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Priorisierung statt heimlicher Rationierung

BERLIN (tmb). Zeitgemäße Gesundheitsökonomie bedeutet weder eine rein betriebswirtschaftliche Optimierung noch eine gewissenlose Rationierung von Gesundheitsleistungen. Vielmehr bildet die Gesundheitsökonomie eine Voraussetzung für die unvermeidbare gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Verteilung knapper Mittel. Dieses Credo zog sich wie ein roter Faden durch die zweite Jahrestagung der Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (DGGÖ) am 1. und 2. März in Berlin und wurde bereits in der Eröffnungsveranstaltung deutlich.
Unausweichlich ist für Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe eine ethisch fundierte Priorisierung von Gesundheitsleistungen angesichts der politisch gewollten Mittelknappheit in der GKV.
Foto: tmb

Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, machte die Knappheit der Mittel im deutschen Gesundheitswesen deutlich. Während etwa 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Gesundheit ausgegeben würden, entfielen langfristig nur etwa 6 Prozent des BIP oder wenig mehr auf die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Dies relativiere den Vergleich zu den Niederlanden und den skandinavischen Ländern, die etwa 8 Prozent ihres BIP für die Gesundheit ausgeben. Da die Politik die Mittel für die GKV langfristig nicht vergrößern wolle, sei das Geld knapp. Deshalb finde eine heimliche Rationierung statt, beispielsweise über Personalkürzungen in Krankenhäusern oder die Nicht-Verordnung von Arzneimitteln. Doch "das halten wir nicht mehr aus", so Hoppe.

Daher wiederholte er seine schon mehrfach geäußerte Forderung, Gesundheitsleistungen zu priorisieren, also die Vorrangigkeit für konkurrierende Bereiche festzulegen und dies öffentlich zu diskutieren. Bei einer vertikalen Priorisierung werden Rangreihen innerhalb eines Versorgungsbereiches gebildet, bei einer horizontalen Priorisierung werden vorrangige Krankheitsgruppen oder Versorgungsbereiche definiert. Damit solle die Verteilungsgerechtigkeit erhöht werden. Die wichtigsten Kriterien seien Lebensbedrohlichkeit, Leidensdruck, Gefährdung anderer Menschen, Krankheitsdauer, Erfolgsaussichten und die Evidenzbasierung. Vorbilder für eine solche Vorgehensweise sieht Hoppe insbesondere in Schweden und den Niederlanden. Die zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer hat bereits 2007 Empfehlungen zur Priorisierung ausgearbeitet. Hoppe befürwortet die Einrichtung eines unabhängigen interdisziplinären Gesundheitsrates, wie er in den Gründerjahren der Bundesrepublik existiert hatte. Daran müssten auch Juristen teilnehmen, um die starke Spannung zwischen Haftungs- und Sozialrecht zu berücksichtigen. Denn "was das Haftungsrecht fordert, lässt das Sozialrecht nicht zu", so Hoppe.

Gewinn durch Prävention

Auch Prof. Dr. Stefan Willich, Berlin, Tagungsleiter und neuer Präsident der DGGÖ, sieht die Priorisierung als eine wichtige Aufgabe für die Gesundheitsökonomie. Zugleich mahnte er an, Kosten-Nutzen-Analysen auch für politische Reformen durchzuführen. Willich wies zudem auf die Diskrepanz zwischen Todesursachen und langfristig besonders belastenden Beeinträchtigungen hin. Die größten Anteile der Lebenszeit würden durch Depression, Demenz, Schwerhörigkeit, Alkoholmissbrauch und Osteoarthritis belastet. Daher gelte es, diese Probleme zu verhindern oder ihren Beginn zu verzögern. Auch das Beispiel des Herzinfarktes zeige die Bedeutung der Prävention. Denn nach Einschätzung von Willich könnten 90 Prozent der Herzinfarkte durch Prävention verhindert werden.

Die Redner bei der Eröffnung der DGGÖ-Tagung betonten den Zusammenhang inhaltlicher und ökonomischer Entwicklungen im Gesundheitswesen. Matthias Scheller, Klinikdirektor und Finanzvorstand der Berliner Charité, beklagte, dass einige Kritiker noch immer einen Gegensatz zwischen Qualität und Ökonomie konstruieren würden. Doch dies sei falsch. Vielmehr führe die Anwendung der Betriebswirtschaftslehre im Krankenhaus letztlich zu "Qualitätssicherung mit Kostenbewusstsein", so Scheller.

Surftipp


Die Vorschläge der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer zur Priorisierung sind zu finden unter

www.zentrale-ethikkommission.de

(anklicken: Stellungnahmen, Priorisierung 2007)

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