" geregelt wird.

Andere Synonyme entstehen durch den Fortschritt der Wissenschaft. Wenn erkannt wird, dass das Verwandtschaftsverhältnis einer Pflanzenart, das sich im Gattungsnamen ausdrückt, unzutreffend ist, wird die Art in eine andere Gattung "versetzt"; so entsteht ein "nomenklatorisches" Synonym, das aber an denselben Typusbeleg geheftet ist. Beide Artnamen sind "gültig" und können verwendet werden, doch wird der gesunde Menschenverstand den systematisch richtigen vorziehen.

Anders ist es bei Taxa in einem Schwestergruppenverhältnis: Da bleibt es eigentlich dem Systematiker überlassen, ob er diese vereinigt oder getrennt lässt – Monophylie ist in beiden Fällen gewährleistet.

Um Stabilität zu erreichen, wird die Nomenklatur in einem Code verbindlich geregelt. Derzeit gilt der "Vienna Code" (International Code of Botanical Nomenclature, ICBN 2006), so benannt nach dem letzten Internationalen Botanischen Kongress in Wien, 2005. Laut ICBN 2006 wird das Art-Epithet, d. h. der zweite, die Art betreffende Name einer Pflanze, beibehalten, wenn ihr Gattungsname geändert wird.

Wenn die Pflanzensystematik zu neuen Ergebnissen gekommen ist, müssen sich auch die Pflanzennamen ändern. Es können

  • den Nomenklaturregeln widersprechende Namen betroffen sein oder
  • neue nachgewiesene Verwandtschaftsverhältnisse dokumentiert werden, und das vor allem auf den Stufen der Gattungen und Familien.

Im ersten Fall wird daraus eine Umkombination resultieren – z. B. wird aus Cnicus benedictus (Asteraceae) → Centaurea benedicta (Asteraceae).

Im zweiten Fall wird eine Gattung in eine neue Familie gestellt (s. u.). Bei Umkombinationen wird normalerweise der Erstbeschreiber der Gattung oder Art in Klammern genannt; im Falle von Cnicus benedictus L. (1753) war es bereits Linné selbst, der zehn Jahre später die Gattungszugehörigkeit zu Centaurea benedicta (L.) L. geändert hat, nur wurde dies lange Zeit nicht anerkannt.

Drogennamen

Die Drogennamen unterliegen nicht dem Wandel der Systematik. Daher sind Drogennamen nach wie vor in ihren herkömmlichen Bezeichnungen entsprechend dem Arzneibuch zu verwenden. So hat Scillae bulbus seine Bezeichnung aus der Zeit, als die Meerzwiebel noch Scilla maritima L. hieß. Den Wechsel zu Urginea maritima (L.) Baker bzw. Drimia maritima (L.) Stearn und Charybdis maritima (L.) Speta hat der Drogenname nicht mitgemacht. Ob und wann sich auch hier Änderungen ergeben werden, liegt allein in der Hand der Arzneibuch-Kommissionen.

Molekulare Phylogenie in der Pflanzensystematik

Der Fortschritt in der molekularen Genetik führte für die Systematik und Taxonomie von Tieren und Pflanzen zu tiefgreifenden Veränderungen. Die Genome aller Organismen unterlagen und unterliegen im Verlauf der Evolution vielfachen Mutationen auf Sequenz- und Chromosomenebene.

Da viele Mutationen vererbt werden, kann durch Analyse der Mutationen bei den heute lebenden Organismen ihre gemeinsame Vergangenheit rekonstruiert werden. Man kann das Genom eines Organismus daher als einen "Blueprint" der Evolution ansehen. Evolutionäre Ereignisse, auch wenn sie schon vor Millionen von Jahren erfolgten, lassen sich durch den Vergleich von Genomen unterschiedlicher Organismen rekonstruieren. Aktuell sind schon über 1000 Genome komplett sequenziert, davon ca. 100 Eukaryontengenome.

Im Genome-10K-Projekt ist geplant, die Genome von 10.000 Vertebraten zu sequenzieren, um deren Phylogenie genau zu rekonstruieren (http://www.genome10k.org/).

Da die Sequenzierung ganzer Genome auch heute noch aufwendig und kostspielig ist, hat man aus pragmatischen Gründen, mit der Sequenzierung von wenigen Markergenen begonnen. Die vorliegenden Daten zeigen schon heute, dass man über die Analyse von Nucleotidsequenzen von Markergenen die Phylogenie der meisten Organismen rekonstruieren kann. Treten nicht auflösbare Verzweigungsknoten in einer Phylogenie auf, so muss man entweder weitere Markergene mit unterschiedlicher Evolutionsrate und/oder weitere Taxa in die Analyse einschließen. Optimal wäre die komplette Sequenzierung der Genome aller auf der Erde existierenden Arten. Dies ist aber eine Kostenfrage.


Abb. 4: Verwandtschaftsverhältnisse: mono-, poly- und paraphyletische Gruppen. Der rote Kreis bezeichnet die nächstliegende Verzweigung im Stammbaum, die allen Angehörigen der Gruppe (grün) gemeinsam ist. ­Paraphyletische und polyphyletische Gruppen schließen nicht alle Individuen eines Monophylums ein. Die moderne Taxonomie erlaubt nur monophyletische Gruppen. [nach W. Hennig, (1950)]

DNA-Sequenzierung

Ein entscheidender Fortschritt für die molekulare Phylogenieforschung kam durch die Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion (PCR), mit der man jedes Markergen aus einem DNA-Isolat heraus so vervielfachen kann, dass man das Gen anschließend sequenzieren kann (Abb. 2).

Auch auf dem Gebiet der DNA-Sequenzierung gab es beachtliche Entwicklungen: Seit der Entwicklung des Strangabbruchverfahrens durch Sanger et al. im Jahre 1977 kamen schnelle Sequenzier- und Trennmethoden hinzu. Heutige DNA-Sequencer beruhen auf der Kapillarelektrophorese und detektieren PCR-Produkte aufgrund ihrer Fluoreszenzmarkierung. Seit wenigen Jahren steht eine neue Generation von Hochdurchsatz-Sequenziergeräten zur Verfügung (454-Sequencer), die nicht nach dem Prinzip des Strangabbruchverfahrens, sondern über Pyrosequenzierung arbeiten und in der Lage sind, parallel Tausende von Sequenzen zu analysieren.

Der Weg von einer Gewebeprobe zu DNA-Sequenz und Stammbaum ist in Abbildung 2 schematisch dargestellt. Liegt ein alignierter DNA-Datensatz vor, kann er mit mehreren Computerprogrammen, die für die Stammbaumrekonstruktion entwickelt wurden, analysiert werden. Meist werden Stammbäume dargestellt, die mittels "Maximum Parsimony" (MP), "Maximum Likelihood" (ML) oder MrBayes rekonstruiert wurden. Im Idealfall produzieren alle Methoden Stammbäume mit gleicher Topologie.

Diese Methodik wurde auch für die Erforschung der Pflanzensystematik eingesetzt. Für die neue Systematik nach APG III wurden die Sequenzen mehrerer Markergene (sowohl Kern- als auch Plastidengene) ausgewertet. Da noch bei Weitem nicht alle Pflanzenarten bearbeitet wurden, sind die DNA-Stammbäume in den Details noch mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. Dennoch können sie genutzt werden, um eine phylogenetisch basierte Taxonomie zu erstellen, denn die DNA-Stammbäume sind nicht oder kaum für konvergente Anpassungen anfällig, wie sie in der Morphologie auftreten und die klassische Taxonomie an einigen Stellen in die Irre geleitet hatten.


APG III auch für die Pharmazie


Das nun vorliegende stabile System nach APG III [3] und APweb [13] sowie entsprechende Zusammenfassungen der Systematik bei Gattungen und Arten gemäß Mabberley [9] können sofort unumschränkt auch für die Pharmazie übernommen werden. Bei der Verwendung der aktuell akzeptierten Namen ist für Arznei-, Giftpflanzen und Drogen der Querverweis auf Synonyme und vormalige Zuordnungen im Einzelfall jedoch durchaus angebracht.


Die phylogenetische Systematik zeigt, welche Gruppen in einem Stammbaum monophyletisch, paraphyletisch oder polyphyletisch sind (Abb. 4). Da nach der Kladistik nur monophyletische Gruppen erlaubt sind, müssen "falsch" eingeordnete Taxa umgruppiert werden und ihren Namen ändern. Das kann die Gattungsebene, aber auch die Familienebene betreffen.

Die wichtigsten Änderungen bei Gattungen und Familien

Die aktuelle phylogenetische Systematik der Blütenpflanzen zählt etwa 56 Ordnungen, 450 Familien, 13.000 Gattungen und 262.000 Arten (APweb). Bei den Familien haben sich in den letzten Jahrzehnten folgende größeren Änderungen ergeben:


Monokotyledonen:

Amaryllidaceae schließen jetzt ein: Alliaceae, Agapanthaceae

Asparagaceae schließen jetzt ein: Agavaceae, Convallariaceae, Hyacinthaceae, Ruscaceae u. a.

Orchidaceae sind jetzt in Asparagales (vorher in Liliales)

Xanthorrhoeaceae schließen jetzt ein: Asphodelaceae, Hemerocallidaceae

Dikotyledonen:

Amaranthaceae schließen jetzt ein: Chenopodiaceae

Asclepiadaceae sind jetzt Unterfamilie Asclepiadoideae der Apocynaceae

Boraginaceae wurden in 5 Familien aufgespalten: Boraginaceae inkl. Codon , Cordiaceae, Ehretiaceae inkl. Lennoaceae, Heliotropiaceae, Wellstediaceae; sie gehören mit den Hydrophyllaceae zur Ordnung Boraginales (früher: in Solanales)

Campanulaceae schließen jetzt ein: Lobeliaceae

Euphorbiaceae wurden in 3 Familien aufgespalten: Euphorbiaceae, Phyllanthaceae, Picrodendraceae
Flacourtiaceae wurden verteilt auf Achariaceae (cyanogene Gattungen) und Salicaceae (nicht-cyanogene Gattungen)

Malvaceae schließen jetzt ein: Tiliaceae, Bombacaceae, Sterculiaceae

Primulaceae: viele Gattungen jetzt in Myrsinaceae

Santalaceae schließen jetzt ein: Viscaceae (dies ist aber umstritten [10])

Sapindaceae schließen jetzt ein: Aceraceae, Hippocastanaceae

Scrophulariaceae: viele Gattungen jetzt in Plantaginaceae oder als eigene Familien separiert wie die halb- und vollparasitischen Orobanchaceae

Verbenaceae: viele Gattungen jetzt in Lamiaceae

Viele Arzneipflanzen wurden anderen Gattungen oder Familien zugeordnet, von denen als prägnante Beispiele genannt seien:

Digitalis → Plantaginaceae; Aloe → Xanthorrhoeaceae; Cimicifuga → Actaea ; Pulsatilla → Anemone ; Rhodiola → Sedum ; Eugenia caryophyllus → Syzygium aromaticum; Aloisia triphylla syn. Lippia citriodora → Aloysia citriodora

Eine ausführlichere Liste geänderter Gattungs- und Familienzugehörigkeiten ist in Tabelle 1 zusammengestellt.

Abb. 3: Die Dezimierung einer großen Familie Pflanzen der Scrophulariaceae und Arten, die kürzlich in andere Familien eingruppiert wurden (von oben und von links): Scrophularia glabrata (Braunwurz), Verbascum spinosum (Königskerze), Cistanche tubulosa (heute: Orobanchaceae), Globularia salicina (Kugelblume, heute: Plantaginaceae), Clerodendrum trichotomum (Losbaum, heute: Lamiaceae), Digitalis purpurea (Fingerhut, heute: Plantaginaceae), Veronica teucrium (Ehrenpreis, heute: Plantaginaceae) und Plantago lanceolata (Wegerich, immer schon: Plantaginaceae).

Die "alten" Scrophulariaceae: Digitalis und Veronica

Dass eine Verwandtschaft sich nicht in unmittelbar erkennbaren gemeinsamen Merkmalen widerspiegeln muss, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel von Fingerhut, Ehrenpreis und Wegerich (Abb. 3 und Abb. 5). Früher standen Digitalis und Veronica in der Familie Rachenblütler (Scrophulariaceae). In den frühen 90er Jahren ergaben vergleichende Genanalysen jedoch eine engere Verwandtschaft zu den Wegerichgewächsen (Plantaginaceae) [11]. Zur Debatte stand, ob die erweiterte Familie weiterhin Plantaginaceae heißen oder die ältere Bezeichnung Veronicaceae erhalten sollte – die Nomenklaturregeln der ICBN haben dies eindeutig zugunsten von Plantaginaceae entschieden.

Spezielle morphologische Unterschiede der beiden Familien sind:

  • Plantaginaceae (z. B. Plantago, Veronica): Blütenstand Traube oder Ähre; Blütenkrone vierzählig; reduzierte Anzahl der Staubblätter; spezieller Samenaufbau.
  • Scrophulariaceae (sensu stricto, z. B. Scrophularia): Blütenstand mehr oder minder reduzierte Thyrsoide; Blütenkrone meist fünfzählig.

Angiosperm Phylogeny Group (APG) und APweb

Eine Gruppe von 42 Pflanzensystematikern veröffentlichte 1993 eine Zusammenfassung der bis dahin erhaltenen DNA-Sequenzen (des Plastiden-Enzyms rbcL) mit entsprechend neuen Stammbäumen der Blütenpflanzen (Angiospermen), die dem Ziel der Nachzeichnung der (natürlichen) Evolution einen erheblichen Schritt näher kam [4]. Das Projekt gilt als Meilenstein und Musterbeispiel internationaler Zusammenarbeit, denn zuvor waren Systeme meist das Werk einzelner Botaniker und trugen deren Namen, zum Beispiel die Systeme von Engler, Takhtajan und Cronquist. Aus diesen gemeinschaftlichen Bemühungen heraus resultierte 1998 die erste Gesamtsystematik der Blütenpflanzen unter Einbeziehung molekulargenetischer Erkenntnisse; die "Angiosperm Phylogeny Group – APG" [1], bestehend aus 29 Wissenschaftlern, zeichnet hier als Autorengruppe. Nach zwei Aktualisierungen, APG II [2] und APG III [3] herrscht nun im Großen und Ganzen Klarheit über die Verwandtschaft innerhalb der Hauptgruppen des Systems (Ordnungen, Familien, Gattungen).

Im Jahr 2001 stellte der renommierte Pflanzensystematiker Peter F. Stevens vom Missouri Botanical Garden in St. Louis (MoBot – inzwischen eines der wichtigsten Systematikzentren der Welt), die kostenlose öffentliche Datenbank APweb ins Netz; fortwährend aktualisiert und erweitert, ist sie bis heute die unumschränkt zuverlässigste Quelle von Informationen zur Pflanzensystematik [13]. Hier finden sich aktuelle Stammbäume mit taxonomischen Hinweisen zu Ordnungen, Familien und Gattungen, Verbreitungskarten der Familien, ein umfangreiches Glossar, die neueste Literatur sowie eine sehr nützliche Suchmaske mit Verlinkung zu den Quellen (Abb. 6).


Abb. 5: Gattungen der Scrophulariaceae, Plantaginaceae und verwandter Familien (sehr kleine Auswahl). Die sieben markierten Gattungen gehörten früher alle zur Familie Scrophulariaceae und stellten eine polyphyletische Gruppe dar. Die drei obersten Gattungen wurden deshalb in die Plantaginaceae eingeordnet (nach [11]).

Weitere Referenzwerke

Inzwischen sind einige Nachschlagewerke und Lehrbücher zur Pflanzensystematik erschienen, die die molekulare Phylogenie berücksichtigen [7, 12], und ihre Anzahl nimmt stetig zu. Der deutsche Systematiker Klaus Kubitzki begründete eine Synopsis der Blütenpflanzen mit dem Serientitel "The Families and Genera of Vascular Plants" (Bd. 1: 1990) [8], die alle Familien der Gefäßpflanzen (Farnpflanzen, Gymnospermen und Angiospermen) bis zur Gattungsebene behandelt. Dieses umfassende Referenzwerk ist ebenfalls ein Gemeinschaftswerk vieler Systematiker, das fortwährend durch neue Bände ergänzt wird [10].

Ein sehr nützliches Nachschlagewerk auf der Grundlage der modernen Phylogenie für Familien, Gattungen und ausgesuchte Arten ist Mabberley’s Plant-Book [9]. Leider verwendet dieses Werk noch zugelassene historische Familiennamen, wie Compositae (statt Asteraceae) oder Labiatae (statt Lamiaceae) und Leguminosae (statt Fabaceae).

Zusätzlich stellen wir als Referenz und Lernhilfe ein kostenloses DIN A0-Poster zur Verfügung, das den Stammbaum der Blütenpflanzen nach APG (Angiosperm Phylogeny Poster) übersichtlich darstellt und ständig aktualisiert wird [5].

Ausblick – Empfehlungen im Umgang mit Namensänderungen

Im Verlauf des nächsten Jahrzehnts ist noch mit weiteren Revisionen der Arten und Gattungen zu rechnen [7]. Aber selbst wenn noch nicht alle Verwandtschaftsbeziehungen geklärt sind, so besteht schon heute ein relativ stabiles, evolutionär begründetes und "natürliches" System der Blütenpflanzen, das allgemein akzeptiert wird.

Jeder, der heute mit Pflanzen arbeitet, ob kommerziell oder akademisch, ob im Zierpflanzenbau, der Landwirtschaft oder in der medizinischen und pharmazeutischen Praxis, wird sich dieses neuen Systems bedienen. Unter Berücksichtigung legaler Vorschriften ist zu empfehlen, die jeweils aktuellen Namen zu verwenden und sich anhand neuester Literatur, Nachschlagewerke und Internetplattformen der Richtigkeit eines Namens zu vergewissern.

In der pharmazeutischen Grundausbildung wird derzeit schon an den meisten Universitäten das phylogenetische System gelehrt, obgleich noch nicht alle Lehrbücher umgestellt sind. Es ist in der Wissenschaft ähnlich wie in anderen Bereichen des Lebens, dass Änderungen und neue Konzepte erst nach längerer Zeit von der Mehrheit wahrgenommen und akzeptiert werden. Eine gewisse Skepsis ist oftmals angebracht, aber gestandenen Theorien und harten Fakten darf man getrost ein "gesundes Maß" an Vertrauen entgegenbringen.

Literatur [1] APG. An ordinal classification for the families of flowering plants. Ann Mo Bot Gard 1998;85:531–553. [2] APG II. An update of the Angiosperm Phylogeny Group classification for the orders and families of flowering plants: APG II. Bot J Linn Soc 2003;141:399–436. [3] APG III. An update of the Angiosperm Phylogeny Group classification for the orders and families of flowering plants: APG III. Bot J Linn Soc 2009;161:105–121. [4] Chase MW, Soltis DE, Olmstead RG, et al. Phylogenetics of seed plants: an analysis of the nucleotide sequences from the plastid gene rbcL. Ann Mo Bot Gard 1993;80:526–580. [5] Cole TCH, Hilger HH. Angiosperm Phylogeny Poster – Flowering Plant Systematics (2010, fortwährend aktualisiert, open PDF), www2.biologie.fu-berlin.de/sysbot/poster/poster1.pdf. [6] Europäisches Arzneibuch, 6. Ausgabe. Grundwerk mit Nachtrag 6.1, 6.2, 6.3 und 6.4, Amtliche deutsche Ausgabe. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart 2008 ff. [7] Judd WS, Campbell CS, Kellogg EA, Stevens PF, Donoghue MJ. Plant Systematics – A Phylogenetic Approach, 3rd ed. Sinauer, Sunderland MA 2008. [8] Kubitzki K (Series Ed.). The Families and Genera of Vascular Plants. Springer-Verlag, Heidelberg/Berlin/New York 1990 ff. [9] Mabberley DJ. The Plant Book – A portable dictionary of plants, their classification and uses, 3rd ed. Cambridge Univ. Press, Cambridge/New York 2008. [10] Nickrent DL, Malécot V, Vidal-Russell R, Der JP. A revised classification of Santalales. Taxon 2010;59:538–558. [11] Olmstead RG, Reeves PA. Evidence for the polyphyly of the Scrophulariaceae based on chloroplast rbcL and ndhF sequences. Ann Mo Bot Gard 1995;82:176–193. [12] Soltis DE, Soltis PS, Endress PK, Chase MW. Phylogeny and Evolution of Angiosperms. Sinauer, Sunderland MA 2005. [13] Stevens PF. Angiosperm phylogeny website (APweb, 2001 onwards). www.mobot.org/MOBOT/research/APweb. [14] van Wyk BE, Wink M, Wink C. Handbuch der Arzneipflanzen. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2004. [15] WHO monographs on selected medicinal plants, Vol. 1 (1999); Vol. 2 (2003).


Autoren

 

Prof. Dr. Hartmut H. Hilger 

 

Institut für Biologie der Freien Universität Berlin

 

Altensteinstr. 6, 14195 Berlin

 

hartmut.hilger@fu-berlin.de

 


Dipl.-Biol. Theodor C. H. Cole

 

Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg

 

Im Neuenheimer Feld 364, 69120 Heidelberg

 

tchcole@gmx.de

 


Prof. Dr. Michael Wink 

 

Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg

 

Im Neuenheimer Feld 364, 69120 Heidelberg 

 

wink@uni-hd.de

Internet


Aktuelle Familien- bzw. Gattungszugehörigkeiten kann man in der Online-Datenbank IPNI (International Plant Names Index) finden: www.ipni.org sowie bei APweb www.mobot.org/MOBOT/research/APweb

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