Pandemie-Diskussion

Pandemie oder nur Geschäftemacherei?

Zur Diskussion zum Jahrestag der Influenza A/H1N1/2009-Pandemieerklärung

Am 11. Juni 2009 hatte die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan, die höchste Warnstufe des Pandemiestufenplans verkündet. Die durch den neuen Influenza-A/H1N1/2009-Erreger ausgelöste Neue Grippe wurde als Pandemie eingestuft, eine umstrittene Entscheidung. Jetzt hat die Kritik daran einen neuen Höhepunkt erreicht. Hintergrund ist eine Recherche, veröffentlicht im British Medical Journal (BMJ 2010; 340:c2912). Danach haben einige der für wichtige Entscheidungen hinzugezogenen Berater Gelder von Roche und GlaxoSmithKline erhalten, Firmen die von der Pandemieerklärung in besonderem Maße profitiert haben. Die WHO-Generaldirektorin muss sich erneut gegen den Verdacht wehren, eine Pharmaindustrie-gesteuerte Entscheidung getroffen zu haben. Wir haben diese Diskussion zum Anlass genommen, nachzufragen, ob die Kritik an der WHO berechtigt ist. Wie ist das Verhalten von Wissenschaftlern zu bewerten ist, die auf der einen Seite als unabhängige Gutachter auftreten, auf der anderen Seite aber üppige Honorare der Industrie erhalten?

Ilse Zündorf

"Fataler Fehler, wenn Verflechtungen mit der Pharmazeutischen Industrie nicht offengelegt werden"


Eine Stellungnahme von Prof. Dr. Theo Dingermann und Dr. Ilse Zündorf, Frankfurt

Um es vorweg zu sagen: Keiner von uns beiden hat in den letzten fünf Jahren Honorare oder Unkostenerstattungen jeglicher Art von Firmen erhalten, die Produkte im Kontext der H1N1-Pandemie vertreiben – speziell Roche, GlaxoSmithKline oder Sanofi-Aventis!

Diese Auskunft ist wichtig, denn die Motivation zu dieser Stellungnahme ist eine Publikation im British Medical Journal, in der eine indirekte Einflussnahme bei der WHO und deren Entscheidungen zum Umgang mit der H1N1-Pandemie durch Firmen unterstellt wird, die hier mit Produkten am Markt sind. Berater sollen durch Honorare in einer Weise beeinflusst worden sein, die einen unabhängigen Rat kaum noch plausibel erscheinen lässt.

Theo Dingermann

Das ist ein schlimmer Vorwurf, denn nach den Empfehlungen der WHO zum Umgang mit der so genannten Schweinegrippe hatten etliche Länder viel Geld für Impfstoffe oder Neuraminidaseinhibitoren ausgegeben. Auch Deutschland hatte 50 Millionen Impfdosen und große Mengen an Neuraminidasehemmern geordert. Die Kosten, die die öffentliche Hand zu tragen hatte, waren enorm. Auf der anderen Seite profitierten die Impfstoffhersteller: Die internationale Investmentbank JP Morgan schätzt, dass die verkauften H1N1-Impfstoffe den Herstellern einen Gewinn von 7 bis 10 Milliarden Dollar einbrachten.

Solche Ergebnisse wären sicherlich nicht erzielt worden, wären Empfehlungen der WHO zum Umgang mit der Schweinegrippe anders ausgefallen. Waren diese Empfehlungen sachlich begründet, oder waren sie maßgeblich durch wirtschaftliche Interessen der wissenschaftlichen Berater der WHO beeinflusst? Nachforschungen des British Medical Journals und des Bureau of Investigative Journalism, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurden, legen Letzteres nahe.

Kein unabhängiger Rat von "angestellten Experten"

Tatsache ist, dass sich die WHO von Experten beraten lässt, die von den involvierten Firmen Geld erhalten oder erhalten haben. Und teilweise zahlen die Firmen derart horrende Summen, dass man schon fast von einer Art "Angestelltenverhältnis" sprechen kann. Von solchen "Experten" kann man folglich auch keinen unabhängigen Rat erwarten. Ob allerdings bereits ein Vortragshonorar und die Übernahme von Reisekosten die Unabhängigkeit eines Experten in Frage stellen, kann man auch hinterfragen.

Generalverdacht nicht gerechtfertigt

Warum sollte nicht auch die Pharmazeutische Industrie das Recht haben, einen Experten zu bitten, zu einem ihrer Produkte öffentlich Stellung zu nehmen, und warum gerät ein solcher Experte unter eine Art Generalverdacht der Befangenheit, wenn er dieser Bitte nachkommt und dafür eine Aufwandsentschädigung und ein Honorar erhält?

Der seriöse Vorwurf, den man der WHO machen kann, ist die Tatsache, dass sie ihre Entscheidungsprozesse offensichtlich nicht so transparent macht, dass Interessierte sich ein Bild über die Qualität der Berater und der Beratung der Organisation machen können, um gegebenenfalls auf Missstände aufmerksam machen zu können, bevor Entscheidungen von solcher Tragweite getroffen werden, wie sie im Falle der H1N1-Pandemie getroffen wurden.

Sachliche Würdigung nahezu unmöglich

Das Resultat ist eine Katastrophe. Vorwürfe stehen im Raum. Wieder einmal geraten "Experten" unter eine Art Generalverdacht. Eine sachliche Würdigung der Entscheidungen ist öffentlich praktisch nicht mehr möglich. Dabei wäre genau das so wichtig. Denn nicht zwingend müssen die Entscheidungen schlecht oder gar falsch sein, wenn das Verfahren zur Entscheidungsfindung problembehaftet war. Das unterstellt auch der Bericht des British Medical Journals nicht. Aber leider entsteht ein solcher Eindruck in der Öffentlichkeit durch eine auf Sensation und Skandal bedachte Berichterstattung.

Uneinsichtige Generaldirektorin

Hinzu kommt, dass die WHO in Person ihrer Generaldirektorin Margaret Chan uneinsichtig reagiert. Denn gerade weil die Entscheidungen ihrer Behörde so weitreichend sind und weil es so einfach ist, der Behörde von interessierter Seite Abhängigkeit von der und Bestechlichkeit durch die zum öffentlichen Feindbild hochstilisierte "Pharmazeutische Industrie" zu unterstellen, muss alles getan werden, das Verfahren zur Entscheidungsfindung so transparent wie möglich zu gestalten. Das jedoch ist nicht der Fall. Im Gegenteil!

Nach wie vor weigert sich die WHO, die Namen der 16 Experten bekannt zu geben, die die WHO bei der Einstufung der Pandemie beriet. Man wolle deren Namen erst bekannt geben, wenn die Kommission ihre Arbeit beendet habe, lässt die WHO verlauten. Das sei von Anfang an so geplant gewesen, unter anderem auch, um die Experten vor kommerziellen und anderen Einflüssen zu schützen. Mag sein, aber sollte man diese Absprache nicht sinnvollerweise unter dem Eindruck der aktuellen Diskussion korrigieren?

Wir meinen schon, auch um klar zu machen, dass es andere Sachverhalte gibt, die man nicht korrigieren sollte, wenn sich öffentlicher Druck aufbaut. Dazu gehören Entscheidungen, die in einem wohl präparierten Katastrophenplan vorgedacht, bekannt gemacht und verabschiedet wurden.

Hierbei denken wir an den Pandemieplan, der im Wesentlichen genauso exekutiert wurde, wie es vorgesehen war. Danach setzt die WHO die höchste Stufe sechs in Kraft, wenn das Virus in mindestens eine Region außerhalb der Ursprungsregion gewandert ist und regelmäßig von Mensch zu Mensch übertragen wird. Das war tatsächlich der Fall. Keiner kann und wird das bestreiten. Andererseits wird gerne kolportiert, dass ein anderes Kriterium zur Inkraftsetzung der Stufe sechs eine besondere Schwere der durch die Infektion verursachten Krankheit sei. Das ist aber nicht korrekt (siehe Kasten). Vielmehr wurde der für viele überraschend harmlose Verlauf der Krankheit zum Anlass genommen, anzuregen, die Pandemiesystematik hinsichtlich eines solchen Kriteriums zu überarbeiten. Bei der aktuellen Entscheidung blieb man jedoch bei der vorgegebenen Systematik, was viele nicht verstanden haben, weil es auch offensichtlich unzureichend erklärt wurde.

Einfach Glück gehabt

Man kann und sollte aus der ersten Pandemie, die nach der Erarbeitung von Pandemieplänen auftrat, Lehren ziehen und Handlungsanweisungen entsprechend anpassen. Allerdings macht man es sich zu einfach, wenn man die Situation, die zum vollen Inkrafttreten aller im Falle einer Pandemie vorgesehen Maßnahmen, als Panikmache oder Geschäftemacherei abtut. Denn wie man heute weiß, haben wir ganz einfach Glück gehabt. Es hätte auch viel schlimmer kommen können.

Positives und ...

Ein Jahr nach Ausrufen der Stufe sechs der H1N1-Pandemie kann man nach unserer Einschätzung positiv vermerken,

  • dass Katastrophenszenarien in ihren Konsequenzen simuliert und in Handlungsanweisungen, beispielsweise in Form eines Pandemieplans, fixiert werden können und dass nach diesen Anweisungen auch tatsächlich gehandelt wird, wenn der konkrete Fall eintritt und
  • dass die Pharmazeutische Industrie mit der kurzfristigen Bereitstellung eines pandemischen Impfstoffs ihre ungeheure Leistungsfähigkeit beeindruckend unter Beweis gestellt hat.

... Negatives

Negativ zu vermerken ist,

  • dass sich Störfaktoren im Ernstfall nicht ausschließen lassen. So wurden die Handlungsanweisungen im Verlauf der Pandemie von interessierten Kreisen in Frage gestellt, die nicht zu entscheiden hatten und die sich im Vorfeld der Krise ganz anders geäußert hatten. Eine kritische Analyse der Berichterstattung im Vorfeld und im Verlaufe der Pandemie würde klar zu erkennen geben, wie inkonsistent die Presse mit den Problemen umgegangen ist, was zu einer katastrophalen Verunsicherung und zu leichtsinnigem Fehlverhalten in der Bevölkerung geführt hat, das letztlich glimpflich ausgegangen ist.
  • dass versäumt wurde, alles zu tun, um auch den bloßen Eindruck zu vermeiden, dass nicht sachgetrieben sondern interessensgetrieben entschieden wird.

Schwerer Verdacht. Firmen wie GlaxoSmithKline und Roche haben von der Pandemie-Erklärung durch die WHO profitiert. War die Erklärung industriegesteuert?
Foto: GlaxoSmithKline

Fazit

Um noch einmal von unserer Seite aus klar Stellung zu beziehen:

1. Wir glauben, die WHO hat korrekt gehandelt. Ihr ging es darum – und das sieht ein Pandemie-Management so vor –, die Pandemie einzudämmen, d.h. alles Mögliche zu tun, um die Verbreitung eines zweifelsfrei potenziell sehr gefährlichen Virus zu stoppen. Das war mit Hilfe eines Pandemie-Impfstoffs möglich. Allerdings wurde das Potenzial dieser Maßnahme wegen der geringen Akzeptanz der Bevölkerung bei weitem nicht ausgeschöpft, weshalb jetzt der Eindruck entsteht, die öffentliche Hand hätte Geld verschwendet und obendrein die Pharmazeutische Industrie "unnötig reich gemacht".

2. Wir glauben aber auch, dass die WHO einen fatalen Fehler begeht, wenn sie die Verflechtungen ihrer Berater mit der Pharmazeutischen Industrie nicht offenlegt. Dies öffnet Tür und Tor für Unterstellungen, und gleichzeitig behindert ein solches Verhalten Maßnahmen, gegebenenfalls das Gremium umzubauen, falls Vergütungen einzelner (weniger) Berater durch die Industrie ein Maß überschreiten, das einen unabhängigen Expertenrat nicht mehr plausibel erscheinen lässt.

Das eröffnet die Frage, ob Experten, die Behörden oder die Öffentlichkeit beraten, gar keine Verbindungen zur Industrie haben dürfen?

Eine solche Forderung geht unseres Erachtens deutlich zu weit. Auch die Pharmazeutische Industrie kann Rat bei Experten einholen, die nicht mit dem Unternehmen verbunden sind. Und sie kann diesen Rat auch mit Zustimmung der Experten öffentlich machen oder die Experten bitten, selbst öffentlich Stellung zu nehmen. Und natürlich kann eine solche "Dienstleistung" angemessen honoriert werden. Allerdings muss das dann bei gegebenem Anlass transparent gemacht werden.

Dies ist gängige Praxis bei Publikationen in angesehenen internationalen Journalen, und keines dieser Journale käme auf die Idee, eine gute Publikation abzulehnen, wenn Honorarzahlungen offengelegt werden.

Eigentlich ist es nicht erstaunlich, dass gerade die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am häufigsten um Rat gefragt werden. Man könnte es auch so formulieren, wie es kürzlich der Neurologe Prof. David Simpson formulierte, der in diesem Jahr mit der Friedrich-Merz-Stiftungsgastprofessur ausgezeichnet wurde: "Wer noch niemals von einem pharmazeutischen Unternehmen um einen fachlichen Rat gebeten wurde, ist kein Experte"!

Wir möchten zum Schluss dieser kleinen Betrachtung noch einmal den Spiegel zitieren. In ihrem Beitrag vom 9. Juni 2010 mit dem Titel "Wie die WHO das Vertrauen der Verbraucher verseucht" schreibt Cinthia Briseño:

"Auch die Autoren des "BMJ"-Berichts störten sich nicht so sehr an den Interessenkonflikten an sich", was im Übrigen so klar aus dem ein oder anderen Bericht über die Publikation nicht hervorgeht. "Vielmehr kritisieren sie die mangelnde Transparenz der WHO in Fällen, in denen Influenza-Experten neben ihrer Beratertätigkeit auch Verbindungen zur – von der Grippe profitierenden – Pharmaindustrie unterhalten."

Dies ist eine berechtigte Kritik, wie auch wir betonen möchten.

Autoren 

Prof. Dr. Theo Dingermann, Dr. Ilse Zündorf, 
Institut für Pharmazeutische Biologie, 
Biozentrum, 
Max-von-Laue-Str. 9, 
60438 Frankfurt

Wurden die Pandemiekriterien geändert?


In vielen Beiträgen zu dem Thema wird moniert, dass die Pandemiekriterien erst im Laufe der Schweinegrippe geändert wurden und dadurch der Weg für die enormen Einnahmen der Pharmazeutischen Industrie bereitet wurde. Eine für Dingermann und Zündorf glaubhafte Aufarbeitung der Problematik zum Thema "Pandemie - und Schwere der Erkrankung" findet man unter http://www.impfblog.de/2009/12/schaffen-wir-klarheit-pandemie-definition-der-who/.

Auch der "Spiegel", der nach Meinung von Dingermann und Zündorf über die Ereignisse rund um die Schweinegrippe sehr gut berichtet hat und auch Fehleinschätzungen zugegeben hat, schreibt in einem Beitrag vom 8. März 2010:

... "Ich denke, wir haben alles richtig gemacht", sagt der Vorsitzende Mackenzie* rückblickend. Und formal hat er damit sogar recht. Denn die Regularien besagen, dass Stufe 6 in Kraft tritt, wenn sich ein neues Virus unkontrollierbar in mehreren Regionen der Erde verbreitet. Über die Schwere der Erkrankung sagen sie nichts.

Tatsächlich aber verbinden die allermeisten Seuchenexperten den Begriff der "Pandemie" automatisch mit wirklich aggressiven Viren. Auf der Website der WHO etwa ist in der Antwort auf die Frage "Was ist eine Pandemie?" von "einer enormen Anzahl von Todes- und Krankheitsfällen" die Rede - jedenfalls bis zum 4. Mai 2009. Dann machte ein CNN-Reporter die Seuchenschützer auf den Widerspruch zur eher mild verlaufenden Schweinegrippe aufmerksam, und diese Passage wurde umgehend getilgt.

Auch die deutschen Seuchenschützer haben die offizielle WHO-Definition der Phase 6 offenbar gründlich missverstanden. Bei einer Influenza-Pandemie, heißt es im 2007 aktualisierten nationalen Pandemieplan, handle es sich um "eine lang anhaltende, länderübergreifende Großschadenslage". Sie verursache "derart nachhaltige Schäden, dass die Lebensgrundlage zahlreicher Menschen gefährdet oder zerstört wird".

Davon kann am 11. Juni 2009 keine Rede sein. Kritiker fragen spöttisch, ob die WHO demnächst auch einen neuen Schnupfen zur Pandemie erklären wolle. "Manchmal denken einige von uns, WHO steht für Welt-Hysterie-Organisation", meint Richard Schabas, einstmals Gesundheitschef der kanadischen Provinz Ontario ...

* John Mackenzie ist der Vorsitzende des Emergency Committee der WHO, also des 16köpfigen Gremiums, das die WHO-Generaldirektorin Margaret Chan beraten hat.

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