Ernährung aktuell

Wie viel Eiweiß ist gesund?

Wie viel Eiweiß sollte man täglich zu sich nehmen? Die Antwort auf diese Frage wurde bislang stets auf der Basis der sogenannten Stickstoffbilanz gezogen. Seit einiger Zeit gibt es jedoch Überlegungen, stattdessen die Funktionsfähigkeit des Bewegungsapparates als Bewertungskriterium in den Vordergrund zu stellen. Das führt zu höheren Zufuhrempfehlungen, die insbesondere für Senioren von Bedeutung sein können.
Reichlich Leucin liefert Milch. Die Aminosäure scheint für die Synthese von Muskel­eiweiß besonders wichtig zu sein.

Bei der Bewertung von Nahrungseiweiß bedient sich die Ernährungswissenschaft seit rund 150 Jahren der Stickstoffbilanz. Bei dieser Bilanz wird der Stickstoff im Nahrungseiweiß (I) und in den Ausscheidungen (U) erfasst. Nur wenn Stickstoffaufnahme I und Stickstoffausscheidung U mindestens gleich groß – mit anderen Worten ausgeglichen – sind, sind sowohl Quantität als auch Qualität des zugeführten Eiweißes ausreichend.

Bisheriges Ziel: Ausgeglichene Stickstoffbilanz

Wenn die Bedingung I - U ≥ 0 erfüllt ist, schlussfolgert der Ernährungsphysiologe: Der lebenswichtige Eiweißbestand des Organismus nimmt nicht ab, ergo liegt eine vollwertige Versorgung vor. Derzeit wird auf der Basis der Stickstoffbilanz weltweit ein täglicher Verzehr von 0,8 g hochwertigem Eiweiß/kg Körpergewicht für Erwachsene empfohlen.

Auf Menge und Qualität achten

Eine ausgeglichene Stickstoffbilanz wird nur erreicht, wenn sowohl die Menge des zugeführten Eiweißes als auch seine Qualität einen kritischen Wert erreichen. Die Qualität eines Nahrungseiweißes wird auch als "biologischer Wert" bezeichnet. Er hängt von der Zusammensetzung des Eiweißes, das heißt dem jeweiligen Gehalt seiner 20 Aminosäuren ab. Je mehr die Zusammensetzung des Eiweißes den unvermeidlichen Abbau und Verlust der Aminosäuren im Stoffwechsel ausgleichen und ersetzen kann, umso höher ist sein "biologischer Wert" (s. Tab. 1).

Neuere Überlegung: Sarkopenie vermeiden

In letzter Zeit setzt ein Überdenken des bisher unstrittigen Konzepts der Stickstoffbilanz ein. Auslöser war das Problem der abnehmenden Muskelmasse mit dem Alter, die sogenannte Sarkopenie (aus den griechischen Worten "sarkos" = Fleisch oder Muskel und "penia" = Mangel). Die Sarkopenie geht mit abnehmender Muskelkraft und Knochenmasse einher. Häufigere Stürze mit Knochenbrüchen sind die Folge. Es leuchtet ein, dass ein funktionsfähiger Bewegungsapparat besser als Kriterium für eine gesunde Ernährung dient als die Stickstoffbilanz. Legt man bei älteren Menschen den Verlauf der Sarkopenie als Kriterium einer ausreichenden Versorgung an – und nicht wie bisher die Stickstoffbilanz –, so stellt man fest, dass eine tägliche Aufnahme von 1,0 bis 1,5 g hochwertigem Eiweiß/kg Körpergewicht bessere Ergebnisse erbringt als 0,8 g/kg Körpergewicht. An über 55-Jährigen wurde eine Abnahme der Muskelmasse festgestellt, wenn sie im kontrollierten Ernährungsversuch über 14 Wochen täglich lediglich 0,8 g Eiweiß/kg Körpergewicht zu sich nahmen. In einer anderen Studie an über 70-Jährigen war die Abnahme der Muskelmasse über drei Jahre bei den Teilnehmern, die 18% ihrer Energie in Form von Eiweiß zu sich nahmen um 40% niedriger als bei denjenigen, die 11% ihrer Energie mit Eiweiß deckten; in absoluten Werten betrugen die entsprechenden Werte des täglichen Eiweißverzehrs 91 g versus 57 g.

Erwähnt sei hier, dass auch solche gesundheitlichen Parameter wie Insulinsensitivität, Lipoproteinmuster, Knochenmasse und Energiestoffwechsel positiv auf eine mäßig erhöhte Eiweißzufuhr reagieren.

Das Wichtigste in Kürze


Die Ernährungsphysiologie hat Nahrungseiweiße bisher mit der Stickstoffbilanz bewertet. Dadurch wurde der bisher gültige Wert von 0,8 g/kg Körpergewicht einer täglichen Eiweißzufuhr als ausreichend für eine gesunde Ernährung erhalten. Legt man gesundheitlich bedeutsame Kriterien wie den Erhalt der fettfreien Körpermasse (Muskulatur und Knochengerüst) zugrunde, so ergeben sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht jedoch höhere Ansprüche an die Eiweißversorgung. Insbesondere die altersabhängige Muskelabnahme (die sogenannte Sarkopenie) kann erst durch eine tägliche Eiweißaufnahme, die 1,0 bis 1,5 g hochwertiges Eiweiß/kg Körpergewicht beträgt, verhütet werden. Von eminenter Bedeutung werden diese neueren Erkenntnisse für die Versorgung im Alter, sowie im klinischen und im Pflegebereich.

Leucin im Fokus

Aus der Stoffwechselforschung kommen zudem immer mehr Berichte, die Aminosäure Leucin habe eine besondere Bedeutung bei der Aufrechterhaltung einer ausreichend hohen Eiweißsynthese im Muskel. Interessanterweise enthalten die Nahrungseiweiße hohen biologischen Werts in aller Regel auch hohe Gehalte von Leucin. Erste Beobachtungen am Menschen zeigen denn auch, dass Milch als Eiweißquelle beim Muskelaufbau vorteilhafter abschneidet als pflanzliches Protein.

Zum vertiefenden Studium


  • Eiweißbewertung: [1–5]
  • Optimale Eiweißzufuhr: [6, 7]
  • Kontrollierter Ernährungsversuch am Menschen: [8]
  • Epidemiologische Beobachtung: [9]
  • Eiweißzufuhr und Sarkopenie: [7–9]
  • Eiweißzufuhr und Knochengesundheit: [10] [11]
  • Eiweißzufuhr und Stoffwechsel: [12–14]

Mehrzufuhr meist schon erfüllt

Ergeben sich hieraus nun Konsequenzen – und wenn ja, welche? Betrachten wir zunächst einmal die Ernährungssituation der allgemeinen Bevölkerung. Dort weisen die Ernährungsberichte der Deutschen Gesellschaft für Ernährung aus, dass deutsche Erwachsene 13 bis 14% des Energiebedarfs mit Eiweiß decken. Dies bedeutet, dass die Bevölkerung bereits mehr Eiweiß verzehrt als den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht. Mit anderen Worten: dem präventiven Ziel einer mäßig höheren Eiweißzufuhr als von den offiziellen Empfehlungen vorgegeben wird durch breite Kreise unserer Bevölkerung bereits Rechnung getragen. Da diese Empfehlungen lediglich einen Verzehr von 9 bis 10% der Energie in Form von Eiweiß vorschreiben, wird von vielen Ernährungsberatern von einer zu hohen Eiweißzufuhr in der Allgemeinbevölkerung gesprochen. Bei Würdigung der neueren Erkenntnisse relativiert sich aber diese kritische Einstellung zu unserer Ernährung, zumal die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und die amerikanische Nationale Akademie der Wissenschaften feststellen, dass gesunde Erwachsene bis zu 2 g Eiweiß/kg Körpergewicht täglich aufnehmen können, ohne die Gesundheit zu gefährden. Für die Ernährungsberatung ist es also angebracht, weniger eine geringere Eiweißzufuhr anzumahnen als auf andere Prioritäten – wie die Mäßigung des Fettverzehrs – Wert zu legen.

Bei Senioren auf ausreichend Eiweiß achten

Bei der Beratung und Betreuung von gesunden Senioren sollte neben der ausreichenden Zufuhr von Energie und anderen Nährstoffen der Verzehr einer ausreichenden Menge von hochwertigem Eiweiß eine angemessene Beachtung finden. Ganz besonders dringlich wird dies bei der Vorbeugung und Behandlung der häufigen Protein-Energie-Malnutrition von Älteren in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Beispielsweise ließen sich Heilungsverlauf und Mortalität bei alten Patienten mit Schenkelhalsfraktur durch ein tägliches Supplement von 20 g Eiweiß deutlich bessern. Hier kann die ärztlich verordnete Gabe von entsprechenden Supplementen und diätetischen Produkten indiziert sein.

Quellen

[1] Jekat F, Kofranyi E: [Determination of the biological value of dietary proteins. XV. Milk and milk products]. Hoppe Seylers Z Physiol Chem 1970, 351(1):47–51.

[2] Kofranyi E, Jekat F: [On the determination of the biological value of food proteins. XII. The mixture of egg with rice, corn, soya and algae]. Hoppe Seylers Z Physiol Chem 1967, 348(1):84–88.

[3] Kofranyi E, Jekat F: [On The Determination Of The Biological Value Of Dietary Proteins, Viii. The Value Of Mixed Proteins.]. Hoppe Seylers Z Physiol Chem 1964, 335:174–179.

[4] Kofranyi E, Jekat F: [Determination of the biological value of dietary proteins. XIV. The admixture of beef and gelatin]. Hoppe Seylers Z Physiol Chem 1969, 350(11):1405–1409.

[5] Kofranyi E, Jekat F, Muller-Wecker H: The determination of the biological value of dietary proteins. XVI. The minimum protein requirement of humans, tested with mixtures of whole egg plus potato and maize plus beans. Hoppe Seylers Z Physiol Chem 1970, 351(12):1485–1493.

[6] Allison S: Institutional feeding of the elderly. Curr Opin Clin Nutr Metab Care 2002, 5(1):31–34.

[7] Paddon-Jones D, Short KR, Campbell WW, Volpi E, Wolfe RR: Role of dietary protein in the sarcopenia of aging. Am J Clin Nutr 2008, 87(5):1562S–1566S.

[8] Campbell WW, Trappe TA, Wolfe RR, Evans WJ: The recommended dietary allowance for protein may not be adequate for older people to maintain skeletal muscle. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001, 56(6):M373–380.

[9] Houston DK, Nicklas BJ, Ding J, Harris TB, Tylavsky FA, Newman AB, Lee JS, Sahyoun NR, Visser M, Kritchevsky SB: Dietary protein intake is associated with lean mass change in older, community-dwelling adults: the Health, Aging, and Body Composition (Health ABC) Study. Am J Clin Nutr 2008, 87(1):150–155.

[10] Heaney RP, Layman DK: Amount and type of protein influences bone health. Am J Clin Nutr 2008, 87(5):1567S–1570S.

[11] Delmi M, Rapin CH, Bengoa JM, Delmas PD, Vasey H, Bonjour JP: Dietary supplementation in elderly patients with fractured neck of the femur. Lancet 1990, 335(8696): 1013–1016.

[12] Paddon-Jones D, Westman E, Mattes RD, Wolfe RR, Astrup A, Westerterp-Plantenga M: Protein, weight management, and satiety. Am J Clin Nutr 2008, 87(5):1558S–1561S.

[13] Layman DK, Clifton P, Gannon MC, Krauss RM, Nuttall FQ: Protein in optimal health: heart disease and type 2 diabetes. Am J Clin Nutr 2008, 87(5):1571S–1575S.

[14] Skov AR, Toubro S, Ronn B, Holm L, Astrup A: Randomized trial on protein vs carbohydrate in ad libitum fat reduced diet for the treatment of obesity. Int J Obes Relat Metab Disord 1999, 23(5):528–536.

Autor

Prof. Dr. Christian A. Barth, München barth@dife.de
Tab 1: Biologischer Wert von Eiweißen
Eiweiß
Minimal-
bedarf
Biologischer Wert
Molkeneiweiß
(Laktalbumin)
0,48
104
Vollei
0,50
100
Rindfleisch
0,55
91
Kuhmilch
0,57
88
Soja
0,59
84
Weizenmehl
0,89
56
Minimalbedarf für ausgeglichene Stickstoffbilanz am Menschen (ausgedrückt in g Eiweiß/kg Körpergewicht und Tag)
Quelle: N. Kofranyi et al (1970)

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