Interpharm 2010

Keine adäquate Therapie

Depressionen werden beim alten Menschen häufig nicht erkannt und oftmals nicht behandelt, obwohl eine medikamentöse Therapie gut und erfolgreich durchzuführen ist. Das Problem bei alten Patienten ist nicht die fehlende Wirksamkeit der zur Verfügung stehenden Mittel, sondern das Unterlassen einer Pharmakotherapie, so Prof. Dr. Walter E. Müller, Frankfurt.


Inhaltsverzeichnis: Interpharm 2010

    Blutgerinnungssystem
  • Das Blutgerinnungssystem: Funktionen und physiologisches Zusammenspiel
  • Pathophysiologie: Wenn die Blutgerinnung gestört ist
  • Hämostasediagnostik: Wie Störungen der Gerinnung zu erkennen sind
  • Arterielle Thromboembolien: Ischämische Infarkte differenziert behandeln
  • Venöse Thromboembolien: Heparine sind individuelle Arzneistoffe
  • Blutgerinnungshemmer: Mit Interaktionen und Nebenwirkungen richtig umgehen
  • Operation unter dualer Plättchenhemmung? Perioperatives Prozedere individuell entscheiden
  • Non-Compliance und genetische Polymorphismen: Wenn Patienten auf ASS oder Clopidogrel nicht ansprechen
  • Unter oraler Antikoagulation: Besondere Aufmerksamkeit des Apothekers ist gefragt
    Asthma und COPD
  • Raucherentwöhnung: Die Nicotinsucht blockieren!
  • COPD: Beste Therapieoption: Weg mit dem Glimmstängel
  • Leitlinienkonforme Asthmabehandlung: Therapiedefizite bei Asthma überwinden
  • Asthmapatienten in der Apotheke: Anwendungsfehler bei Inhalativa vermeiden
    Studien
  • Arzneimittelstudien: Tricks zur Bewertung
  • Studien bewerten: Keine Angst vor Statistik
    Innovationen
  • Arzneimittel in der Pipeline: Fortschritte mit neuen und bekannten Wirkprinzipien
    Depressionstherapie
  • Depressionen im Alter: Keine adäquate Therapie
  • Jugend- und Midlife-Depressionen: Multimodale Therapie verringert Rückfallrisiko
  • Mikronährstoffe: Unterstützung der Depressionstherapie (Seminar)
    Neuro-Enhancement
  • Neuro-Enhancement: Riskantes „Hirndoping“ oder legitime Leistungsstütze?
  • Neuro-Enhancement: Selbstversuche ersetzen keine Studien
    Prävention und Alternativmedizin
  • Prävention mit Mikronährstoffen: Das Potenzial ausschöpfen!
  • Gesundheitsförderung: Apotheker als kompetente Präventionsmanager
  • Prophylaxe: Mit Homöopathie vorbeugen
  • Biochemie nach Dr. Schüßler: Antlitzanalyse hilft bei der Mittelauswahl
    Seminare
  • Reisemedizin: DIE Reiseapotheke gibt es nicht
  • Chemikalien in der Apotheke: Einstufung und Kennzeichnung von Gefahrstoffen
  • Arbeitsrecht: Der Apothekenleiter als Arbeitgeber


Prof. Dr. Walter E. Müller

Foto: DAZ/Alex Schelbert

Depressionen bei älteren Menschen werden oft verkannt, da sowohl psychische wie somatische Symptome der Erkrankung als Folge der Lebensumstände und nicht als Ausdruck einer Krankheit angesehen werden. Prof. Dr. Walter E. Müller wies darauf hin, dass sich Depressionen im Alter etwas von Depressionen in anderen Lebensabschnitten unterscheiden. Im Vordergrund stehen Somatisierungssymptome, die eine Depression überdecken können. Hinzu kommen vegetative Störungen, Angstgefühle, Todesgedanken, Wahnvorstellungen und kognitive Beeinträchtigungen, die eine Demenz vortäuschen. Es besteht eine Tendenz zur Chronifizierung der Erkrankung. Trotz der tendenziell milderen Symptomatik (im Vergleich zur Krankheitssymptomatik im mittleren Lebensabschnitt) nimmt im Alter die Zahl der Suizide unter der Erkrankung dramatisch zu. Man schätzt, dass Suizide im Alter – vor allem bei Männern – in hohem Maße aufgrund einer Depression begangen werden.

Die Ursachen der Depression sind nicht bekannt. Neurobiologische Veränderungen im ZNS, körperliche Defizite, hirnorganische Schwächen und biografische Erfahrungen können die Erkrankung auslösen, sie aber nicht verursachen. Der häufig konstruierte Zusammenhang zwischen einem einschneidenden Ereignis ("der Patient ist depressiv, weil sein Lebenspartner gestorben ist" oder "der Patient ist depressiv, weil er krank und einsam ist") ist falsch. Eine Belastung kann modulierend wirken, ist aber nicht der ursächliche Grund für eine Depression.


Besonderheiten im Senium


Patienten im höheren und hohen Lebensalter weisen einige für die psychopharmakologische Behandlung relevante Besonderheiten auf:

  • altersbedingte Veränderungen von Pharmakokinetik und -dynamik (Resorption, Elimination)
      – Plasmaproteinbindung Albumin ↓
      – Plasmaproteinbindung saures α1-Glykoprotein ↑
      – Verteilungsvolumen ↑
      – renale Elimination ↓
      – First-pass-Metabolismus ↓
      – hepatische Elimination ↓
  • erhöhte Rezeptorempfindlichkeit
      – Abnahme der α- und β-Rezeptordichte bzw. -funktion
      – Abnahme der 5-HT1- und 5-HT2-Rezeptordichte
      – Abnahme der β-Rezeptorplastizität
      – Zunahme von Imipraminbindungsstellen
  • (hirn)organische Vorschädigung bzw. somatische Komorbidität
  • Multimedikation mit konsekutiv erhöhter Arzneimittelinteraktionsgefahr


Bei Altersdepressionen kommt es zu einer Symptomverschiebung, es treten häufiger auf:

  • vegetative Störungen
  • körperliche Angstsymptome
  • hypochondrisch geprägte Befürchtungen
  • Todesgedanken
  • Wahnvorstellungen
  • kognitive Störungen (bis zur depressiven Pseudodemenz)

Pharmakotherapie

Obwohl Depressionen bei alten Menschen gut medikamentös behandelt werden können, erhält nur ein Bruchteil der Betroffenen eine adäquate Therapie. Unter Berücksichtigung einiger altersbedingter pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Veränderungen ist eine Pharmakotherapie gut durchführbar. Zu beachten sind ein erhöhtes Verteilungsvolumen und eine verlangsamte renale Elimination, so dass das Fließgleichgewicht nur langsam erreicht wird (go slow, continue slow). Trizyklische Antidepressiva sollten nicht mehr oder nur in begründeten Einzelfällen eingesetzt werden. Geeignet erscheinen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, vor allem Citalopram oder Escitalopram, die nur ein geringes Interaktionspotenzial aufweisen (siehe Tabelle). Dies spielt vor allem eine Rolle, wenn der alte Patient aufgrund seiner Multimorbidität bereits mehrere Medikamente einnimmt. Das häufig praktizierte Vorgehen, ein notwendiges Antidepressivum nicht zu verabreichen, um dem Betroffenen eine zu komplex erscheinende Medikamenteneinnahme zu ersparen, ist falsch und kann gravierende Folgen haben. An einem Antidepressivum, so Müller, sollte zuletzt gespart werden, auch, um dem alten Patienten zu einer besseren Lebensqualität zu verhelfen und mögliche Folgen wie eine soziale Isolierung oder die Einweisung in ein Pflegeheim zu verhindern.


pj

Relevante Antidepressiva im Alter

Wirkstoff
Besonderheiten bei älteren Patienten
Dosis (mg/d)
Nortriptylin
  • von den Trizyklika für die Anwendung bei älteren Patienten wegen geringer anticholinerger Effekte am ehesten geeignet
  • kardiotoxisch bei Überdosierung
  • Spiegelkontrolle erforderlich
  • Vorsicht bei Suizidalität.
25 –150
Citalopram/
Escitalopram
  • maximale Selektivität für Serotonin
  • wenig Interaktionen
  • wegen möglicher Hyponatriämie sind Elektrolytkontrollen erforderlich
  • Thrombozytenaggregationshemmung
  • extrapyramidalmotorische Symptome möglich
10 – 30/
5 – 20
Sertralin
  • etwas erweitertes Spektrum mit Wirkung auf Noradrenalin- und Dopaminwiederaufnahme
  • wenig Interaktionen
  • wegen möglicher Hyponatriämie sind Elektrolytkontrollen erforderlich
  • Thrombozytenaggregationshemmung
  • extrapyramidalmotorische Symptome möglich
50 – 200
Venlafaxin
  • wie SSRI
  • in höheren Dosen sind außerdem Harnverhalt und Blutdrucksteigerung möglich
  • Vorsicht bei Glaukom
  • gute Wirksamkeit bei Schmerzsymptomatik
  • möglicherweise Vorteile bei kognitiven Defiziten
37,5 – 300
Duloxetin
  • wie SSRI
  • außerdem sind Harnverhalt und Blutdrucksteigerung möglich
  • Vorsicht bei Glaukom
  • gute Wirksamkeit bei Schmerzsymptomatik
  • möglicherweise Vorteile bei kognitiven Defiziten
60
Mirtazapin
  • initial sedierend
  • vor allem in niedrigen Dosen schlafanstoßend
  • Appetit- und Gewichtszunahme sind möglich, aber keine direkte Verschlechterung der Glucosetoleranz
15 – 60
Reboxetin
  • Harnverhalt möglich
  • möglicherweise Vorteile bei kognitiven Defiziten
4 – 6

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