Feuilleton

Von Mesmer bis zur Droste*

Alle Möwen sehen aus, als ob sie Emma heißen? Nein, die Möwe auf der Spitze der Magischen Säule in Meersburg trägt unverkennbar die Gesichtszüge "der Droste", jener Frau, deren Porträt einst einen 20-DM-Schein zierte. 1797 auf Haus Hülshoff bei Münster in Westfalen als Sieben- oder Achtmonatskind geboren und auf die Namen Anna Elisabeth Francisca p.p. getauft, hieß sie ihr Leben lang nur Annette oder Nette, weil sie so klein war. Nach vielen Krankheiten und Krisen zur Künstlerin gereift, fand sie in Meersburg am Bodensee, wo zuvor der Magnetiseur Mesmer gelebt hatte, eine zweite Heimat. Ihnen beiden hat Peter Lenk 2007 mit der Magischen Säule ein Denkmal gesetzt.

* Für Antje, die Anna heißen wollte und diesen Namen wegen ihrer Größe auch verdient gehabt hätte, zum runden Geburtstag.

Die Magische Säule von Peter Lenk im Meersburger Hafen. Joseph v. Laßberg als "letzter Ritter" (links), Anton Mesmer auf ei­ner Art Armillarsphäre, in der drei seiner Wider­sacher wie in einem Käfig gefangen sind, und oben die Droste als Möwe.

Fotos: Stadt Meersburg

In der Vergangenheit kam es immer wieder vor, dass ein Kritiker ein herrschendes System infrage stellte, als nutzlos oder schädlich erklärte und dadurch in seinen Grundfesten erschütterte oder sogar zu Fall brachte. Solche Kritik bezog sich auf die politische Ordnung oder die Religion und betraf damit die Fundamente des Gesellschaftssystems, oder sie beschränkte sich auf einen Wissenschaftszweig oder nur eine Lehrmeinung innerhalb einer Disziplin. Je nach der Schwere der Folgen sprach man dann von einer Revolution, einer Wende oder einem Paradigmenwechsel.

Revolution der Arzneitherapie

Ein zweifellos sehr gravierendes Ereignis, das man als revolutionär bezeichnen darf, war die Rationalisierung der Arzneitherapie um 1800. Die meisten Arzneidrogen und Medikamente, die seit Beginn der neuzeitlichen pharmazeutischen Fachliteratur um 1500 im Großen und Ganzen anerkannt gewesen waren, hatten auf einmal keinen Wert mehr, erschienen als sinnlos oder zumindest als entbehrlich, weil sinnvollere Alternativen verfügbar waren. In diesem Prozess, der von führenden Medizinern und Pharmazeuten gemeinsam getragen wurde, mischten auch einige umstrittene Außenseiter mit, die aus heutiger Sicht eher irrational erscheinen, obwohl sie von naturwissenschaftlichen Prämissen ausgingen. Zu ihnen zählen der Magnetiseur Franz Anton Mesmer (1734 –1805) und der Homöopath Samuel Hahnemann (1755 – 1843).

Fluidum statt Arznei

Mesmer war ein Kind des Bodensees. In Iznang bei Radolfzell geboren, führte ihn das Schicksal nach grandiosen Jahren in den Metropolen Wien und Paris zurück nach Meersburg, wo er einen vergleichsweise bescheidenen Lebensabend verbrachte. In seiner medizinischen Dissertation hatte er über den "Einfluss der Planeten auf den menschlichen Körper" spekuliert. An die Stelle der Planeten war dann der Magnetismus getreten, nachdem bereits der Wiener Astronom Maximilian Hell S. J. (1720 – 1792) behauptet hatte, Patienten mit Magneten geheilt zu haben. Mesmer entwickelte dieses therapeutische Verfahren weiter, indem er auf Magneten verzichtete und die Patienten durch das Auflegen seiner Hände oder nur durch das Berühren mit einem Stab magnetisierte. Dieser "tierische Magnetismus", dessen Wirkprinzip er sich als ein den ganzen Kosmos durchdringendes Fluidum vorstellte, erschien ihm als ein Allheilmittel, das andere Therapien einschließlich der Arzneimittel überflüssig machte.

Nachdem die Französische Revolution den in Frankreich florierenden Mesmerismus praktisch vernichtet hatte, breitete sich dieser in Deutschland aus. Neben entschiedenen Anhängern oder Gegnern überwogen damals wohl die Skeptiker, die in jener Umbruchszeit orientierungslos und ratlos waren. So sinnierte der bekannte Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1834) über die Arzneimittel: "Wissen wir wohl von ihrer inneren Wirksamkeit viel mehr als vom Magnetismus?"

Niemand hätte diese Frage damals bejahen und die Antwort mit unzweifelhaften Argumenten begründen können. So erschien es dem kritischen Mediziner Hahnemann am sinnvollsten, das Augenmerk auf die äußere, die sichtbare Wirksamkeit von Arzneien zu richten. Nachdem er ein konventionelles "Apothekerlexikon" veröffentlicht hatte (1790 – 99), setzte er alle Arzneimittel auf den Prüfstand und führte viele Arzneimittelprüfungen an sich selbst durch. Seine neue Lehre, die Homöopathie, stieß bei fast allen Ärzten und Apothekern auf Ablehnung, begeisterte aber viele Laien, von denen einige als Heilpraktiker tätig wurden; einer der ersten und renommiertesten war der westfälische Adlige und promovierte Jurist Clemens Maria Franz v. Bönninghausen (1785 – 1864).

Umsatz der Apotheken auf ein Drittel gesunken

Seit 1829 behandelte v. Bönninghausen Annette v. Droste-Hülshoff als seine erste Patientin. Diese litt an "Engbrüstigkeit" und glaubte, sich eine Tuberkulose zugezogen zu haben, nachdem ihr jüngerer Bruder Ferdinand ein halbes Jahr zuvor an dieser Krankheit gestorben war. Hinzu kamen Hypochondrie, Depressionen und Übergewicht aufgrund von Bewegungsmangel. Die homöopathische Behandlung brachte zwar keine Heilung, aber doch Besserungen, die sich schnell in Münster herumsprachen. Am 7. Juli 1830 schrieb Annette ihrer (nur wenig älteren) Stieftante Sophie v. Haxthausen über die Beliebtheit v. Bönninghausens:

"Er war erst seit zwei Tagen zurück, hatte diese Zeit über gar nicht zu Bette gehn können, so waren die Patienten über ihn hergefallen … Der Zulauf zu Bönninghausen wächst gewaltig an … Von Untersagen [der Heilpraxis] hört man übrigens jetzt nichts mehr, man muss es nicht können, sonst wär es gewiss geschehn, denn die Apotheken sollen, seit er seine Kuren macht, nur etwas weniges über ein Drittel von dem absetzen, was sie früher an Waren los wurden – und die Ärzte haben eine Menge ihrer einträglichsten Patienten verloren, da Bönninghausen, wie sie spöttisch sagen, ein Doktor für die vornehmen Leute und sonderlich für Damen ist, die sich zugleich gern über Literatur und schöne Kunst unterhalten."

Nachdem ihre ältere Schwester Jenny 1834 den im Thurgau, seit 1836 auf der Meersburg wohnenden Freiherrn Joseph v. Laßberg (1770 – 1855) geheiratet hatte, reiste Annette insgesamt viermal jeweils für viele Monate in die Schweiz bzw. zum Bodensee. 1841/42 dichtete sie dort das Gedicht "Am Turme", das der Bildhauer Lenk zum Anlass nahm, Annette auf die Spitze seiner Magischen Säule zu setzen – als Möwe mit weiblichem Antlitz.

Von Ärzten gefoppt


Stellvertretend für viele Anhänger des Mesmerismus sei der Heilbronner Arzt Eberhard Gmelin (1751 – 1809) zitiert, der seinem zehnjährigen, an einem nervösen Magen leidenden Patienten Justinus Kerner (1786 – 1862) aufmunternd zusprach: "Ja liebes Kind, auch du wurdest von Ärzten gefoppt! Komm mit mir einmal, ich schütte dir keine Arznei ein." Darauf magnetisierte Gmelin den Knaben und schärfte seinem Betreuer ein, man solle ihm "keine Arzneien mehr geben".

Das Pulver hat wieder wunderbar gut getan

In Münster ließ sich Annette weiterhin von v. Bönninghausen behandeln. So schrieb sie 1846 an Jenny: "Ich bin tüchtig krank gewesen und hatte noch dazu meinen Homöopathen nicht, der auf längere Zeit verreist war. Jetzt ist er seit 14 Tagen da, und sein erstes Pulver hat mir wieder wunderbar gut getan … Bönninghausen ist doch der einzige, der mir helfen kann. Gleich nach dem einen Pulver habe ich das Fieberhafte ganz verloren und Appetit und Schlaf bekommen." Doch diesmal ist der Erfolg nicht von Dauer. Annette leidet an Diarrhö, Erbrechen, erstickendem Husten, Fieber und Schlaflosigkeit. Nur eine Luftveränderung scheint noch helfen zu können. So macht Annette sich trotz ihres geschwächten Zustands im September 1846 auf die Reise nach Meersburg, wo sie sich von zwei Schulmedizinern weiterbehandeln lässt, weil dort kein Homöopath praktiziert. Die Ärzte diagnostizieren eine Überreizung der Nerven und verordnen ihr körperliche und geistige Ruhe – und Arzneimittel: "Da habe ich denn viele Medizin geschluckt, und bin immer elender darnach geworden." Annette nimmt diesen "Medizindreck" nur widerwillig ein. Erst nach einem halben Jahr, in dem sie ihr Zimmer nicht verlassen hat, flackern ihre Lebensgeister noch einmal auf. Hin und wieder kann sie einen Brief schreiben, einen Gast empfangen oder sogar einen Gang zum Burghof machen.

Schwach, aber nicht akut krank stirbt sie unerwartet am 24. Mai 1848, nachdem sie mit Appetit zu Mittag gegessen hatte.

W. Caesar

Am Turme


Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm,

Umstrichen vom schreienden Stare,

Und laß gleich einer Mänade den Sturm

Mir wühlen im flatternden Haare […]

O, sitzen möcht’ ich im kämpfenden Schiff,

Das Steuerruder ergreifen,

Und zischend über das brandende Riff

Wie eine Seemöve streifen. […]

Annette von Droste-Hülshoff: "Wie eine Seemöwe".
Anton Mesmer als Magnetiseur – eine (unfreiwillige?) Parodie. Tatsächlich magnetisierte der ältere Mesmer nicht mit Magneten, sondern durch Auf­legen der Hände oder Berühren mit einem Stab.

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