Schmerztherapie

Hörschäden durch Analgetika: ein neues Problem?

Als Anfang März 2010 die Nachricht die Runde machte, dass Schmerzmittel zu Hörverlust führen können, reagierten selbst Experten mit Verwunderung. Hintergrund war eine Auswertung der Health Professionals Follow-up Study, in der der Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen regelmäßigem Analgetika-Konsum und Hörschäden nachgegangen worden war. Das Ergebnis ist auf den ersten Blick beunruhigend. Insbesondere Männer unter 60 Jahren scheinen gefährdet, schwerhörig durch Schmerzmittel zu werden. Wir haben die Ergebnisse der Studie von Curhan et al. von verschiedenen Experten analysieren lassen. Sie äußern Zweifel an der Aussagekraft der Studie und weisen auf viele offene Fragen hin.

In den USA stehen Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Ibuprofen an Platz 1 bis 3 in der Liste der meist genutzten Medikamente. Von einer Schwerhörigkeit sind etwa 36 Millionen Amerikaner betroffen. Für Acetylsalicylsäure unter hohen oder toxischen Dosen sind Hörstörungen seit Langem bekannt. Die Arbeitsgruppe um Curhan ist nun allgemein der Frage nachgegangen, ob zwischen der Anwendung weitverbreiteter Analgetika und Höreinbußen ein Zusammenhang besteht. Dafür haben die Autoren eine weitere Auswertung der Daten aus der groß angelegten "Health Professionals Follow-up Study" vorgelegt, in der sie sich mit dem Zusammenhang zwischen Hörschädigungen und der gleichzeitigen Einnahme von Acetylsalicylsäure, NSAIDs oder Paracetamol befassen [Am J Med (2010) 123, 231 – 237]. Die Studie begann 1986. Teilnehmer waren Männer ab 40 Jahren, die im Gesundheitssektor als Apotheker, Optiker, Osteopath, Podologe, Veterinärmediziner und Zahnarzt tätig waren. Alle zwei Jahre wurde eine erneute Befragung durchgeführt. Im Jahr 2004 wurde das erste Mal nach einer professionellen Diagnose von Hörstörungen gefragt, wiederholt in 2006.

In einer ersten Analyse wurde die Häufigkeit des Gebrauchs eines bestimmten Analgetikums ermittelt. Die Teilnehmer wurden in regelmäßige (2 oder mehr Einnahmen pro Woche) und gelegentliche Anwender (weniger als 2 Anwendungen pro Woche) aufgeteilt. Alters- und multivariable adjustierte Hazardraten (HR) wurden nach dem Cox-Regressionmodell errechnet. Im zweiten Teil der Analyse wurde der Zusammenhang zwischen Anwendungsdauer und Hörschädigung untersucht. Für den regelmäßigen Acetylsalicylsäure-Gebrauch wurden Gruppen mit 0,1 – 4, 5 – 8 und > 8 Jahren gebildet. Da die Jahre 5 – 8 und > 8 Jahre in den NSAID- und Paracetamol-Gruppen nur mit wenigen Personen besetzt waren, wurden sie der Gruppe > 4 Jahre zugeordnet. Für alle HR wurde das Konfidenzintervall errechnet.

Daten von 26.917 Teilnehmern konnten ausgewertet werden. Auf Fragebogen gaben 3488 Personen an, dass bei ihnen in den letzten 20 Jahren eine Abnahme der Hörfähigkeit diagnostiziert worden sei (Tab.1).

Altersabhängige Assoziation

Regelmäßiger Analgetikumverbrauch ging mit einem erhöhten Risiko einer Hörschädigung von etwa 30% einher; zwischen den drei Gruppen bestand kein Unterschied. Dieses Risiko zeigt keine wesentliche Abhängigkeit von der Dauer des Gebrauchs, was auch mit dem Nachlassen des Risikos im höheren Lebensalter zusammenhängen dürfte: Die Assoziation zwischen Gehörschädigung und regelmäßigem Gebrauch von Analgetika war altersabhängig (Tab. 2) und ging mit steigendem Alter zurück. So stieg für regelmäßige Acetylsalicylsäure-Anwender in den Gruppen unter 60 Jahren das relative Risiko um 33% an, nicht mehr aber in der Anwendergruppe mit 60 oder mehr Lebensjahren. Bei den NSAID-Anwendern unter 50 Jahren betrug die Zunahme 61%, in den jüngeren Altersgruppen (50-59 Jahre und ab 60 Jahre) betrug die Erhöhung nur noch 32 bzw. 16%. Bei den Paracetamol-Anwendern schließlich lagen die Risikosteigerungen in den Gruppen unter 50, 50 – 59 und ab 60 Lebensjahren bei 99, 38 bzw. 16%.

Die Assoziation zwischen einer Gehörschädigung und dem gleichzeitigen Gebrauch von mehr als einem Analgetikum war ungefähr additiv (Tab. 3). Für den gleichzeitigen Gebrauch zweier Analgetika war das Risiko für den Anwender von NSAIDs und Paracetamol am höchsten und vergleichbar mit dem einer gleichzeitigen Einnahme von Stoffen aus allen drei Analgetika(gruppen).

Tinnitus und Hörverlust unter Salicylaten

Ototoxische Effekte sind für Salicylate in der Literatur beschrieben. Tinnitus und Hörverluste, im Allgemeinen reversibel, können nach akuter Intoxikation oder langdauernder Anwendung auftreten. Es gibt Hinweise aus tierexperimentellen Studien darauf, dass dabei die Hemmung der Prostaglandinsynthese eine wesentliche Rolle spielt. Ihr Fehlen vermindert die Durchblutung des Innenohrs mit nachfolgender Schädigung der Hörzellen. Ähnliche Veränderungen wurden unter NSAIDs nach hohen Dosen beschrieben [Jung et al. 1993]. Histologische Studien an menschlichen Knochen im Temporalbereich zeigten eine Degeneration der strialen Mikrogefäße. Ähnliche Befunde gab es in tierexperimentellen Studien [Nelson et al. 2006; Gratton MA, Schulte BA. 1995].

Spekulationen zu Paracetamol

Für Paracetamol wurde ein möglicher Zusammenhang zwischen Hörschädigung und Analgetikaverbrauch bisher nicht untersucht. Paracetamol könnte den Gehalt an Gluthation herabsetzen, das in der Cochlea in erheblicher Menge vorhanden ist und beim Schutz der Cochlea vor Lärmschäden eine Rolle spielt [Yamasoba et al. 1998]. Aufgrund des Fehlens experimenteller Befunde kann diese Vermutung der Autoren [Curhan et al. 2010] allerdings nur als eine interessante, von dem bekannten Mechanismus der Paracetamol-induzierten Leberschädigung inspirierte Arbeitshypothese betrachtet werden.

Die Autoren weisen auch auf Beschränkungen ihrer Studie hin. So liegen keine Daten zur Lärmbelastung vor, die die Empfänglichkeit für Gehörschädigungen steigern kann.

In den Zahlen vom Acetylsalicylsäure-Verbrauch sind sicherlich zahlreiche Teilnehmer eingeschlossen, die Acetylsalicylsäure in niedriger Dosierung zur Prophylaxe der koronaren Herzerkrankung einnahmen.

Literatur Gratton MA, Schulte BA: Alterations in microvasculature are associated with atrophy of the stria vascularis in quiet-aged gerbils. Hear Res. 1995;82:44–52. Jung TT, Rhee CK, Lee CS, et al: Ototoxicity of salicylate, nonsteroidal antiinflammatory drugs, and quinine. Otolaryngol Clin North Am. 1993;26:791–810 Nelson EG, Hinojosa R: Presbycusis: a human temporal bone study of individuals with downward sloping audiometric patterns of hearing loss and review of the literature. Laryngoscope. 2006;116(9 Pt 3 Suppl 112):1–12. Sharon SC, Eavey R, Shargorodsky J, Curhan GC: Analgesic Use and the Risk of Hearing Loss in Men. Am J Med 2010;123: 231-237 Yamasoba T, Nuttall AL, Harris C, et al: Role of glutathione in protection against noise-induced hearing loss. Brain Res. 1998;784:82–90

 


Prof. Dr. med Konrad Heintze, Aachen

 

Tab. 1: Anzahl der Teilnehmer in den drei Analgetikagruppen

ASS
NSAID
Paracetamol
Ja
Nein
Ja
Nein
Ja
Nein
N =
7217
19.700
1311
25.606
1439
25.478
Alter [Jahre]
52.5
50.6
52.0
51.1
49.6
51.2
Gleichzeitige Einnahme von:
ASS [%]
39.6
26.2
47.3
25.7
NSAID [%]
7.2
4.0
14.0
4.4
Paracetamol [%]
9.4
3.9
15.3
4.8

Tab. 2: Altersabhängiges Risiko einer möglichen Gehörschädigung durch Analgetika

Analgetikum
Alter
< 50 Jahre
Alter
50 – 59 Jahre
Alter
60 + Jahre
ASS
Multivariante
1.33 (1.03–1.72)
1.33 (1.17-1.50)
1.02 (0.93-1.11)
NSAIDs
Multivariante
1.61 (1.15-2.26)
1.32 (1.13-1.55)
1.16 (1.03-1.30)
Paracetamol
Multivariante
1.99 (1.34-2.95)
1.38 (1.09-1.74)
1.16 (0.99-1.37)
Multivariante = Multivariante adjustierte Hazardrate; adjustiert für Alter, Body Mass Index, Alkoholgebrauch, physische Aktivität, Folsäure-Einnahme, Rauchen, Bluthochdruck, Diabetes, Beruf, Rasse

Tab. 3: Hazardraten für eine Gehörschädigung bei gleichzeitiger Einnahme von mehr als einem Analgetikum

Analgetikum
Fälle
Personen-
jahre
Alters-adjustierte Hazardrate
Multivariante
Hazardrate
Keines
1378
182.380
1.0
1.0
Alle 3 Analgetika
60
3.809
1.75 (1.35–2.26)
1.60 (1.23–2.09)
NSAIDs + Paracetamol
43
3.015
1.72 (1.27–2.32)
1.58 (1.16–2.16)
ASS + Paracetamol
97
7.769
1.44 (1.17–1.76)
1.40 (1.13–1.73)
ASS + NSAIDs
250
19.832
1.37 (1.20–1.57)
1.25 (1.09–1.44)

Stellungnahme der Firma Bayer Vital


"Keine Hörverluste bei bestimmungsgemäßem Acetylsalicylsäure-Gebrauch!"

In der Publikation von Curhan et al. wird ein Zusammenhang zwischen selbst-berichtetem Hörverlust und der regelmäßigen Einnahme von NSAIDs, ASS und Paracetamol (definiert als > 2x/Woche über bis zu mehr als 8 Jahre) bei Männern vermutet.

Das ototoxische Potenzial von hochdosierten Salicylaten ist, wie auch die Autoren betonen, seit weit mehr als 100 Jahren bekannt. Das Auftreten entsprechender Nebenwirkungen wie Hörverlust oder Tinnitus ist dosisabhängig und tritt überwiegend bei Dosierungen von über 3 g oder bei Überdosierung mit Acetylsalicylsäure auf. Die Nebenwirkungen sind vollständig reversibel innerhalb weniger Tage nach Absetzen. Folgerichtig sind in den Fachinformationen Acetylsalicylsäure-haltiger Präparate ototoxische Effekte als Symptome einer mäßigen Intoxikation aufgeführt.

Die wesentlichen Limitationen dieser Beobachtungsstudie, die z. T. auch von den Autoren diskutiert werden, sind die Folgenden:

  • Die Untersuchung eines möglichen Hörverlustes war nicht das ursprüngliche Ziel der Health Professionals Study, sondern die Inzidenz von schwerwiegenden Erkrankungen wie z. B. Krebs oder kardiovaskulären Erkrankungen bei Männern im Zusammenhang mit Ernährungsfaktoren.
  • Es werden keine Angaben zur Höhe der Dosierung gemacht: weder die eingenommene Tagesdosis noch die Anzahl der Einnahmetage pro Woche ist bekannt.
  • Es finden sich keine Aussagen zum Verwendungsanlass der Analgetika. Da in den USA in den 80er und 90er Jahren ASS zur Behandlung von rheumatischen Erkrankungen noch in hohen Dosierungen (> 3 g/Tag) üblich war, könnten durchaus hohe Tagesdosierungen über längere Zeiträume verabreicht worden sein.
  • Das Vorliegen des Hörverlustes wurde durch die Teilnehmer selbst berichtet. Teilnehmer, die keine Angaben machten, wurden der Gruppe "ohne Hörverlust" zugeordnet. Hierdurch kann es zu einem Bias kommen.
  • Die Befragung erfolgte alle zwei Jahre. Hier muss mit einem erheblichen "Recall-Bias" bzgl. der Art und Häufigkeit der verwendeten Analgetika gerechnet werden.

Acetylsalicylsäure, NSAIDs und Paracetamol sind für die Behandlung von akuten leichten bis mäßig starken Schmerzen und Fieber zugelassen. In den Packungsbeilagen wird für die Selbstmedikation eine kurze Behandlungsdauer von drei Tagen empfohlen. Die Daten aus apothekenbasierten nicht-interventionellen Studien zeigen, dass in der Alltagsrealität bei akuten Schmerzen im Mittel lediglich 2,2 Tabletten à 500 mg Acetylsalicylsäure und eine Gesamtdosis von 4,6 Tabletten eingenommen werden; eine einmalige Einnahme wird sogar von ca. 40% der Patienten angegeben. In der vorliegenden Studie geht es dagegen um die regelmäßige Verwendung von Analgetika über einen Zeitraum von bis zu mehr als 8 Jahren. Eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Situation in der Selbstmedikation bei akuten Schmerzen und Fieber ist nicht möglich.

Potenzielle Hörverluste bei der Dauermedikation mit niedrig-dosierter Acetylsalicylsäure in der kardio-/zerebrovaskulären Prävention werden weder von den Autoren in Betracht gezogen noch gibt es eine pharmakologische Rationale oder Hinweise aus klinischen Studien.

Dr. Uwe Gessner

Apothekerin Brigitte Havertz

Bayer Vital GmbH, Scientific Affairs Consumer Care, Leverkusen
Dr. Uwe Gessner
Brigitte Havertz

Kommentar


"… you scratch your chin and say maybe!”

Im Jahre 1995 erregte ein Artikel von Gary Taubes in Science mit dem Titel "Epidemiology faces its limits" viel Interesse. Taubes und andere führende amerikanische Epidemiologen und Biometriker warnten davor, die wachsenden Datenbanken dazu zu verwenden, nach Korrelationen zwischen z. B. Erkrankungen und Umwelteinflüssen zu suchen. Allein aufgrund der riesigen Datenmengen seien geringe, aber signifikante Assoziationen nicht die Ausnahme, sondern ein häufiges Phänomen, das allerdings wenig beweist: "If you see a 10-fold relative risk and it’s replicated and it’s a good study with biological backup, like we have with cigarettes and lung cancer, you can draw a strong interference. [...] If it is a 1.5 relative risk, and it’s only one study [...] , you scratch your chin and say maybe.”

Taubes und seine Kollegen stellten fest, dass erst eine Verdoppelung des Risikos in Zusammenhang mit Umwelt- oder Medikamenteneinfluss ernst zu nehmen und weiter zu verfolgen sei.

Nunmehr berichten Curhan et al. im American Journal of Medicine darüber, dass der regelmäßige Gebrauch von Acetylsalicylsäure (ASS), traditionellen Cyclooxgenasehemmern (tNSAR), wie Ibuprofen und Diclofenac, genauso wie Paracetamol bei älteren Männern mit einem um etwa 20% erhöhten Risiko eines Gehörverlustes einhergehe. Diese Aussage basiert auf der Analyse von über 300.000-Mann-Jahren (ältere Männer) der "Health Professionals Follow-Up Study".

Der beobachtete Zusammenhang zwischen Schmerzmitteleinnahme und Hörverlust ist besonders gering bei langfristiger, regelmäßiger Einnahme von ASS, etwas größer bei der Verwendung von Paracetamol und noch eine Spur ausgeprägter, wenn tNSAR verwendet werden.

Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass in der Tat die langfristige Hemmung der Prostaglandinproduktion – und das tun alle genannten Wirkstoffe - grundsätzlich mit Funktionsveränderungen vieler Organe einhergehen kann. Bekannt und gut dokumentiert sind die Effekte aller drei Wirkstoffgruppen auf die Nierenfunktion und den Blutdruck. Naturgemäß könnte auch eine altersbedingte Reduktion des Hörvermögens durch Cyclooxygenasehemmung - die, wie wir heute wissen, im ähnlichen Umfang auch durch Paracetamol erfolgt – begünstigt werden. Andererseits ist der Effekt, wenn wir Taubes’ Kriterien anlegen, marginal und nichtssagend. Der Befund kann bestenfalls zu der Theorie führen, Cyclooxygenasehemmung im Gehörbereich sei negativ. Handlungsanweisungen resultieren daraus meines Erachtens nicht, zumal eine Reihe sogenannter "Confounder" nicht ausgeschlossen wurden. Zwar konnten Lebensalter, Körpergewicht, Alkoholkonsum, Vitaminmangel, Nicotinusus, Mangel an Bewegung, vorbestehende Herz-Kreislauf-Krankheiten, Anwendung von Furosemid und erhöhte Lipidwerte als wesentliche Kofaktoren berücksichtigt werden. Unklar bleibt aber, warum die Schmerzmittel eingenommen wurden. Menschen, die chronisch oder rezidivierend unter z. B. Kopfschmerzen leiden, sind anders und können daher nicht ohne Weiteres mit solchen, die selten oder nie an Schmerzen leiden, verglichen werden. Schließlich bleibt offen, ob der relativ geringe Effekt der Acetylsalicylsäure darauf beruht, dass nicht analgetische, sondern nur kardioprotektive Dosen verwendet wurden. Sie hemmen bekanntlich nur die Thromboxanbildung der Blutplättchen, nicht aber die Produktion der vasodilatorischen Prostaglandine.

Fazit: Wieder einmal wird über eine Korrelation berichtet, die niemanden interessierte, handelte es sich nicht um Schmerzmittel. Für denjenigen/diejenige, der gelegentlich ein Schmerzmittel, z. B. gegen Kopfschmerzen, einnimmt, besteht kein erhöhtes Risiko, durch Schmerzmittel verursachte Gehörschäden zu erleben. Aber auch der-/diejenige, der/die regelmäßig Ibuprofen, Diclofenac oder Paracetamol einnimmt, um z. B. trotz Gelenkbeschwerden arbeitsfähig zu bleiben, sollte sich nicht zu sehr um sein/ihr Hörvermögen sorgen, sondern sich bemühen, diese relativ harmlosen Mittel in entsprechend niedriger Dosierung nur bei Bedarf einzunehmen, um damit alle Risiken, auch das eines möglichen Hörschadens, gering zu halten.


Literatur

Curhan SG et al: Analgesic Use and the Risk of Hearing Loss in Men. Am J Med. 2010 Mar;123(3): 231 – 237.

Hinz B, Cheremina O, Brune K: Acetaminophen (paracetamol) is a selective cyclooxygenase-2 inhibitor in man. FASEB J. 2008 Feb;22(2):383 – 90.

Taubes G. Epidemiology faces its limits. Science. 1995 Jul 14;269(5221):164 – 9.

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Kay Brune

Doerenkamp Professor

Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, FAU Erlangen-Nürnberg,
Fahrstr. 17,
91054 Erlangen
Prof. Dr. Konrad Heintze

Kommentar


"Datenerhebung mit gravierenden Schwächen"

Es ist der Verdienst der Autoren, auf ein mögliches Problem in der Schmerzbehandlung aufmerksam gemacht zu haben. Sie haben Berechnungen vorgelegt, nach denen die regelmäßige Einnahme von Analgetika Hörschäden hervorrufen kann. Die Erhebung der Daten weist allerdings eine gravierende Schwäche auf: Die Daten zu den Hörstörungen wurden retrospektiv, das erste Mal 2004, erhoben. Hier kommt also eine sehr subjektive Komponente ins Spiel. Die entscheidende Frage ist, welche Bedeutung die errechneten "Hazard ratios" für den Alltag haben, oder anders ausgedrückt, wie groß ist die Chance für mich als Patient, wenn ich wegen meiner Schmerzen Acetylsalicylsäure, NSAIDs oder Paracetamol einnehme, dadurch eine Schädigung meiner Hörfähigkeit zu erleiden?

Was bedeutet HR = 1.99 ?

Der Hazardratio, nach Einnahme von Paracetamol einen Gehörschaden zu erleiden, wird mit 1.99 angegeben und im Text als 99%. Daraus darf man keinesfalls folgern, dass man mit einer Wahrscheinlichkeit von 99% einen Gehörschaden nach Einnahme von Paracetamol erleidet. Die Daten besagen vielmehr, dass die Chance, einen Gehörschaden zu erleiden, doppelt so hoch ist im Vergleich zu den Menschen, die keine Analgetika einnehmen. Leider ist aus der Arbeit nicht ersichtlich oder kann nur mühsam herausgerechnet werden, wie hoch das Risiko einer Hörverschlechterung bei Personen ist, die keine regelmäßige Einnahme von Analgetika berichteten. Bei der hier analysierten Gruppe lässt sich insgesamt eine Inzidenz von 2 Fällen pro 200 Personenjahre errechnen; einer davon wäre auch ohne Analgetika, ein weiterer durch die regelmäßige Anwendung von Paracetamol zu erklären. Es ist schwierig, diese Zahlen mit anderen publizierten Daten zu vergleichen. Die Ermittlung des relativen Risikos steht und fällt mit dem Grundrisiko einer Höreinbuße. In der auch von Curhan et al. zitierten Studie von Cruickshanks et al. (2003) wurde eine 5-Jahres-Inzidenz von 21% ermittelt, betroffen wären also 8 Personen in 200 Personenjahren, ohne Berücksichtigung von Risikofaktoren wie der Einnahme bestimmter Medikamente. Bei dieser Streubreite erscheint es wagemutig, Risikosteigerungen zu quantifizieren oder sogar Unterscheidungen zwischen verschiedenen gleichermaßen unsicheren Risikozahlen zu machen. Zwar haben die Autoren viele mögliche Störfaktoren (confounding factors) ausgeschlossen, aber wenn sie nur einen nicht erkannt haben, wird die Aussage ihrer Arbeit hinfällig.

Beachtenswert ist, dass das von Curhan et al. dargestellte Risiko einer Analgetikaeinnahme in der Hauptsache Personen unter 60 Jahren betrifft; in der Altersgruppe darüber war es wesentlich geringer oder fehlte gänzlich. Das bedeutet sicher nicht, dass eine solche Wirkung nicht mehr existiert; sie geht allerdings in der Fülle weiterer Faktoren unter und verdient keine besondere Aufmerksamkeit mehr.

Angaben zu Dosierung und Reversibilität fehlen

Wir erfahren auch nichts über die Dosierungen der eingenommenen Analgetika und auch nicht, ob diese Schäden reversibel waren. Besondere Berücksichtigung sollte auch finden, dass in den USA Paracetamol und Acetylsalicylsäure (seltener Ibuprofen und andere freiverkäufliche NSAIDs wie Naproxen) mit einem verhältnismäßig hohen Gehalt Bestandteil von vielen Kombinationspräparaten sind, besonders zur Behandlung von Erkältungen und grippalen Infekten. Für den Verbraucher ist dabei nicht unbedingt ersichtlich, welche Wirkstoffe er nun einnimmt [Kaufmann DW et al. 2002]. In der Studie werden solche zusätzlichen Einnahmen nicht ausreichend berücksichtigt. Angesichts des hohen Verbrauchs solcher Erkältungspräparate, oft in gefälliger Saftform, ist eine klare Differenzierung zwischen Paracetamol, Ibuprofen und Acetylsalicylsäure nicht eindeutig möglich.

Das bessere Abschneiden von Acetylsalicylsäure in der Gruppe mit einem Lebensalter unter 50 Jahren darf in keinem Fall überbewertet werden, da die Konfidenzintervalle eine erhebliche Brandbreite aufzeigen. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus dem Umstand, dass die Acetylsalicylsäure-Gruppe auch die Anwendung zur Prophylaxe der KHK umfasst. Wie von den Autoren selber angeführt, nehmen fast 60% der älteren Männer in den USA Acetylsalicylsäure zur kardiovaskulären Prophylaxe ein. Die Dosierungen sind sehr unterschiedlich: 100 mg zur Prophylaxe der KHK und Einzeldosen zwischen 300 und 900 mg (maximal 4 g pro Tag) in der Analgesie. Man darf annehmen, dass Auswirkungen auf das Gehör vor allem mit dem höherdosierten Gebrauch als Analgetikum verbunden sind; der Einschluss der vermutlich weniger belasteten kardiovaskulären Anwendung führt dazu, dass beim Vergleich der Analgetika die Inzidenz einer Hörverschlechterung unter Acetylsalicylsäure unterschätzt wird.

Die durch Acetylsalicylsäure induzierte Schwerhörigkeit wird aufgrund tierexperimenteller Studien über eine Hemmung der Cyclooxygenase erklärt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sehr hohe Dosen von Salicylsäure eingesetzt wurden. Unter der Voraussetzung, dass die Wechselwirkung mit der Cyclooxygenase ursächlich für diese Nebenwirkung ist, sollte sie für die gesamte Klasse der NSAIDs von Bedeutung sein.

Keine eindeutige Zuordnung

In der Gruppe der Menschen, die regelmäßig Paracetamol anwendeten, nahmen 47% auch Acetylsalicylsäure und 14% auch NSAIDs ein, manche davon auch beides. Wir erfahren nicht, wie groß die Anzahl der Menschen unter 50 Jahre war; allein wegen des großen Konfidenzintervalls muss man vermuten, dass es nicht allzu viele waren. Die Zahl der Personen, die nur Paracetamol nutzen, betrug 391. Es wird klar, dass die berichteten Hörschäden nicht eindeutig dem Paracetamol zuzuordnen sind.

Die Autoren weisen korrekt darauf hin, dass es bisher keinen Anhalt gibt, dass Paracetamol zu Hörschäden führt, weder aus tierexperimentellen Studien noch aus Einzelbeobachtungen. Die Vermutung, dass Paracetamol die Verfügbarkeit von Cochlea-schützendem Glutathion vermindern könnte, ist eine interessante Spekulation – aber nicht mehr.

Bei der Interpretation der Daten darf nicht die besondere Situation in den USA außer Acht gelassen werden. Der freie Zugang zu hohen Packungsgrößen ermöglicht einen leichtfertigen und medizinisch nicht gerechtfertigten Analgetikaverbrauch, zumal diese Medikamente bereits zur Prophylaxe von Schmerzzuständen eingesetzt werden, anders als in Deutschland, wo in den letzten Jahren die Packungsgrößen begrenzt wurden und eine Abgabe nur über Apotheken erfolgt.

Der Arbeit kann man entnehmen, dass die unter 50-Jährigen bei Anwendung von Paracetamol ein höheres Risiko einer Höreinbuße tragen als mit Acetylsalicylsäure oder NSAIDs. Bei der Nutzen-Risiko-Bewertung eines Schmerzmittels muss allerdings das gesamte Nebenwirkungsprofil betrachtet werden. Dabei fällt ins Gewicht, dass immerhin pro Jahr in den USA etwa 10.000 Patienten an Magenblutungen nach Einnahme von Acetylsalicylsäure oder NSAIDs sterben [Cryer B. 2005]. Zu beachten ist weiterhin, dass sich die Daten von Curhan et al. auf die Langzeiteinnahme beziehen. Für die Akutbehandlung von Zuständen wie Zahnschmerz, Migräne oder Kopfschmerz erlauben sie keinerlei Rückschlüsse.

Das mögliche Risiko einer Hörschädigung sollte aber niemanden davon abhalten, eines dieser Analgetika zu nehmen, wenn die empfundenen Schmerzen zur erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen. Liegen nur leichte Befindlichkeitsstörungen vor, ist es sinnvoll, auf bewährte Hausmittel zurückzugreifen. Natürlich sollte immer nur die geringst mögliche Analgetikadosis eingenommen werden: Auch heute noch gilt der Satz, dass es kein nebenwirkungsfreies Medikament gibt - selbst Placebo-Tabletten zeigen teils sogar schwerwiegende Nebenwirkungen [Reeves RR et al. 2007].

Literatur

Cruickshanks KJ, Tweed TS, Wiley TL, et al.: The 5-year incidence and progression of hearing loss: the epidemiology of hearing loss study. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 2003;129:1041–1046.

Cryer B: NSAIDs-associated Death: the rise and fall of NSAID-associated GI mortality. Am J Gestroenterol 2005; 100: 1694-1695

Kaufmann DW, Kelley JP, Rosenberg L, Anderson TE and Michell AA: Recent patterns of medication use in the ambulatory adult population of the United States. JAMA. 2002; 287:337-344 (doi:10.1001/jama.287.3.337)

Reeves RR, Ladner ME, Hart RH, Burke RS: Nocebo effects with antidepressant clinical drug trial placebos. Gen Hosp Psychiatry. 2007; 29(3):275-7.

Prof. Dr. med. Konrad Heintze

Pharmakologe und Toxikologe

RWTH Aachen

Bremenberg 49

D-52072 Aachen

konrad.heintze@post.rwth-aachen.de
Prof. Dr. Dr. Kay Brune

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