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Schweinegrippe: Wo bleibt da die Wissenschaft?

(diz). Der britische Epidemiologe Tom Jefferson geht in einem Interview mit der "Welt", veröffentlicht in der Ausgabe vom 16. November 2009, äußerst kritisch mit den derzeit veröffentlichten Studien zur Wirksamkeit der Schweinegrippe-Impfstoffe um. Er befürchtet, dass beim Thema Schweinegrippe niemand mehr um wissenschaftliche Genauigkeit bemüht ist. Und er fürchtet sich von der Besessenheit der Politik. Jefferson arbeitet in Rom seit 15 Jahren für die angesehene Cochrane-Collaboration. Mit seinem Team wertet er alle veröffentlichten Studien zum Thema Grippe aus.
Alles unsicher könnte man die derzeitige Situation zur Schweinegrippe und ihrer Impfung zusammenfassen. Der Epidemiologe Tom Jefferson ist jedenfalls kritisch, was die Studien zum Impfstoff und die Gefahr durch die Grippe betrifft.
Foto: gsK

Bereits wenn es darum geht, verlässliche Zahlen über H1N1-Tote zu erhalten, ist nach Auffassung von Jefferson Skepsis angebracht. Wie er im Interview ausführt, fehlen konkrete Beweise. Derzeit werde "jede ältere Person gezählt, die allem Anschein nach an der Grippe gestorben ist". So würden auch Personen, die an einer Lungenentzündung verstorben seien, zum Schweinegrippe-Toten. Es gebe aber beispielsweise mehr als 200 verschiedene Erreger, die grippale Infekte auslösen könnten – "wo bleibt da die Wissenschaft?", so Jefferson im "Welt"-Interview. Nach seiner Auffassung sind die 4000 Schweinegrippe-Toten einfach nur Schätzungen (Anm. d. Red.: Nach den zuletzt verfügbaren Daten waren es 18 Tote in Deutschland, weltweit 10.375 Tote).

Eine differenzierte Haltung nimmt der Cochrane-Wissenschaftler auch zum Thema Panikmache ein. Hier spielten oft Experten mit, die von der Pharmaindustrie gesponsert seien. Man erkenne dies u. a. an den wissenschaftlichen Abhandlungen zum Impfstoff: "Wir haben 274 Studien untersucht. Das Ergebnis war: je schlechter die Qualität einer Studie, desto besser scheint die Impfung zu wirken. Überraschenderweise wurden allerdings die industriegesponserten Studien ohne Rücksicht auf die Qualität mit Abstand am häufigsten veröffentlicht – und zwar in den wichtigsten, meistzitierten Fachzeitschriften", erklärt Jefferson.

Man könne allerdings die Schuld nicht allein der Pharmaindustrie geben. Viel problematischer seien die sogenannten Impfexperten, "die ihre Ware an den Mann bringen wollen – und die Menschen beraten wie Staubsaugervertreter", so Jefferson. Er fürchte sich vor dem Informationsdefizit und davor, dass bei der Schweinegrippe niemand mehr um wissenschaftliche Genauigkeit bemüht sei. Wörtlich fügt der Wissenschaftlicher im "Welt"-Interview hinzu: "Ich fürchte mich vor der Besessenheit der Politik, die Schweinegrippe mit Impfstoffen zu bekämpfen, die nicht ausreichend getestet sind." Man ignoriere beispielsweise Daten, dass Grippeimpfstoffe an Kindern unter zwei Jahren nicht besser wirkten als ein Placebo, da Kinder in diesem Alter noch kein ausgereiftes Immunsystem besäßen. Tatsächlich habe man nur getestet, dass die Impfung eine Antikörperreaktion hervorrufe. Fraglich sei, ob diese ausreiche, um vor der Krankheit zu schützen. Außerdem habe man, so Jefferson weiter, Gruppen von bis zu 300 Menschen untersucht, was statistisch nicht relevant sei. Es gebe ferner Studien mit älteren Menschen, bei denen nach der Impfung zwischen null und 60 Prozent weniger starben als ohne Impfung. Dies sei nicht aussagekräftig: "Es ist viel wahrscheinlicher, dass ältere Menschen im Winter am Autounfall, an Krebs, an Vergiftung oder Ähnlichem sterben als an Influenza."

Der Cochrane-Mitarbeiter kritisierte schließlich auch, dass die Weltgesundheitsorganisation extra für die Schweinegrippe die Pandemiedefinition geändert habe. So habe die WHO im Mai dieses Jahres zwei Punkte der Definition einer Pandemie gestrichen: die hohe Zahl der Erkrankten und die Sterblichkeit. Die Kriterien für die Definition seien also abgeschwächt worden. Jefferson im "Welt"-Interview: "Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen der saisonalen Grippe und einer Pandemie."

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