Suizid verhindern: Was können Antidepressiva?

Unter einer schweren Form der Depression leiden jeder dritte ambulante und fast alle hospitalisierten Depressionspatienten. Nach ICD-10 leiden Patienten mit einer schweren Depression unter mehreren quälenden Symptomen wie gedrückte Stimmung, Verminderung von Antrieb und Aktivität, Interessenverlust, Konzentrations- und Schlafstörungen sowie Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld. Suizidgedanken und -handlungen sowie somatische Symptome sind häufig. Nach DSM-IV liegt eine schwere Depression vor, wenn fünf der typischen Symptome über zwei Wochen bestehen und die psychosoziale Funktion beeinträchtigen. Eine WHO-Studie hat ergeben, dass Depressionen die Gesundheit stärker beeinträchtigen als Angina pectoris, rheumatoide Arthritis, Asthma und Diabetes (Moussavi S et al. Lancet 2007). Die direkten Behandlungskosten belaufen sich in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes auf rund 4,3 Milliarden Euro.
Jeder sechste Depressive nimmt sich das Leben
Die Suizidalität korreliert mit der Schwere der Depression, also mit dem Leidensdruck. Fast alle depressiven Patienten kennen Suizidgedanken, die sie aber nicht spontan äußern, weiß Prof. Dr. Michael Bauer, Dresden. Das erschwert das Erkennen der Gefährdung. Beim depressiven Mann sind Selbstmordgedanken häufiger als bei der Frau, er setzt sie viermal häufiger und mit drastischeren Mitteln in die Tat um. Das Suizidrisiko sollte am Anfang und regelmäßig während der Behandlung beurteilt werden, fordert der Psychiater. Wie engmaschig, hängt vom Schweregrad und vom Vorhandensein weiterer Risikofaktoren ab. Dazu zählen z. B. Aggressivität, Impulsivität, Hoffnungslosigkeit, frühere Suizidversuche (auch in der Familie!), Alkohol- und Drogenkonsum, psychiatrische Hospitalisation jüngeren Datums und aktuelle Stressoren.
Psychiatrische Erkrankungen: Noch immer ein Stigma?Jedes Jahr werfen sich 1000 Menschen vor einen Zug. Einer von ihnen war Robert Enke, und der Popularität des Nationaltorhüters ist es geschuldet, dass die schwere Depression in den Augen vieler Menschen ein Stück mehr Krankheit und weniger Stigma wird. Noch immer werden psychisch Kranke in weiten Teilen der Bevölkerung teils scheel angesehen. Schizophreniepatienten wird latente Gefährlichkeit nachgesagt; Menschen mit einer Depression, die den Mut finden, sich zu "outen", wie der Fußballer Deisler, werden von "Kollegen" als Weicheier oder Mimosen bloßgestellt. Diese Krankheiten, mit erheblicher genetischer Komponente, können im Grunde jeden treffen, so Prof. Dr. Wolfgang Gaebel, Düsseldorf. Die Lebenszeitprävalenz für Depressionen betrage 16%. Auf zwölf Monate gesehen sind in Deutschland schätzungsweise 5% betroffen, also vier Millionen Menschen, davon die Hälfte schwer oder sehr schwer. Trotz ihrer Häufigkeit wird die Volkskrankheit Depression nur bei jedem zweiten Betroffenen diagnostiziert und nur bei jedem fünften adäquat behandelt. Das führt dazu, dass uni- oder bipolar Depressive ein 20-faches Suizidrisiko (Schizophreniepatienten "nur" das achtfache Suizidrisiko) tragen, verglichen mit der Allgemeinbevölkerung. Quelle: Presse-Round-Table, Jahreskongress der DGPPN, Berlin, November 2009. |
Sind Antidepressiva ausreichend wirksam?
Im vergangenen Jahr kam eine Metaanalyse zu dem Schluss, dass Antidepressiva allenfalls bei schweren Formen einer Placebotherapie überlegen seien (Kirsch et al. 2008); doch wurde hierbei eine klinisch relevante Wirkung erst bei einem Unterschied von drei Punkten auf der Hamilton-Depressionsskala angesetzt. Nach Bauers Erfahrung können aber "schon zwei Punkte für den Patienten einen Riesengewinn ausmachen". Zwar sei die Wirkung von Antidepressiva nicht "dramatisch", doch überwiege gegenüber Placebo letztlich der Nutzen das Risiko. Die Compliance hemmt der Umstand, dass die Wirkung meist erst nach ein bis zwei (selten drei bis vier) Wochen spürbar wird, nicht umgehend wie bei einem Benzodiazepin. Ähnlich wie bei einer Antibiotikatherapie hielten sich viele Patienten zu früh für gesund, so Bauer. Dabei sei sogar nach Erreichen einer Remission eine sechs- bis zwölfmonatige Weiterbehandlung zu empfehlen.
Senken Medikamente das Suizidrisiko?
Für den Kliniker Bauer steht außer Frage, dass eine geeignete Therapie das Suizidrisiko senkt. "Die meisten Suizidversuche gehen auf das Konto einer fehlenden oder unzureichenden Behandlung." Dabei sind Antidepressiva allein oder in Kombination mit Psychotherapie die wesentlichen Bausteine. Allerdings gibt es kein spezifisch und akut "antisuizidal” wirksames Medikament. Wahrscheinlich besitzt die prophylaktische Gabe von Lithiumsalzen eine eigenständige "antisuizidale” Wirkung (Baldessarini R.J. APA 2003). Bei Antidepressiva konnte der klare Beweis einer suizidpräventiven Wirkung bis heute nicht erbracht werden. Metaanalysen zeigten, dass sie die Suizidrate bei vermehrter Verordnung senken und nicht etwa erhöhen, so Bauer.
Empfohlen werden bei gefährdeten Patienten Antidepressiva, welche die Agitiertheit nicht verstärken. Die Behandlung mit Escitalopram senkte das Suizidrisiko in einer aktuellen Studie viermal stärker als Nortriptylin – allerdings nur bei Männern, nicht bei Frauen (Perroud et al. 2009). "Viele Kliniker behandeln suizidale Patienten zusätzlich mit einem Neuroleptikum oder einem Benzodiazepin", berichtete Bauer weiter. Gefährdeten Patienten sollten nur begrenzte Mengen eines Medikaments ausgehändigt werden, warnte er: "Das gilt besonders für potenziell letale Substanzen wie trizyklische Antidepressiva oder irreversible MAO-Hemmer."
Welches Antidepressivum für initiale Behandlung?
Der erste antidepressive Behandlungsversuch führt bei lediglich 30 bis 40% der Patienten zu "Heilung" (Remission, Hamilton-Depressionsskala < 7). Rund 25% der Patienten erreichen eine partielle Besserung; jeder vierte gilt als Nonresponder. Bei der Substanzauswahl sollten neben den vorliegenden Symptomen berücksichtigt werden:
- Wirksamkeit im Vergleich,
- Ansprechen auf etwaige Vorbehandlungen beim Patienten oder Verwandten ersten Grades,
- Sicherheit und Nebenwirkungen,
- Potenzial für Wechselwirkungen,
- angenehme Darreichungsform,
- Begleiterkrankungen/ Persönlichkeitsstörungen und
- Wünsche des Patienten.
Die Auswahl eines Präparates trifft der Arzt meist schnell und spontan, sagte Bauer. Etwa vier von fünf ambulanten depressiven Patienten werden heute initial mit einem selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitor (SSRI) behandelt. Signifikante Wirksamkeitsunterschiede zwischen klassischen trizyklischen Antidepressiva (TZA) und SSRI gibt es nach Bauers Worten nicht. SSRI gelten als sicherer, verträglicher und zeigen niedrigere Abbruchraten. Trizyklika favorisiert Bauer allenfalls dann, wenn der Patient oder ein enger Angehöriger schon einmal gut auf die Substanz angesprochen haben. "Dies gilt auch bei anderen Substanzen als sehr guter Prädiktor für ein zukünftiges Ansprechen." Dual wirksame Antidepressiva (Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren, SNRI) gelten nach Metaanalysen (Nemeroff 2003, Thase 2001) als wirksamer als SSRI. In einer Studie zeigte aber der SSRI Escitalopram eine tendenzielle, in Woche acht signifikante Überlegenheit gegenüber dem SNRI Duloxetin bei mindestens zwölf Wochen anhaltender Major Depression (Khan 2007). Eine Metaanalyse aus demselben Jahr, die randomisiert-kontrollierte Vergleiche zwischen je zwei Antidepressiva auswertete, identifizierte Clomipramin, Venlafaxin und Escitalopram als die am häufigsten überlegenen Antidepressiva; bei schweren Depressionsformen galt dies nur für Escitalopram (Montgomery et al. 2007). Eine aktuell publizierte Metaanalyse (Cipriani et al. Lancet 2009) bewertete Antidepressiva nach den Maßstäben Wirksamkeit und Akzeptanz. Wie die Substanzen in Bezug auf die Referenzsubstanz Fluoxetin abschnitten, zeigt die Abbildung. Unter Berücksichtigung dieser Studien eigneten sich auch SSRI wie Escitalopram zur Behandlung aller Schweregrade der Depression, resümierte Bauer.