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Weniger Regulierung – mehr Verträge

BAD ZWISCHENAHN (tmb). Bei der künftigen Gestaltung des Gesundheitssystems in Deutschland werden Verträge zunehmend bedeutsam. Doch wie weit dürfen Verträge gehen, wer wird daran beteiligt und welche Arzneimittel werden betroffen sein? Darum ging es am zweiten Tag des diesjährigen Zwischenahner Dialogs. Außerdem wurde deutlich, dass auch die Europäische Union ein wichtiger Player für die nationalen Gesundheitssysteme bleibt.
Im Gesundheitsbereich sind nationale Antworten gefragt; Dr. Jens Gobrecht, Leiter des Brüsseler ABDA-Büros
Fotos: DAZ/tmb

Dr. Jens Gobrecht, Leiter des Brüsseler ABDA-Büros, erklärte die Abläufe bei der Gesetzgebung in der Europäischen Union und betonte, dass es der Union untersagt ist, durch Harmonisierung ein einheitliches Gesundheitssystem zu schaffen. Auch Beschränkungen des Binnenmarktes sind zulässig, soweit sie durch gesundheitliche Ziele gerechtfertigt sind. Dennoch seien immer wieder Versuche der Europäischen Kommission zu erkennen, stärkeren Einfluss auf den Gesundheitsbereich zu nehmen. Zudem hätten die Mitgliedsländer immer weniger Steuerungskompetenz, die nötig sei, um ihre vertraglich festgelegte Zuständigkeit für das Gesundheitswesen tatsächlich umzusetzen. Vor diesem Hintergrund müssten die EU-Mitgliedstaaten nationale Antworten auf die demografischen Herausforderungen und die Gesundheitsungleichheiten in der Gesellschaft finden, weil die EU diese Probleme sonst zum Anlass nehmen könnte, ihren Einfluss auf die nationalen Gesundheitssysteme zu vergrößern.

Gobrecht konstatierte ein schlechtes Image der Pharmaindustrie in der öffentlichen Wahrnehmung und bei der Politik. Er riet der Industrie, sich auf die Forschung zu konzentrieren und ein Image der sozialen Verantwortlichkeit aufzubauen. Seines Erachtens würden die innovationsstärksten Unternehmen künftig den größten Erfolg haben. Der besondere Bedarf älterer Menschen sei noch nicht genügend erforscht. Die Lebenserwartung wachse derzeit stärker als die Zahl der gesund verbrachten Lebensjahre.


Dauerthema Mehrwertsteuer


Die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel ist ein Dauerthema. Beim Zwischenahner Dialog kritisierte Peter Buschmann die hohe Belastung der Krankenkassen durch die deutsche Mehrwertsteuer. Dr. Jens Gobrecht machte deutlich, dass die unterschiedlichen Steuersätze auch internationale Vergleiche zu Arzneimittelpreisen und -ausgaben verzerren.

Beide erläuterten dies mit einem Blick auf die EU: Die volle Mehrwertsteuer auf Arzneimittel erheben in der EU nur Dänemark (25 Prozent), Bulgarien (20 Prozent) und Deutschland (19 Prozent). In manchen EU-Ländern werden für unterschiedliche Arzneimittel verschiedene Steuersätze angewendet. Beispielsweise gibt es in Österreich keine Mehrwertsteuer auf erstattete Arzneimittel, sonst gelten 20 Prozent Mehrwertsteuer. Auch in Frankreich wird anhand der Erstattung unterschieden. In Schweden, Spanien und den Niederlanden gelten jeweils verschiedene Mehrwertsteuersätze für verschreibungspflichtige und andere Arzneimittel.


Die Schere wird weiter zwischen Einnahmen und Ausgaben im Gesundheitswesen: Brigitte Käser, AOK Niedersachsen

Neue Weichenstellung für das System

Brigitte Käser, AOK Niedersachsen, stellte fest, dass die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben im Gesundheitswesen immer weiter auseinander geht. Bei Nicht-Festbetragsarzneimitteln sei die Packungszahl seit 2004 deutlich gesunken, der Umsatz aber gestiegen, bei Arzneimitteln mit Festbetrag bestehe der umgekehrte Trend. Wie viele andere Teilnehmer des Zwischenahner Dialogs möchte auch Käser hinterfragen, welche Regulierungsinstrumente wirksam sind. Doch sollten bestehende Maßnahmen erst abgeschafft werden, wenn neue Strukturen Wirkung zeigen.

Als Prämissen für ein neues Konzept betrachtet sie den sofortigen Zugang zu echten Innovationen, die Stärkung von Innovationsanreizen, ein wettbewerbliches Preisbildungssystem und einen ordnungspolitischen Rahmen. Der GKV-Spitzenverband und der AOK-Bundesverband schlagen dazu einen erhöhten Herstellerabschlag, eine niedrigere Großhandelsmarge, einen festgeschriebenen Apothekenabschlag, einen Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent und eine vierte Hürde für neue Arzneimittel vor. Doch Käser fragte: "Warum sollte es Rabattverträge über Solisten geben?" Denn die Kassen könnten hier nicht die Nachfrage steuern. Bei solchen Verträgen bestehe die Gefahr, dass einzelne Kassen im Wettbewerb hohe Preise akzeptieren würden, die dann praktisch von allen Kassen gezahlt werden müssten. Dagegen hält sie die Grundidee der Schnellbewertung von Innovationen für richtig, erwartet aber noch eine große Methodendiskussion dazu. An anderer Stelle sprach sie sich jedoch für eine Ausweitung der Vertragsfreiheit aus: Nach Ansicht von Käser sollten die Hersteller stärker als Partner in Verträge über Versorgungsmodelle einbezogen werden. Die medizinische Versorgung sollte nicht ohne das große Know-how der Hersteller über ihre Produkte organisiert werden.


Industrie und Kassen müssen über Preise reden: ABDA-Präsident Heinz-Günter Wolf

Verträge – ja, aber wie weit?

Dr. Oliver Keinke, Essex Pharma, äußerte sich "hoch erfreut" über eine solche Rolle der Industrie "als Koproduzent von Gesundheit". Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Rolle von Verträgen in einem künftigen Gesundheitssystem. Peter Buschmann, Hamburg, meinte, es müsse nicht alles für alle Kassen einheitlich geregelt sein, Krankenkassen sollten sich als Marken im Wettbewerb etablieren können. ABDA-Präsident Heinz-Günter Wolf forderte: "Industrie und Kassen müssen über Preise reden." Doch sieht er für Verträge auch eine Grenze. "Es geht um den Zugang für die Versicherten", so Wolf. Es dürfe nicht sein, dass nur einzelne große Kassen einen Preis für eine Innovation aushandeln könnten, und die Versicherten anderer Kassen damit nicht versorgt werden könnten. Auch Käser betrachtet Innovationen als Teil der Grundversorgung, weil die soziale Grundsicherung sonst keinen Wert mehr habe. Wenn es aber um Nicht-Solisten gehe, sollten die Vertragskomponenten gestärkt werden, meinte Käser. Damit ging es auch um die Frage, inwieweit Arzneimittel substituierbar sind. Dazu verwies Käser auf vielfältige Diskussionen über Analogarzneimittel. Doch erklärte Dr. Rainer Woltmann, Vorsitzender der Ärztegenossenschaft Niedersachsen-Bremen, dies sei in der ärztlichen Praxis irrelevant, denn er müsse für einzelne Patienten beispielsweise aus vielen Antidepressiva auswählen können, von denen einige sicher als "Me-too-Produkte" gelten würden. Keinke erklärte, dass die Leitsubstanzen vieler Gruppen meist "Analogpräparate" seien, der Begriff "me-too" sei daher unpassend und sollte nicht verwendet werden.

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