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Pflanzliche Arzneimittel – nur beliebt oder auch wichtig?

BERLIN (cae). Während die Schulmedizin danach strebt, die Evidenzbasis der Arzneimitteltherapie ständig zu verbreitern und in Therapieleitlinien zu manifestieren, wächst die Zahl der Patienten, die sich – häufig entgegen diesen Empfehlungen – mit Naturheilverfahren und "natürlichen", das heißt meistens pflanzlichen und homöopathischen Arzneimitteln behandeln lassen möchten. Zum aktuellen Stellenwert der Phytotherapie sowohl in der Medizin als auch in der Selbstmedikation äußerten sich vier Ärzte am 11. September auf einer Pressekonferenz, die im Rahmen der diesjährigen Tagung der Gesellschaft für Phytotherapie in Berlin stattfand.
Prof. Dr. Volker Schulz
Foto: GPT

Prof. Dr. Volker Schulz, Berlin, Präsident der Gesellschaft für Phytotherapie, sagte einleitend, dass bei einer Pharmakotherapie der jeweilige Wirkstoff nur einen Teil zur Wirksamkeit beiträgt. Auch der "Rahmen" der Arzneimittelanwendung spielt eine Rolle. Oft benötigt der Patient nur einen "Anstoß", damit seine Selbstheilungskräfte – eine Umschreibung für das gesamte Immunsystem – aktiviert werden. In solchen Fällen könne ein stark wirksames Arzneimittel dem Patienten mehr schaden als nützen. Zugleich relativierte Schulz die Erfolgsgeschichte der modernen Arzneimittelsynthese an folgendem Beispiel: Nach seiner Meinung haben seit der Zulassung des ersten modernen Antidepressivums Imipramin im Jahr 1957 die etwa 30 weiteren synthetischen Antidepressiva, die danach zugelassen wurden, kaum einen therapeutischen Fortschritt gebracht, aber die Krankenkassen enorm belastet.

Im Hinblick auf den umstrittenen Nutzen von pflanzlichen Arzneimitteln stellte Schulz die Frage, ob sie "nur beliebt oder wirklich wichtig" sind.

Paradigmenwechsel zugunsten der Phytotherapie

Aus der Sicht des niedergelassenen Arztes beklagte Dr. Martin Adler, Siegen, dass rezeptfreie Arzneimittel seit dem Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) im Jahr 2004 nicht mehr von der GKV erstattet werden. Er ist überzeugt, dass die Ausgaben der GKV dadurch eher gestiegen als gesunken sind, weil wahrscheinlich viele Ärzte ihren Patienten anstelle von Phytopharmaka teurere Synthetika verordnet haben. Allerdings habe aufgrund des GMG die Selbstmedikation an Bedeutung gewonnen. Es sei eine wichtige Aufgabe der naturheilkundlich orientierten Ärzte, ihre Patienten zur Selbstmedikation zu ermuntern und ihnen die für sie geeigneten Präparate zu empfehlen.

Adler betonte, dass viele Phytopharmaka hinsichtlich ihrer Wirksamkeit mit Synthetika vergleichbar sind, aber weniger Nebenwirkungen aufweisen, was durch klinische Studien und Anwendungsbeobachtungen vielfach belegt sei. So seien mit dem Präparat Iberogast® bisher 38 placebokontrollierte Doppelblindstudien durchgeführt worden, mit dem nachzugelassenen Altsynthetikum Metoclopramid jedoch keine einzige.

Abschließend wies Adler darauf hin, dass die Krankenversicherungen in Österreich und der Schweiz weit mehr Phytopharmaka erstatten als die deutsche GKV. Er appellierte deshalb an die verantwortlichen Politiker, hier einen Paradigmenwechsel zu vollziehen.

Phytopharmaka in der Integrativen Medizin

Dass die Phytotherapie auch im Krankenhaus ihren Platz haben sollte, legte Prof. Dr. Gustav Dobos dar. Als Chefarzt der Abteilung Innere Medizin V, Naturheilkunde und Integrative Medizin der Kliniken Essen-Mitte praktiziert er seit zehn Jahren die "Integrative Medizin", d. h. die Kooperation von Schulmedizin und Komplementärmedizin. Insbesondere bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen des Bewegungsapparates und bei mittelschweren Depressionen sei die ausschließliche Therapie mit chemisch definierten Wirkstoffen fragwürdig. Beispielsweise hätten einige nicht-steroidale Antirheumatika so schwere unerwünschte Wirkungen, dass man bei ihnen die "number needed to kill" berechnen könne. Eine Metaanalyse habe gezeigt, dass die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) bei Patienten mit mittelgradiger Depression wirkungslos seien, während hier die Wirksamkeit von Johanniskrautpräparaten gut belegt sei.

Unabhängig von der jeweiligen Indikation sieht Dobos einen generelleren Vorteil von Phytopharmaka darin, dass sie pleiotrop wirken, d. h. dass sie ihre Wirkung über mehrere Angriffspunkte entfalten. So wirke ein pflanzliches Erkältungsmittel sowohl antiviral und antibakteriell als auch sekretolytisch und immunstimulierend. Ein solcher "Abwehr-Cocktail" sei manchem potenten, aber einseitigen Synthetikum überlegen.

Phytopharmaka – ideal für Kinder

Da es bis vor Kurzem sehr schwierig war, eine Erlaubnis zur Durchführung von klinischen Arzneimittelprüfungen an Kindern zu erhalten, ist in der Kinderheilkunde der Off-label-use von Arzneimitteln üblich. Laut Aussage von Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Kamin, Chefarzt der Kinderklinik am Evangelischen Krankenhaus Hamm, sind 80% aller in der Pädiatrie eingesetzten Arzneimittel nicht an Kindern geprüft worden. Je schwerwiegender die Erkrankung ist, desto höher ist der Prozentsatz. Bei Infekten des Respirationstraktes, der häufigsten Erkrankung von Kindern, macht der Off-label-use zwar "nur" ein Drittel der Medikation aus. Dafür werden in diesem Indikationsbereich sehr oft unpassende Präparate verordnet. Obwohl 90% der Infekte durch Viren verursacht sind, verordnen die meisten Ärzte Antibiotika, die nicht antiviral wirken, aber das Kind mit Nebenwirkungen belasten. Weil die Ärzte durch diese Verordnungsweise ein Risiko bei einer eventuellen bakteriellen Infektion ausschließen wollen, bezeichnete Kamin Antibiotika als "Sedativa für den Arzt".

Kamin empfahl bei banalen Infekten sowohl traditionelle pflanzliche Zubereitungen, die seit Jahrhunderten bewährt sind, als auch moderne Phytopharmaka, die ihren Wirksamkeitsbeweis in klinischen Studien erbracht haben, teilweise sogar bei Kindern ab dem ersten Lebensjahr.

Drei Streiter für die Phytotherapie: Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Kamin, Prof. Dr. Gustav Dobos, Dr. Martin Adler (von links).
Foto: DAZ/cae

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