Arzneimittel und Therapie

Rasche Gewichtszunahme unter atypischen Neuroleptika

Gewichtszunahme ist eine bekannte Nebenwirkung atypischer Neuroleptika. In einer amerikanischen Studie nahmen Kinder und Jugendliche unter einer erstmaligen Behandlung mit Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin bzw. Risperidon jedoch ungewöhnlich rasch zu: innerhalb von nur elf Wochen gelangten zwischen 10 und 36% von ihnen in den Status des Übergewichts oder der Fettleibigkeit.

In den USA werden atypische Neuroleptika häufig und in zunehmendem Maße Kindern und Jugendlichen verordnet. Man vermutet jedoch inzwischen, dass diese Altersgruppe für die Nebenwirkungen dieser Substanzen (vor allem Gewichtszunahme, Bluthochdruck, Störungen im Lipid- und Kohlenhydratstoffwechsel) teilweise viel empfänglicher ist als Erwachsene. Bisher war die Datenlage zu dieser Problematik sehr gering. Amerikanische Wissenschaftler initiierten eine Studie, die den Einfluss der atypischen Neuroleptika Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin und Risperidon auf das Körpergewicht sowie kardiovaskulär bedeutsame Parameter des Lipid- und Kohlenhydratstoffwechsels untersuchte. In die nicht randomisierte Kohortenstudie wurden 338 Kinder und Jugendliche im Alter von vier bis 19 Jahren mit Schizophrenie, Gemütserkrankungen oder aggressiven Verhaltensstörungen eingeschlossen. Die Besonderheit: die Studienteilnehmer waren Therapie-naiv, das heißt sie erhielten zum ersten Mal eine antipsychotische Medikation. Die Studiendauer betrug zwölf Wochen, 205 Patienten beendeten die Studie. Primärer Endpunkt war die absolute und relative Gewichtszunahme. Zu den sekundären Endpunkten zählten z. B. der BMI, Parameter des Lipidstoffwechsels wie Gesamtcholesterol, LDL, HDL und Triglyzeridspiegel und die Glucosekonzentration im Blut.

Nach median 10,8 Wochen Behandlungsdauer wurden folgende Gewichtszunahmen beobachtet: unter Aripiprazol 4,4 kg (n = 45), unter Risperidon 5,3 kg (n = 135), unter Quetiapin 6,1 kg (n = 36) und unter Olanzapin sogar 8,5 kg (n = 45). Jede der antipsychotischen Medikationen führte zu einer signifikanten Zunahme der Fettmasse und des Taillenumfanges und zu Übergewicht bzw. Fettleibigkeit entsprechend den BMI-Perzentilen (Übergewicht bei ≥ 85. bis < 95. Perzentile, Fettleibigkeit bei > 95. Perzentile). Auch bezüglich der Lipidparameter wurden signifikante Anstiege beobachtet, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. So kam es beispielsweise unter Olanzapin und Quetiapin zu signifikanten Erhöhungen von Gesamtcholesterol, non-HDL-Cholesterol und Triglyceriden. Unter Risperidon dagegen stiegen nur die Triglyzeridspiegel signifikant an. Unter Aripiprazol und Olanzapin, jedoch nicht unter Quetiapin und Risperidon, wurden signifikante Anstiege des LDL-Cholesterols beobachtet. Nach Auswertung der Daten zum Kohlenhydratstoffwechsel zeigte sich, dass Patienten, die Quetiapin erhalten hatten, eine mäßig höhere Inzidenzrate von Hyperglykämien und metabolischem Syndrom aufwiesen.

Zulassungsstatus: Atypische Neuroleptika bei Kindern und Jugendlichen


  • Aripiprazol (Abilify®): zur Behandlung der Schizophrenie bei Jugendlichen ab 15 Jahren
  • Risperidon (z. B. Risperdal®): zur symptomatischen Kurzzeitbehandlung (bis zu sechs Wochen) von anhaltender Aggression bei Verhaltensstörung bei Kindern im Alter ab fünf Jahren und Jugendlichen mit unterdurchschnittlicher intellektueller Funktion oder mentaler Retardierung
  • Olanzapin (z. B. Zyprexa®) und Quetiapin (z. B. Seroquel®): nicht unter 18 Jahren zugelassen.

Limitationen der Studie

Die Autoren betonen, dass die Studie gewisse Limitationen besitzt, da es sich um eine nicht randomisierte Beobachtungsstudie handelt, bei der die Dosis flexibel gehandhabt wurde und Komedikationen erlaubt waren. Die Behandlungsdauer war relativ kurz und die Vergleichsgruppe klein (n = 15). Als Vorteil wurde hervorgehoben, dass eine relativ große Gruppe Antipsychotikanaiver Patienten unter "wirklichkeitsnahen" Bedingungen untersucht wurde. Die Vermutung, dass bezüglich einer Gewichtszunahme unter Antipsychotika Jugendliche empfänglicher sein sollen als Erwachsene, wird nach Meinung der Autoren im Vergleich zu früheren Studien jedoch nicht bestätigt. Sie empfehlen, dass in entsprechenden Leitlinien sowohl bei Jugendlichen als auch Erwachsenen unter erstmaliger antipsychotischer Medikation nach den ersten drei Behandlungsmonaten häufiger (z. B. zweimal jährlich) ein kardiometabolisches Monitoring erfolgen sollte. Die Vorteile der Neuroleptika der 2. Generation müssten stärker gegen ihre möglichen Nebenwirkungen abgewogen werden.

Quelle

Correll, C.; et al.: Cardiometabolic risk of antipsychotic medications during first-time use in children. J. Am. Med. Assoc. 2009; 302(16), 1765 – 1773.

Varley. Ch. K.; et al.: Implications of marked weight gain associated with atypical antipsychotic medications in children. JAMA 2009; 302(16), 1811 – 1812.

Rote Liste online (www.rote-liste.de)


Apothekerin Dr. Claudia Bruhn

Kommentar


In Deutschland werden bei Kindern und Jugendlichen deutlich weniger Antipsychotika der neueren Generation verordnet als in den USA. Es besteht nämlich für diese Altersgruppe teilweise keine Zulassung, so dass Verordnungen häufig off-label erfolgen müssen. Die für die vier gemeinsam untersuchten Substanzen Olanzapin, Quetiapin, Risperidon und Aripiprazol berichteten unerwünschten Wirkungen (vor allem Gewichtszunahme, mit Zunahme von Fettgewebe und Taillenumfang) entsprechen der klinischen Erfahrung ebenso wie die für Einzelsubstanzen festgestellten Effekte auf das metabolische System, die Blutfette und Triglyzeride. Die beobachtete erhöhte Sensitivität jüngerer Menschen (jünger als 25. Lebensjahr, Ersttherapie) für diese Nebenwirkungen sind biologisch plausibel und entsprechen unserem Erfahrungswissen. Es fehlten bisher aber im Kinder- und Jugendbereich aussagekräftige Studien – weil ethische und juristische Erwägungen die Studiendurchführung erschweren. Langzeiteffekte konnten auch in dieser Drei-Monats-Studie nicht untersucht werden. Weiterführende Studien sind also nötig.

Die Ergebnisse der Studie machen darauf aufmerksam, dass Neuroleptika nicht leichtfertig, sondern nur indikationsgerecht bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden sollten und ihre Verordnung eine gründliche Nutzen-Schaden-Abwägung erfordern. Die diskutierten Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, metabolisches Syndrom, Blutfette, Triglyzeride müssen im Behandlungsverlauf ebenso wie der Behandlungserfolg engmaschig kontrolliert werden, um ggf. ein an den Nebenwirkungen orientiertes Umsetzen bzw. Absetzen möglich zu machen; ebenso muss auf fehlendes Ansprechen schnell reagiert werden. Darüber hinaus ist besonders bei pubertierenden Mädchen/jungen Frauen auf die Folgen einer neuroleptisch-induzierten Prolaktinerhöhung und deren Folgen für die sexuelle Entwicklung hinzuweisen. Praktisch ist aus solchen Untersuchungen die Pflicht des verordnenden Arztes zum regelmäßigen Monitoring der Nebenwirkungen abzuleiten (Blutentnahmen und Laborkontrolle, Messung des Bauchumfangs). Natürlich besteht auch eine Aufklärungspflicht bezüglich der berichteten Nebenwirkungen.

Die durch diese Sachlage für die Behandlungspraxis gegebene Problematik ist brisant, weil für die Hauptindikationen Psychose und bipolare Störungen kaum Alternativen zur Verfügung stehen; für Alternativen, wie z. B. das in den USA nicht verfügbare und damit auch dort nicht geprüfte Antipsychotikum der neueren Generation Amisulprid liegen keine analogen Daten aus industrieunabhängigen Studien (zu diesem Thema ist lediglich die industriefinanzierte SOHO-Studie bei Erwachsenen zu nennen) vor. Insgesamt sind auch in Deutschland Phase IV-Studien zur Arzneimittelsicherheit und zur Wirkung von Therapien unter klinischen Alltagsbedingungen (analog der vorliegenden Studie) zu fordern – und zwar unabhängig von der Industrie. In Deutschland besteht hierfür jedoch nur eine völlig unzulängliche Förderung mit öffentlichen Mitteln. Die industriefinanzierten Zulassungsstudien bilden das Nutzen-/Risikoverhältnis nur unzureichend ab.

Die erhobene Forderung nach gesonderten Leitlinien für den Neuroleptika-Einsatz bei Kindern und Jugendlichen muss nachhaltig unterstützt werden.

Prof. Dr. Wolfgang Maier, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn

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