Gesundheitspolitik

Oft verkannt: Medikamentenabhängigkeit

DHS stellt ihr Jahrbuch Sucht 2010 vor: Suchtmittelkonsum stagniert auf hohem Niveau

Berlin (ks). Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) legt auch in ihrem aktuellen Jahrbuch Sucht 2010 ein besonderes Augenmerk auf Medikamente mit Suchtpotenzial. Obwohl bekannt ist, dass Medikamentenabhängigkeit vor allem bei älteren Menschen verbreitet ist, ist sie noch wenig erforscht. Die DHS fordert daher eine aus Bundesmitteln geförderte Studie zu Medikamentenkonsum und -abhängigkeit im Alter, ihren Auswirkungen und Folgekosten.

Bei Ärzten und Apothekern ist das Problem durchaus bekannt. Beide Berufsgruppen haben sich in den vergangenen Jahren Leitfäden zum Umgang mit suchterzeugenden Substanzen und Medikamentenabhängigkeit erstellt. Doch noch immer bleibt die Arzneimittelsucht oft im Verborgenen, an validen Daten mangelt es. Bislang sind es lediglich Schätzungen, die für Alarm sorgen: So heißt es bei der DHS, dass 1,4 Millionen Menschen in Deutschland von Medikamenten mit Suchtpotenzial abhängig sind – 1,1 bis 1,2 Millionen von Benzodiazepinderivaten, weitere 300.000 bis 400.000 Menschen von anderen Arzneimitteln. Zudem sollen 1,7 bis 2,8 Millionen der über 60-Jährigen einen problematischen Gebrauch psychoaktiver Medikamente bzw. von Schmerzmitteln aufweisen – auch hier könne oft von einer Abhängigkeit gesprochen werden. In Altenheimen wird der Anteil der von Psychopharmaka abhängigen Bewohner über 70 Jahre auf mindestens 25 Prozent geschätzt.

Die DHS weist darauf hin, dass der Übergang von der medikamentösen Einnahme aus medizinischen Gründen hin zur dauerhaften missbräuchlichen Einnahme oft fließend sei und häufig unbewusst erfolge. Ein Problem sei auch, dass viele ältere Patienten unterschiedliche Fachärzte aufsuchen, die verschiedene Arzneimittel verordnen, die nicht immer zueinanderpassen. Hinzu kämen noch Privatrezepte. Die Folgen sind beträchtlich: So ziehe die Abhängigkeit von Benzodiazepinen im Alter ein um 66 Prozent erhöhtes Sturzrisiko durch Schwindel und Gangunsicherheit nach sich. Allein für Altenpflegeheime wird von jährlich einer Million Stürzen ausgegangen. Die gesundheitlichen Konsequenzen und die Folgekosten für das Gesundheitswesen sind beträchtlich. Aber auch ohne Sturz kann die erforderliche Versorgungs- und Pflegeintensität im Fall einer Überdosierung von Benzodiazepinen deutlich ansteigen. Durch "Schlafmittel-Hangover" in der morgendlichen Versorgung fällt der Unterstützungsbedarf deutlich höher aus, Bewegungsabläufe und Reaktionen sind verlangsamt.

Forderungen der DHS

Die DHS fordert daher, bestehende Qualifikations- und Kompetenzdefizite bei (Haus-)Ärzten zu beheben. Dafür müsse die Bundesärztekammer sorgen. Das Gleiche gelte für Pflegekräfte, für die sich die verantwortlichen Einrichtungsträger sowie entsprechende Ausbildungsinstitutionen engagieren müssten. Zudem seien ältere Menschen und deren Angehörige durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen über Risiken und Folgen einer Medikamentenabhängigkeit durch Benzodiazepine aufzuklären. Zur Unterstützung der Pflegeeinrichtungen fordert die DHS eindeutige Handlungskonzepte zum Umgang mit Abhängigkeit erzeugenden Arzneimitteln. Nötig sei zudem, nichtmedikamentöse Interventionskonzepte zur Senkung der Medikamentengaben zu erstellen und zu verbreiten. Dabei müsse es darum gehen, den Missbrauch psychoaktiver Medikamente zu reduzieren, Frühintervention bei unsachgemäßem Gebrauch zu starten und die Sorgfaltspflicht bei der Verschreibung psychoaktiver Arzneimittel durch Mediziner unter Einbeziehung aller beteiligten Berufsgruppen zu erhöhen. Darüber hinaus fordert die DHS eine aus Bundesmitteln geförderte Studie mit validen, nicht auf Schätzungen basierenden Zahlen und Daten zu Medikamentenkonsum und -abhängigkeit im Alter und deren Auswirkungen, Konsequenzen sowie Folgekosten.

Alkohol und Tabak

Das Jahrbuch Sucht befasst sich darüber hinaus mit weiteren Formen der Abhängigkeit. Am verbreitetsten sind die ebenfalls legalen Suchtmittel Alkohol und Nicotin. Während der Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol seit Jahren nahezu konstant ist, ging er bei Tabakwaren etwas zurück. So trank im Jahr 2008 der Durchschnittsdeutsche 9,9 Liter reinen Alkohol. Rund 9,5 Millionen Menschen in Deutschland konsumieren mehr als die als gesundheitlich riskant einzustufende Menge von über 24 Gramm (Männer) bzw. zwölf Gramm (Frauen) täglich. 1,3 Millionen von ihnen gelten als alkoholabhängig. Der DHS zufolge verursachten alkoholbezogene Krankheiten 2008 einen volkswirtschaftlichen Schaden von 24,4 Mrd. Euro; dieser Summe stehen alkoholbezogene Steuereinnahmen von nur 3,5 Mrd. Euro gegenüber.

Der Pro-Kopf-Verbrauch von Zigaretten ging im Jahr 2008 gegenüber 2007 um 3,8 Prozent auf 1068 Stück zurück. Während jeder dritte Mann raucht, greift nur gut jede vierte Frau zum Glimmstängel. 3,8 Millionen Einwohner gelten als tabakabhängig, 110.000 bis 140.000 sterben jährlich an tabakbedingten Krankheiten.

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