Aus Kammern und Verbänden

Gefängnis oder Goldgrube? –Landapotheken von gestern

Unter welchen Bedingungen lebten die Landapotheker in früheren Zeiten? Fühlten sie sich – gegenüber ihren Kollegen in den Städten – privilegiert oder doch eher als "Kettenhunde"? Diese Frage erörterten die Landesgruppen Baden und Württemberg der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie auf ihrer diesjährigen Herbsttagung am 17. und 18. Oktober in Knittlingen, dem Geburtsort des legendären Dr. Faustus.
Dr. Stefan Rothfuß präsentiert eine Pharmacopoea Wirtenbergica des 18. Jahrhunderts.
Foto: DAZ/cae

Nach einer Einführung durch Dr. Michael Mönnich schilderte Dr. Gabriele Beisswanger, Minden, wie die ländliche Bevölkerung des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel im 18. Jahrhundert mit Arzneimitteln versorgt wurde. Die Anzahl der Landapotheken war dort aufgrund einer gezielten Förderung durch Herzog Carl I. (1713 –1780) mehr als ausreichend, denn kranke Landbewohner konsultierten nur selten einen akademischen Arzt.

So wurden in der Apotheke in Vorsfelde pro Monat nur ganze zehn Rezepte eingelöst. Vermutlich konsumierte die Landbevölkerung insgesamt wenig Arzneimittel, bevorzugte "Hausmittel" aus eigener Herstellung und nutzte die vielfältigen Möglichkeiten, Arzneimittel außerhalb der Apotheke zu erwerben, z. B. von Olitätenhändlern, Materialisten, Badern, Barbieren und Chirurgen, aber auch von Laienheilern wie Abdeckern und Scharfrichtern.

Die Landapotheker hatten nur äußerst geringe Einnahmen; sie hielten sich "über Wasser", indem sie Waren des alltäglichen Bedarfs verkauften oder Branntwein ausschenkten; einige mussten ihre Apotheke wieder schließen.

Von Buckelapothekern und Olitätenkrämern

Dr. Sabine Bernschneider-Reif, Darmstadt, stellte die sogenannten "Olitäten" (von "oleidas", wohlriechendes Öl, Essenz, Salbe) vor, deren Ursprung im Thüringer Wald des 17. Jahrhunderts liegt. Es handelt sich um Balsame, Öle, Tinkturen, Essenzen, Elixiere, Pflaster, Pulver und Pillen, die ab circa 1660 von Laien hergestellt und von "Balsamträgern" verkauft wurden.

Ingredienzien waren zunächst vor allem selbstgesammelte Drogen wie Arnika und Kamille. Auch Mineralien wie Kupfer-, Blei-, und Quecksilberverbindungen, Salpeter, Salmiak, Arsenik, Schwefel und besonders Alaun wurden viel gebraucht. Bald kamen Ätherisch-Öl-Drogen dazu, die aus dem Arzneipflanzenanbau stammten, sowie Opium und Purganzien, die von Materialisten bezogen wurden. Opiumhaltige Zubereitungen waren besonders als Kinderarzneien beliebt.

Traditionelle Waldberufe wie Harzscharrer, Pech- und Pottaschesieder waren mit primitiven chemischen Operationen vertraut und konnten sich daher mit der Herstellung von Olitäten befassen. Zunächst geschah dies in Laboratorien mit nur geringer apparativer Ausstattung. Mit dem Aufstieg des Laborantenwesens wurde verschiedene Verfahren wie Mazeration, Destillation, Sublimation, Präzipitation, Rektifikation und chemische Umsetzungen genutzt.

Die Rezepturen wurden anfangs nur mündlich überliefert und blieben in der Regel geheim. Oft ahmten sie bekannte Spezialitäten wie die "Essentia dulcis", das "Elixir polychrestum" oder die "Essentia amara" nach. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts liegen umfangreichere handschriftliche Manualien vor. Das angebliche Wirkspektrum der Mittel war groß und sicherte ihren Absatz.

Es war vor allem auf das Prinzip der Ganzheitlichkeit ausgerichtet. Der betonte Konnex "balsamisch" (= Lebenskraft stärkend) zeigt dies sehr gut. Der Niedergang des Olitätenwesens ab Mitte des 19. Jahrhunderts ergab sich aus dem Aufschwung der wissenschaftlichen Pharmazie und Pharmakognosie sowie aus der Entstehung der pharmazeutischen Industrie.

Innenansicht einer Landapotheke im Biedermeier

Dr. Larissa Leibrock-Plehn, Brackenheim, warf in ihrem Vortrag einen Blick in die Offizin von Adam Völter (1794 – 1873), der von 1819 bis 1849 die Apotheke im damals 2500 Einwohner zählenden württembergischen Städtchen Bönnigheim leitete. Wie auch andere Kollegen war Völter durch Einheirat in den Besitz der Apotheke gelangt. Er führte sie vorbildlich und war stets bestrebt, sie den zeitlichen Erfordernissen anzupassen. So ließ er neben der Apotheke ein separates Laboratorium errichten, das er fleißig benutzte. Der Vereinszeitschrift des damaligen Württembergischen Apotheker-Vereins ist zu entnehmen, dass er bei den Plenarversammlungen wiederholt von seinen chemischen und pharmazeutischen Versuchen berichtetet, so etwa über die Ausbeute von ätherischen Ölen bei der Destillation verschiedener Pflanzen oder über den Zusammenhang zwischen dem spezifischen Gewicht von Honig und dessen Haltbarkeit.

Einen Eindruck vom Alltag im Apothekenhaus vermitteln Briefe, die ein Lehrling von Adam Völter um 1834 geschrieben hat, so etwa folgender: "Herr Völter hat diese Woche vom Besigheimer Apotheker einen Brief erhalten, in welchem er schreibt, daß diesen Monat noch Apotheken Visitation ist. Seither schafft man nur immer fort, um alles aufs Beste u. Schönste herauszuputzen. Ich putze diese Täge die Materialkammer, wozu ich 5 Tage brauchte u. wobei manches Rattennest aufgestöbert wurde. (…) Heute wurde die Apotheke gepuzt. Es wurde zu diesem Zweke ein Gerüst hereingemacht, auf welches eine Magd hinaufstieg u. nun alle Büchsen, Gläßer u. Häfen herabgab, welche alle ganz sorgfältig von uns von allen Mukenschißen befreit wurden, während die Magd die Wand u. Bretter abwusch. Es dauerte den ganzen Tag, und ich finde kaum noch Plaz zum Schreiben dieses Briefes."

Die Frage, ob ein Apotheker der Biedermeierzeit nun eher in einem Gefängnis oder in einer Goldgrube lebte, lässt sich nur von Fall zu Fall beantworten. Das Beispiel Adam Völters zeigt, dass ein Landapotheker damals sehr gut zu einem gewissen Wohlstand kommen und im gesellschaftlichen Gefüge einer Kleinstadt einen hohen Rang einnehmen konnte. Er war zwar stark ans Haus gebunden, aber abendliche Einladungen brachten etwas Abwechslung. Beim Heizen pflegte er zu sparen, doch hatte er sich recht behaglich eingerichtet. Nach dem Tod der Ehefrau hat Völter die Apotheke gewinnbringend verkauft.

250 Jahre Faust-Apotheke Knittlingen

Prof. Dr. Marcus Plehn, Brackenheim, referierte über die Geschichte der Faust-Apotheke in Knittlingen, die am 23. Februar 1759 mit der Erteilung des Apothekenprivilegs von Herzog Carl Eugen an Josef Friedrich Weihenmeyer (1724 – 1800) aus Winnenden begann. Weihenmeyer wurde von Fron- und Wachdiensten sowie der Einquartierungspflicht freigestellt, erhielt die Erlaubnis, Spezereien, Gewürze und Farben "probmäßig, gerecht und gut" zu verkaufen, auch Zuckerbäckerei zu betreiben, und erhielt, solange er die Offizin ordentlich führte, Schutz vor (potenziellen) Konkurrenten wie Hausierern, Olitätenhändlern, Hebammen, Badern und Barbieren. Knittlingen zählte damals 1727 Einwohner.

Weihenmeyers Warenlager umfasste neben Arzneien (Simplicia und Composita) auch Zucker, Kaffee, Tee, Gewürze, Mandeln, Tabak, Essig, Wachs, Puder, Leim, Schießpulver, Gänsefedern, Kreide, Badeschwämme, Papier und Süßes wie Marmelade, Kräuterwein und Marzipan. Im Jahr 1850 übernahm ein Neffe des Bönnigheimer Apothekers Völker die Apotheke und etablierte als weiteres Gewerbe eine Schnapsbrennerei, die wohl zum Teil stärker frequentiert wurde als die Apotheke selbst.

Der Apotheker musste rund um die Uhr – auch sonntags – dienstbereit sein. Erst 1920 entschied der Stadtrat von Knittlingen, dass die Apotheke am Sonntag während des Vormittagsgottesdienstes und von 2 bis 6 Uhr nachmittags geschlossen bleiben durfte, nicht ohne gleich wieder einzuschränken: "Die Apotheke hat jedoch in dringenden Fällen während der geschlossenen Zeit Arznei abzugeben."

Als "Kettenhund" fühlt sich der heutige Besitzer der Faust-Apotheke sicherlich nicht mehr – die Zeiten haben sich diesbezüglich zum Positiven verändert.

Abgerundet wurde die gelungene Veranstaltung durch einen Besuch in der Faust-Apotheke, wo Dr. Stefan Rothfuß alte Arzneibücher und württembergische Pharmakopöen vorstellte, sowie durch eine eindrucksvolle Führung im Faust-Museum und Faust-Archiv.

 

Dr. Martine Strobel

Die Referenten (v. li.) Dr. Sabine Bernschneider-Reif, Dr. Michael Mönnich, Dr. Larissa Leibrock-Plehn, Prof. Dr. Marcus Plehn, Dr. Gabriele Beisswanger.
Foto: Strobel

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