Interpharm 2010

"Aus Fehlern lernen, die man nicht zugibt …"

Es ist ruhiger geworden um die "Schweinegrippe". Die Zeiten, in denen sie die Schlagzeilen der Tagespresse beherrschte, sind vorbei. Jetzt werden erste Bilanzen gezogen. Diejenigen, die die Maßnahmen in Zusammenhang mit dem neuen Erreger Influenza A/H1N1 kritisch gesehen haben, fühlen sich in ihren Positionen bestätigt und fordern Konsequenzen. Manch ein Verfechter des Pandemieplans ist dagegen überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Welche Lehren aus der "A/H1N1-"Pandemie" zu ziehen sind, das war auch Thema einer Podiumsdiskussion auf der Interpharm am 13. März 2010 in Frankfurt.
 

Unter Moderation von Dr. Klaus G. Brauer, Geschäftsführer des Deutschen Apotheker Verlags diskutierten Dr. Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane-Zentrums Freiburg, Prof. Dr. Klaus Cichutek, Präsident des Paul Ehrlich-Instituts in Langen, Prof. Dr. Theodor Dingermann, Lehrstuhl für Pharmazeutische Biologie, Universität Frankfurt, und Walter Frie, Referatsleiter Pharmazie, Arzneimittel- und Apothekenwesen beim Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen.

Ein "pandemischer Rohrkrepierer?"

Die schwache Pathogenität des neuen A/H1N1-Erregers hat im Nachhinein dazu geführt, dass wesentlich weniger Menschen durch ihn gestorben sind als befürchtet. Im Rückblick hat dieses im Vergleich zu manchen saisonalen Grippeviren relativ harmlose Virus zumindest auf der Südhalbkugel die saisonalen Grippeviren verdrängt und so viele Menschen vor einem Grippetod bewahrt. Hat dieser neue Erreger nun tatsächlich eine gefährliche Pandemie ausgelöst oder war die viel zitierte Pandemie in Wirklichkeit ein pandemischer Rohrkrepierer? Macht es wirklich Sinn, die Definition der WHO zur Pandemie national 1:1 zu übernehmen, die die Pathogenität des neuen Erregers zunächst nicht berücksichtigt? Oder sollte eine Pandemie erst ausgerufen werden, wenn klar ist, dass es sich um einen Erreger handelt, der schwere Erkrankungen mit oft tödlichem Verlauf hervorruft?

Hierzu machte Cichutek deutlich, dass bei Auftreten eines neuen Erregers Aussagen zur Schwere des Verlaufs schwierig zu treffen seien. Damit wird begründet, dass die Pathogenität des Erregers für die Definition des Beginns einer Pandemie ungeeignet ist. Cichutek betonte, dass die Pandemie noch nicht zu Ende sei, der Erreger immer noch kursiere und die Krankheitsverläufe in den verschiedenen bislang betroffenen Ländern durchaus unterschiedlich waren. Nach Ansicht Frie‘s und in den Augen vieler Menschen war es in Wirklichkeit keine richtige Pandemie. Er sprach von einer kleinen Übungspandemie. 

Dr. Klaus G. Brauer, Geschäftsführer des Deutschen Apotheker Verlags, Stuttgart: "Generalprobe misslungen!"

Richtige Lehren könne man daraus nicht ziehen. Hierzu machte Cichutek deutlich, dass bei Auftreten eines neuen Erregers Aussagen zur Schwere des Verlaufs schwierig zu treffen seien. Damit wird begründet, dass die Pathogenität des Erregers für die Definition des Beginns einer Pandemie ungeeignet ist. Cichutek betonte, dass die Pandemie noch nicht zu Ende sei, der Erreger immer noch kursiere und die Krankheitsverläufe in den verschiedenen bislang betroffenen Ländern durchaus unterschiedlich waren. Nach Ansicht Frie‘s und in den Augen vieler Menschen war es in Wirklichkeit keine richtige Pandemie. Er sprach von einer kleinen Übungspandemie. Richtige Lehren könne man daraus nicht ziehen.

Zahlenspekulationen

In Deutschland geht man zurzeit von etwa 225.000 bestätigten Influenza-A/H1N1-Infektionen aus. 241 Todesfälle werden mit dem neuen Erreger in Verbindung gebracht, 16.000 weltweit. Hinter solche Zahlen muss man nach Antes ein großes Fragezeichen setzen. Ob die Todesfälle ursächlich mit dem neuen Erreger in Zusammenhang gestanden haben, das könne nie zu 100% beantwortet werden, so Antes. Und wenn 10.000 Erkrankungen gemeldet würden, müsse man davon ausgehen, dass die Zahl in Wirklichkeit deutlich höher liege. Ob 5-fach, 10-fach oder 15-fach, dass könne niemand sagen. Er sprach von einem Blindflug und forderte mehr Anstrengungen in der begleitenden Forschung, um zu verlässlicheren Zahlen zu kommen. Es sei eine generelle deutsche Schwäche, dass man sich mit untauglichen Systemen zufrieden gebe. Wer 500 Millionen Euro für Impfstoffe ausgebe, könne auch 150.000 Euro für eine Studie zur Verfügung stellen.

Dass die Zahlen nicht absolut sicher sind, das räumte auch Cichutek ein. Aber sie seien gut und sie reichten aus. Wenn man eine Verbesserung fordert, dann müsse man auch die Frage beantworten, was bessere Zahlen bringen und was sie kosten. Mit besseren Zahlen hätte man nach Ansicht von Antes zumindest das Bestellchaos verhindern können. In den Augen von Cichutek hat es jedoch kein Bestellchaos gegeben. Die im Rahmen der Pandemieplanung getroffenen Vorkehrungen hätten sich bewährt.

Alles richtig gemacht

Fakt ist, dass von den Bundesländern 50 Millionen Impfstoffdosen des adjuvantierten Influenza-A/H1N1-Impfstoffs Pandemrix® geordert worden sind, von denen dann letztlich 34 Millionen Dosen abgenommen werden mussten. Doch die Impfbereitschaft sowohl in den medizinischen Berufen als auch in der Bevölkerung war und ist gering. Nur etwa 5 bis 10% der deutschen Bevölkerung haben sich gegen die Neue Grippe impfen lassen, so dass die Länder wohl auf den Kosten von Millionen Impfstoffdosen sitzen bleiben werden.

 

Prof. Dr. Klaus Cichutek, Präsident des Paul Ehrlich-Instituts in Langen, zur Impfung: "Es war kein Großversuch, das Adjuvans war zuvor an 30 Millionen Menschen verimpft worden!"
Dr. Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane-Zentrums Freiburg: "Die Bundestagswahl war ein Riesen­faktor in der Geschichte, um nicht die Wahl zu verlieren, weil man zu wenig Impfstoff eingekauft hat."

Trotzdem zeigte sich Frie überzeugt davon, dass vonseiten der Behörden alles richtig gemacht worden ist. Lehren sind für ihn aus dem bisherigen Verlauf nicht zu ziehen. Hätte es tatsächlich mehr schwere Erkrankungen gegeben, hätten die Menschen sich auch impfen lassen. Dann aber, so Antes, hätten wir völlig hilflos dagestanden, weil so viel Impfstoff gar nicht zur Verfügung stand. Dem widersprach Cichutek. Impfstoff sei da gewesen, die STIKO habe die entsprechenden Empfehlungen, nach denen unter anderem medizinisches Personal zuerst geimpft werden sollte, herausgegeben. Es sei von Behördenseite ganz klar kommuniziert worden, dass die Impfstoffmenge nicht auf einmal und nicht für alle zur Verfügung stehen würde. Es habe ein geordnetes Vorgehen gegeben, das Chaos sei konstruiert gewesen. Dem hielt Antes entgegen, dass selbst für die priorisierten Gruppen nicht ausreichend Impfstoff zur Verfügung stand.

… oder unethisch gehandelt?

Was wäre geschehen, wenn tatsächlich der worst case eingetreten wäre? Welche Folgen hätte die geringe Impfbereitschaft, gerade beim medizinischen Personal gehabt? Brauchen wir vor diesem Hintergrund eine Impfpflicht? Davon wollten die Vertreter der Behörden nichts wissen. Cichutek: "Wir haben eine freiwillige Impfung, und dabei sollte man es meiner Meinung nach auch belassen." Für Dingermann ist es schlichtweg eine Katastrophe, 

Prof. Dr. Theodor Dingermann, Lehrstuhl für Pharmazeutische Biologie, Universität Frankfurt: "Es ist eine Katastrophe, dass sich die Leute nicht impfen lassen!"

dass sich die Leute nicht impfen lassen. Der Erreger sei nicht verschwunden und damit auch nicht seine Brisanz. Denn die Biologie sei ein vielschichtiges System, Prognosen seien schwer zu treffen. So konnte auch Dingermann nicht sagen, dass die Gefahr einer zweiten Infektionswelle vorbei sei. Für ihn ist entscheidend, welche Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Und das sei nun einmal die Impfung, bei der das Nutzen-Schaden-Verhältnis dramatisch auf der Nutzenseite liegen würde. Eine solche Einstufung hält Antes für unzulässig. Denn der eigentliche Schaden sind seiner Überzeugung nach die Kosten. Vor dem Hintergrund der explodierenden Kosten im Gesundheitswesen hält er es für unethisch, Geld für etwas auszugeben, nur weil es im medizinischen Sinne nicht schadet.

AS03 = MF59?

Eine Erklärung für die mangelnde Impfbereitschaft ist die Diskussion um die Sicherheit der Impfstoffe. So war im Zusammenhang mit dem Einsatz des neuen Adjuvans AS03 in dem Impfstoff Pandemrix von einem Großversuch an Millionen von Menschen die Rede. Dagegen verwehrte sich Cichutek. Das Adjuvans sei im Vorfeld schon in saisonalen Grippeimpfstoffen über 30 Millionen Mal verimpft worden (der saisonale Grippeimpfstoff Fluad® enthält das Adjuvans MF59). Er sieht keine großen Unterschiede zwischen den beiden squalenbasierten Adjuvanzien MF59 und AS03. Die Realität hätte dieser Einschätzung Recht gegeben. Der Impfstoff sei gut verträglich, von einem Patientenversuch zu reden sei abstrus. Das Paul-Ehrlich-Institut lege größten Wert auf klinische Prüfungen. Für Antes war es dagegen ein Großversuch. In seinen Augen ist jede Einführung eines Medikaments ein Großversuch, weil unter den Bedingungen der Zulassung vieles nicht erkannt werden kann.

Im Rahmen dieser Diskussion wird immer auf die USA verwiesen. Dort waren keine adjuvantierten A/H1N1-Impfstoffe zum Einsatz gekommen. Das hat nach Ansicht Cichuteks nichts mit einer besonderen Vorsicht zu tun. Für ihn war die USA schlicht nur schlechter vorbereitet. Inzwischen habe auch die USA Adjuvanzien eingelagert.

Eine Task force gegen die Föderalismusfalle?

Viel Diskussion hat es nach Bereitstellung des Impfstoffs um die Logistik gegeben. Die Verteilung wurde von Bundesland zu Bundesland anders geregelt.

Je nach Region kam es zu mehr oder weniger ausgeprägten Engpässen. Oft stand selbst in Kliniken für die Impfung von medizinischem Personal kein Impfstoff zur Verfügung. Das Ziel, zunächst diejenigen zu schützen, die für die medizinische Versorgung und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verantwortlich sind, scheint so verfehlt zu werden. Eine verpatzte Generalprobe also, die Logistik in der Förderalismusfalle? Davon wollte Frie nichts wissen, Föderalismus sei schon alleine vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Strukturen der einzelnen Länder angezeigt. In Nordrhein-Westfalen habe es sich bewährt, den Impfstoff über einen Großhändler und 400 ausgewählte Apotheken an die Arztpraxen zu verteilen. Über die Kriterien der Auswahl könne geredet werden. So sei anstelle der Auswahl durch die Gesundheitsämter ein Losverfahren denkbar. Insgesamt habe aber alles gut funktioniert. Das wollte Antes nicht stehen lassen. Es sei die Föderalismusfalle pur gewesen mit hoffnungslos überforderten Landesbehörden. Er plädierte für eine Zentralisierung: "Nehmt es den Ländern weg". Ähnlich wie bei der Terrorismusgefahr sei die Bundeskompetenz gefragt.

 

Walter Frie, Referatsleiter Pharmazie, Arzneimittel- und Apothekenwesen beim Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: "Eine kleine Übungspandemie, aus der man keine richtigen Lehren ziehen kann."

Zum Glück hat der neue Erreger bislang nicht zu der prognostizierten Katastrophe mit Millionen Toten weltweit geführt. Aber der Verlauf war offensichtlich nicht vorhersehbar und es hätte auch anders kommen können, so Brauer in seinem Resümee. Wenn es anders gekommen wäre, dann würde man wohl heute sagen: "Generalprobe misslungen!" Das Schöne sei jedoch, dass man auch aus Fehlern lernen kann, die man nicht zugibt.

du

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