Feuilleton

Dasein als verzaubertes Chaos

In der Kabinettausstellung "Dasein als verzaubertes Chaos" zeigt die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel bis zum 31. Januar Handschriften und Drucke aus ihrem alten Bestand sowie gut 30 repräsentative Neuerwerbungen des 17. Jahrhunderts.

Sein "himmlischer Theriak" errette zwar nicht vor dem Tod, konzedierte Johann Christoph Götte in einem 1681 gedruckten Traktat, doch unterscheide er sich von dem gemeinen Theriak wie das Gold vom Blei und verrichte "das Seinige in Stillung der Schmerzen und Besänfftigung der schwersten Zufälle". In einem beigefügten Gutachten attestierte die Medizinische Fakultät dem Ratsschöffen und Inhaber der Marburger Löwen-Apotheke, dass sein Antidot über jeden Zweifel erhaben ist.

Heute ist die Werbeschrift des geschäftstüchtigen Apothekers eine ausgesprochene Rarität. Insofern war es ein Glückstreffer, dass die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) sie aus dem antiquarischen Buchhandel in öffentlichen Besitz überführen konnte. Die HAB gehört zur "Arbeitsgemeinschaft Sammlung Deutscher Drucke", in der seit 1989 fünf deutsche Bibliotheken kooperieren, die man auch als "verteilte Nationalbibliothek" bezeichnet (s. Kasten). Sie sammeln die gedruckten Werke des deutschen Sprach- und Kulturraums vom Beginn des Buchdrucks bis 1912 (die Publikationen ab 1913 sammelt die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt und Leipzig). Dabei widmet sich die HAB den Drucken des 17. Jahrhunderts.

"Verteilte Nationalbibliothek"


Aufgabenteilung im Projekt "Sammlung Deutscher Drucke 1450–1912":

  • Staatsbibliothek München: 1450–1600
  • HAB Wolfenbüttel: 1601–1700
  • Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: 1701–1800
  • Universitätsbibliothek Frankfurt: 1801–1870
  • Staatsbibliothek zu Berlin: 1871–1912

Barocke Sammelwut

1572 durch Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg gegründet, gelangte die HAB unter dessen Sohn, Herzog August dem Jüngeren (1579 – 1666), zur Blüte. Der bibliophile Landesherr trug 135.000 kostbare Handschriften und Drucke zusammen und wurde somit Besitzer der größten Bibliothek seiner Zeit. Zeitlebens von dem Wunsch beseelt, in einer Bibliothek das gesamte Denken und Wissen seiner Zeit zu erfassen und der Nachwelt zu überliefern, beauftragte er Agenten, für ihn nach interessanten und wertvollen Büchern zu fahnden und sie zu kaufen.

August selbst ordnete und katalogisierte das Sammelsurium von Folianten, Quarten und Oktaven nach einem ausgereiften System in 20 Sachgruppen. Neben zeitgenössischer Literatur erwarb er auch Inkunabeln und antiquarische Handschriften. Ein Highlight unter den rund 2700 in Wolfenbüttel aufbewahrten Manuscripta aus dem Mittelalter ist das Perikopenbuch, das im 11. Jahrhundert auf der Reichenau geschrieben wurde und 1658 in herzoglichen Besitz gelangte.

Ein Meisterwerk der frühen Druckkunst ist eine Ausgabe von "Der Edelstein", erschienen bei Pfister 1461. Die Inkunabel enthält hundert Fabeln, die der Dominikaner Ulrich Boner einst aus lateinischen Quellen in die Altschweizer Mundart übersetzt hatte, und ist mit kolorierten Holzschnitten illustriert, die auch des Lesens unkundige Benutzer über die Regeln für ein tugendhaftes Leben belehren sollten. Der Herzog ordnete den Wiegendruck – entsprechend dem Verständnis seiner Zeit – in die Gruppe der "Ethica" ein.

Ein herausragendes Werk der "Medica" und "Physica" ist William Harveys Schrift über den Blutkreislauf: "Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus". Medizin war zwar nicht das Hauptinteressengebiet Herzog Augusts, dennoch trug er immerhin rund 2000 Titel zusammen, die das Wissen seiner Zeit in allen medizinischen Grund- und Einzeldisziplinen widerspiegeln.

Von Simplicissimus bis Pestilenz

Unter den Neuerwerbungen nimmt ein "Neueingerichteter und vielverbesserter Abentheurlicher Simplicissimus" von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, gedruckt 1668 in Frankfurt am Main, eine herausragende Stellung ein. Der Autor publizierte den ersten Abenteuerroman in deutscher Sprache unter dem Pseudonym German Schleifheim von Sulsfort und datierte ihn der Aktualität wegen auf dem Titelblatt ein Jahr vor. Neben der ausgestellten Ausgabe, die nach den neuen Rechtschreibregeln des Christian Gueintz (1592 – 1650) überarbeitet worden war, erwarb die HAB zwei weitere Exemplare des autobiographischen Romans, der wohl als einziger Titel der deutschen Barockliteratur internationalen Ruhm erreichte.

Zum Thema "Gesundheit und Krankheit" zeigt die Ausstellung vier repräsentative Werke: "Harm Brillen / Das ist: Von dem ungewissen und betrieglichen Urtheil des Urins", Münster 1603, eine deutsche Übersetzung einer Schrift von Pieter van Foreest. Der niederländische Arzt warnte vor dem Missbrauch der in der zeitgenössischen Schulmedizin praktizierten Uroskopie durch Quacksalber. Auch Johann Hayne befasste sich mit der Uroskopie. In "Trifolium Medicum, Oder Drey höchst nützliche Tractätlein", Frankfurt a. M. 1683, schrieb er außerdem über astralische und tartarische Krankheiten.

In "Amuletum Das ist: Ein kurtzer und Nothwendiger Bericht zur Zeit der Pestilentz", Bartfeld (Zips) 1644, empfahl der Apotheker Johann Weber dem "gemeinen" Publikum präventive und therapeutische Maßnahmen gegen den "Schwarzen Tod".

In der "Disputatio Medica de Phthisi", Wittenberg 1618, setzen sich die Mediziner Daniel Sennert und Johann Georg Fabricius mit der damals weit verbreiteten Lungenschwindsucht und Methoden zu ihrer Behandlung auseinander.

"Stein der Weisen" und "Vollkommener Chymist"

Die herzogliche Sammlung zur "Naturerkenntnis" mit ursprünglich etwa 200 Titeln wurde durch mehr als hundert Neuerwerbungen erweitert. So zum Beispiel "Bernhardus Redivivus Das ist: Herrn Bernhardt/ Graffen von der Marck/ und Treviß. Wunderbarliche und Warhaffte Beschreibung allerley Philosophischen Geheimnüß/ und sonderlichen von Stein der Weisen" von Bernardus Trevisanus, ins Deutsche übersetzt durch den Arzt Joachim Tanck und 1619 in Leipzig gedruckt.

Die Alchemisten publizierten ihre Erkenntnisse in einer sehr speziellen, symbolreichen Fachsprache. Im 17. Jahrhundert erschienen aber zusehends allgemeinverständliche Drucke, die alchemistisches Wissen einem breiten Publikum zugänglich machten. Neben der naturphilosophisch-magischen Seite der Alchemie erlangten damals auch praktische Aspekte immer mehr Bedeutung. So gilt die "Alchymia" des Andreas Libavius, 1597 (hier in einer Ausgabe von 1606), als erstes Lehrbuch der Chemie.

Der "Traicté de la Chymie" des Franzosen Nicolas Lefèvre, 1660, erschien in mehreren deutschen Übersetzungen, darunter "Chymischer Handleiter und Guldnes Kleinod", Nürnberg 1676.

"Cours de Chymie, Oder: Der vollkommene Chymist", Dresden 1698, ist eine Übersetzung des Lehrbuchs von Nicolas Lémery, einem aus Rouen stammenden Arzt und Apotheker. Während er in den frühen Auflagen seines Lehrbuchs den Schwerpunkt auf die Chemiatrie, die medizinische Anwendung der Chemie, legte, verstand er später die Chemie als eigenständige Wissenschaft, deren Aufgabe die Erforschung stofflicher Prozesse ist. Von ihm führte im 18. Jahrhundert der Weg über die Phlogistontheorie und die Entdeckung des Sauerstoffs zur modernen Chemie.

Bibliothek


Herzog August Bibliothek, Lessingplatz 1, 38304 Wolfenbüttel, Tel. (0 53 31) 80 80, www.hab.de

Geöffnet: dienstags bis sonntags 10 –17 h

Katalog: 144 Seiten, 10,– Euro, ISBN 978-3-447-06078-3

Apothekenszene Kupferstich von Peter Troschel in Nicolas Lefèvre: Chymi­scher Hand­leiter und Guldnes Kleinod, Nürnberg 1676.
Titelseite der Werbeschrift des Apo­thekers Johann Christoph Götte für seinen "himmlischen Theriak", Marburg 1681.
Fotos: HAB
Illustration aus William Harvey: Exercitatio Anatomica De Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus, Leiden 1639. Der Autor konnte nachweisen, dass die Venen nur in einer bestimmten Richtung das Blut transportieren.
Astrologie, Uroskopie und Pharmazie Kupferstich in Johann Hayne: Trifolium Medicum, Frankfurt am Main 1663.
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Neueingerichteter und vielverbesserter Aben­theurlicher Simplicissimus, Frankfurt am Main 1669.

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