DAZ aktuell

BGH stärkt Selbstbestimmungsrecht von Patienten

KARLSRUHE (ks/dpa). Mit einem Grundsatzurteil zur Sterbehilfe hat der Bundesgerichtshof (BGH) das Selbstbestimmungsrecht von Patienten gestärkt. Nach dem am 25. Juni verkündeten Urteil dürfen bei einem Patienten lebensverlängernde Maßnahmen auch dann abgebrochen werden, wenn der unmittelbare Sterbevorgang noch nicht begonnen hat. Auch bei bewusstlosen Patienten sei allein deren mutmaßlicher Wille entscheidend. Dabei komme es nicht darauf an, ob der Abbruch durch aktive Handlungen erfolgt, also beispielsweise das Entfernen eines Ernährungsschlauchs. (Urteil vom 25. Juni 2010, Az. 2 StR 454/09)

Der BGH sprach einen auf Medizinrecht spezialisierten Münchener Rechtsanwalt vom Vorwurf des versuchten Totschlags frei. Dieser hatte seiner Mandantin geraten, den Ernährungsschlauch durchzuschneiden, über den ihre seit Oktober 2002 im Wachkoma liegende Mutter versorgt wurde. Die Patientin hatte ihrer Tochter gesagt, dass sie in einem solchen Fall nicht künstlich ernährt werden wolle. Das Pflegeheim weigerte sich jedoch, die Ernährung zu beenden. Nach Auseinandersetzungen mit der Heimleitung kam es Ende 2007 zu einem Kompromiss, wonach das Heimpersonal sich nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinne kümmern sollte, während die Kinder der Patientin selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten. Kurz darauf beendete die Tochter die Nahrungszufuhr über die Sonde. Die Geschäftsleitung des Heimunternehmens wies jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Den Kindern der erkrankten Frau wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Am gleichen Tag erteilte der angeklagte Anwalt seiner Mandantin den Rat, den Schlauch der PEG-Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen – so geschah es auch kurz darauf. Das Heimpersonal bemerkte dies bereits nach einigen Minuten. Auf Anordnung eines Staatsanwalts wurde die Patientin gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen darauf eines natürlichen Todes aufgrund ihrer Erkrankungen.

In erster Instanz hatte das Landgericht Fulda den Anwalt wegen versuchten Totschlags zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten verurteilt. In der Revisionsverhandlung vor dem BGH hatten sowohl die Verteidigung als auch die Bundesanwaltschaft einen Freispruch gefordert – mit Erfolg. Der BGH betonte, dass die Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen aktueller Einwilligungsunfähigkeit von einem bindenden Patientenwillen auszugehen ist, zur Tatzeit wegen Differenzen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht geklärt war. Umstritten waren etwa die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen und die Frage, ob die Zulässigkeit des Abbruchs einer lebenserhaltenden Behandlung auf tödliche und irreversibel verlaufende Erkrankungen des Patienten beschränkt oder von Art und Stadium der Erkrankung unabhängig ist. Der Gesetzgeber hat diese Fragen mittlerweile durch das zum 1. September 2009 inkraftgetretene Patientenverfügungsgesetz ausdrücklich geregelt. Der Senat habe daher entscheiden können, ohne an frühere Entscheidungen anderer Senate gebunden zu sein.

Die Vorsitzende Richterin Ruth Rissing-van Saan sagte in der Urteilsbegründung, das Heim habe "kein Recht, sich über das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hinwegzusetzen". Bei der Frage, ob lebensverlängernde Maßnahmen abgebrochen werden dürfen, komme es nicht darauf an, "ob die Grunderkrankung einen irreversibel tödlichen Verlauf genommen hat". Dies regelt mittlerweile auch § 1901 a Abs. 3 BGB ausdrücklich. Entscheidend sei allein der Wille des Patienten. Hierbei zählten nicht nur schriftliche Patientenverfügungen, sondern auch mündlich geäußerte Wünsche. Die im September 2002 geäußerte Einwilligung der Patientin, die ihre Betreuer geprüft und bestätigt hatten, entfaltete damit bindende Wirkung. Sie stellte sowohl nach dem seit dem 1. September 2009 als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs dar, so das Gericht.

Bei der Abgrenzung zwischen erlaubter Sterbehilfe und verbotener Tötung auf Verlangen – auch als "aktive Sterbehilfe" bezeichnet – kommt es dem BGH zufolge nicht darauf an, ob nach dem äußeren Anschein eine aktive Handlung vorliegt. "Eine nur an Äußerlichkeiten orientierte Abgrenzung wird dem Unterschied nicht gerecht", sagte Rissing-van Saan. Der Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen könne eine Vielzahl aktiver Maßnahmen umfassen, etwa das Abschalten eines Beatmungsgeräts. "Ein zulässiger Behandlungsabbruch kann nicht nur durch Unterlassen, sondern auch durch aktives Tun vorgenommen werden."

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erklärte, das Urteil schaffe Rechtssicherheit im Spannungsfeld zwischen zulässiger passiver und verbotener aktiver Sterbehilfe. "Der freiverantwortlich gefasste Wille des Menschen muss in allen Lebenslagen beachtet werden. Es gibt keine Zwangsbehandlung gegen den Willen des Menschen", sagte die Ministerin.

Der Marburger Bund warnte allerdings vor einem falschen Verständnis des Urteils. "Der Freispruch für den Rechtsanwalt ist kein Freibrief für eigenmächtiges Vorgehen bei der Entscheidung über die Fortsetzung von lebenserhaltenden Maßnahmen", sagte der Vorsitzende der Klinikärztegewerkschaft und CDU-Bundestagsabgeordnete Rudolf Henke. Aus dem Zustand des Wachkomas dürfe nicht abgeleitet werden, dass solche Menschen per se nicht mehr leben wollten.

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